Tag 394: Die Krux mit den Paketen

von Heiko Gärtner
10.02.2015 15:56 Uhr

Unser letztes Paket ließ sich auf dem Weg zu uns so lange Zeit, das wir uns wirklich anstrengen mussten, nicht daran vorbeizulaufen. Es kam in letzter Sekunde. Damit uns das nicht noch einmal passiert, habe ich die Strecke für das neu-erwartete Paket deutlich länger eingeplant, so dass er locker und leicht rechtzeitig ankommen müsste. Dieses mal war ich mir zu 100% sicher, dass ich alles richtig berechnet und bedacht hatte, so dass das Erreichen ein leichtes sein sollte. Doch dem war leider nicht so. Zum einen habe ich bei den Tages-Etappen nicht darauf geachtet, dass unser Wanderführer zum Ende hin einen deutlichen Kurswechsel macht. So waren die Etappen am Anfang im Schnitt zwischen 15 und 20 Kilometer weit. Jetzt plötzlich schlägt er fast nur noch Etappen zwischen 25 und 32 Kilometern vor. Das ändert streckentechnisch natürlich einiges. Das zweite große Problem, das auftauchte ist die große Unberechenbarkeit der Post. Wo das letzte Paket über zwei Wochen für die Ankunft gebraucht hat, brauchte dieses gerade einmal vier Tage. Bereits vorgestern Nachmittag erreichte es die Poststation. Wir stehen nun also vor dem Problem, dass das Paket bereits aus uns wartet, aber noch immer knapp 300km Pilgerweg und 200km Straßenstrecke entfernt ist. Wenn es in Italien genauso läuft wie in Frankreich, dann haben wir abzüglich der beiden bereits vergangenen Tage nur noch 12 Tage Zeit, bis das Paket wieder heimgeschickt wird. Das bedeutet, dass wir ordentlich Strecke machen müssen. Wirklich ordentlich. Und das ausgerechnet in einer Gegend, in der wir eigentlich ganz gemütlich unterwegs sein wollten.

Gerade gestern haben wir uns mit dem Thema „Annehmen von ungünstigen Situationen“ beschäftigt. In unserer Gesellschaft ist es normal, dass wir eine Situation, die wir als negativ empfinden zunächst einmal verneinen. Wenn wir im Stau stehen, dann sagen wir Dinge wie: „Das gibt’s doch nicht! Es kann doch nicht sein, dass genau ich jetzt wieder in dne Stau gerate!“ Wenn uns unsere Partnerin oder unser Partner betrügt, dann sagen wir: „Dass kann er doch nicht machen!“ Und wenn wir uns mit unserem Paket verkalkuliert haben, dann ist der erste Gedanke: „Das kann doch nicht wahr sein!“

Solche Gedankensätze sind vor allem deshalb nicht besonders Hilfreich, weil diese Situationen, die wir da verneinen ja bereits existieren. Wir stehen schon im Stau, unser Partner hat bereits mit jemand anderem geschlafen und wir haben die Strecke des Paketes bereits vollkommen falsch kalkuliert. Gegen diese Tatsachen zu rebellieren bringt also nicht das Geringste. Das einzige was hilft ist, sie anzunehmen. Nur wenn man sie so akzeptiert wie sie sind, kann man auch offen für Lösungen sein. Wir hatten also ein neues Übungsfeld um diese Offenheit zu trainieren. In der Nacht lag ich noch stundenlang wach und konnte nicht einschlafen, weil ich die Situation innerlich noch immer nicht annehmen konnte. Ich ärgerte mich und wollte abwechselnd mir und der Post in den Arsch beißen, dafür dass jetzt wieder so ein Stress entstand, der an sich nicht notwendig war. Um das wieder gut zu machen, ging ich alle möglichen Lösungswege durch. Wir konnten auf die Straße wechseln und dadurch abkürzen, so dass wir den Weg schaffen konnten. Dann würden wir aber einen schönen Teil der Via Francigena verpassen und außerdem waren wir dann so schnell in Rom, dass es wettertechnisch gefährlich wurde, wieder nach Norden in Richtung Kroatien zu wandern. Ich könnte trampen, aber wie würde ich mit dem großen Paket dann wieder zurückkommen? Ich könnte mit dem Zug fahren und das Paket abholen. Diese Option war meine erste Idee. Von Siena aus brauchte der Zug jedoch gute 7 Stunden und kostete pro Strecke rund 30€. Das war zu lange und zu teuer. Die nächste sinnvolle Zugverbindung entlang des Weges war ein Bahnhof in einer Entfernung von rund 135km. Von dort kostete ein Zug nur noch 5€. Doch bis dahin mussten wir dann auch zügig gehen, denn falls irgendetwas nicht klappen sollte war das Risiko zu hoch. Was war, wenn wir jemanden finden konnten, der unser Päckchen abholte oder der uns nach Rom brachte? Im Kopf rechnete und wälzte ich die Strecke hin und her, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund half mir das überhaupt nicht dabei einzuschlafen.

In der Früh entschlossen wir uns zunächst für den Plan mit der Straße. Wenn wir in den ersten Tagen einiges an Strecke hinter uns brachten und ich dann vielleicht den Zug nahm, dann konnten wir wieder entspannter weiterreisen. Also verließen wir Siena nicht auf dem eigentlichen Pilgerweg, sondern auf der Straße, die für Autopilger ausgeschildert war. Das Wetter war für eine Wanderung auf Erdwegen eh nicht besonders geeignet, da es bereits in der Früh zu regnen begann. Den Tag über wechselte das Wetter seine Erscheinung dann öfter als wir unsere Unterhosen in einem ganzen Monat. Wir hatten einfach alles. Regen, Hagel, Schnee, Sonnenschein und sogar orkanartige Windböen, die Bäume auf die Straße warfen. Die Temperaturen schwankten zwischen 0°C und 20°C innerhalb von nur wenigen Minuten. Die ersten Kilometer aus Siena heraus waren im Berufsverkehr auf regennasser Straße die Hölle. Im Vergleich zur richtigen Via Francigena war dies einfach kein Wandern. Nach der ersten Autobahnauffahrt wurde es dann besser und je weiter wir uns von der Stadt entfernten, desto ruhiger wurde es. Der Wind blies uns förmlich voran. Nur die Straßenschilder mit den Kilometerangaben nach Rom waren etwas deprimierend. Sie schwankten ständig zwischen 209 und 220 Kilometern, egal wie weit wir auch kamen. Erst ab Mittag konnten sie sich auf einen kontinuierlich sinkenden Pegel einigen.

Das Tagesetappenziel in unserem Wanderführer hieß eigentlich Ponte d’Arbia. Hier gab es sogar eine kostenlose Pilgerunterkunft. Doch wir waren so gut vorangekommen, dass wir beschlossen, noch bis in die nächste Ortschaft zu laufen. Auch hier sollte es eigentlich die Möglichkeit geben, beim Pfarrer zu übernachten, doch dieser war nirgendwo auffindbar. Gerade als ich die Nummer an seiner Tür ins Handy eingeben wollte, begann es wieder zu regnen und dicke Tropfen fielen auf den Touchscreen. Sie waren so dick, dass ich keine Nummer mehr wählen konnte. War das vielleicht ein Zeichen, dass wir auch hier noch nicht halt machen sollten? So versuchten wir noch bei einigen anderen Stellen im Ort vergeblich eine Unterstützung zu bekommen und machten uns dann wieder auf den Weg. Es dauerte weitere 9km bis wir den nächsten Ort erreichten, der hoch oben auf einer Hügelkuppe lag. Hier trafen wir auch einen Pfarrer an, der jedoch zunächst behauptete, keinen Platz für Pilger zu haben. Erst nach langem Bitten und Betteln und einer genauen Beschreibung der vielen Kilometer, die bereits hinter uns lagen, ließe er sich erweichen, uns einen Platz zu versprechen. Allerdings mussten wir warten, bis er mit der Messe fertig war. Bis zur Messe war es noch eine knappe Stunde, die wir größtenteils ebenfalls in der Kirch verbrachten, weil dies der wärmste Ort war, den wir finden konnten. Die Messe selbst war dann eine kurze Geschichte. Der Pfarrer wirkte fast, als käme heute seine Lieblingssendung im Fernsehen, die er nicht verpassen wollte, so dass er den Gottesdienst im Power-Crash-Kurs-Programm in nicht einmal 20 Minuten hinter sich brachte. Dann führte er uns ins Pfarrhaus und zeigte uns unseren Schlafplatz. Er war ein Raum nur für Pilger, in dem sogar 6 Betten standen. Genau so ein Raum, von dem er zuvor behauptet hatte, es würde ihn hier nicht geben. Wir waren jedoch zu kaputt und zu durchgefroren um uns über seine Abwimmelungstaktik zu ärgern und freuten uns darauf, endlich doch ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben.

Spruch des Tages: Jetzt aber schnell!

 

Höhenmeter: 440 m

Tagesetappe: 42 km

Gesamtstrecke: 7170,27 km

Wetter: Sonne, Regen, Windstille, Sturm, Hagel und sogar Schnee im Wechsel

Etappenziel: Pfarrhaus, 53024 Torrenieri, Italien

 

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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