Tag 762: Der Überfall – Teil 5

von Heiko Gärtner
02.02.2016 22:41 Uhr

Fortsetzung von Tag 761:

Wir waren begeistert, vor allem weil sie dann auch noch schön scharf waren. Zum Essen lud er noch einen Freund ein, der bei der Post arbeitete und zu viert lachten und scherzten wir, bis wir Bauchschmerzen bekamen. All der Stress, den wir an diesem Tag erlebt hatten war wie weggeblasen. Teilweise konnten wir uns nicht einmal mehr daran erinnern, dass es noch immer der gleiche Tag war.

Schließlich führte uns Don Franco noch in die Kirche. Komplett in der Stille und bei Nacht wirkte sie noch weitaus beeindruckender und mystischer, als sie ohnehin schon war. Don Franko zeigte uns alle Besonderheiten und er war selbst so begeistert von den Kunstwerken, die man hier finden konnte, dass wir aus dem Staunen gar nicht mehr herauskamen.

„Was heißt das eigentlich, was ihr da immer sagt?“ fragte er, „Dieses ‚Waow!’ Was bedeutet es?“

Wieder mussten wir lachen.

„Es ist nur ein Ausdruck von Begeisterung oder Erstaunen!“ sagte ich, „Eine richtige Bedeutung hat es nicht!“

Der kleine Pfarrer freute sich und nahm das Wort von nun an in seinen Wortschatz mit auf.

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„Mögt ihr Archäologie?“ fragte er dann und führte uns in einen Seitenraum neben der Sakristei. In einer Ecke befand sich ein Loch im Boden, so dass man auf die darunterliegenden Gewölbe blicken konnte. In der Mitte unter uns lagen mehrere Knochen und Schädel. Vor einiger Zeit waren einige Bauarbeiter bei der Restaurierung der Kirche darüber gestolpert. Von wem die Knochen stammten war ungewiss, doch wir entwickelten unsere eigenen Theorien. „Wahrscheinlich gab es eine Zeit, in der jeder, der in der Kirche nicht richtig mitsingen wollte, einfach dort unten in das Loch geworfen wurde!“ spekulierte Heiko und erntete dafür einen Knuddler von Don Franko. Immer wenn wir etwas sagten, was er besonders lustig, sympathisch oder bemerkenswert fand knuddelte er uns. Er war wie ein kleiner Teddy mit einer Zipfelmütze und einem Schal. Auf seine Weise hatte er den Weg gefunden, den wir am Mittag gesucht hatten. Er war ständig von schwierigen und oft nervigen Menschen umgeben, die ihn sicher nicht selten zur Weißglut brachten und doch hatte er sich seine Wärme, seine Fröhlichkeit und seine Offenherzigkeit erhalten. Er strahlte auf eine Weise, die einen ebenfalls zum Strahlen brachte. Dies war seine Art des Heilens. Er heilte durch seinen Humor, durch sein Lächeln und seine Umarmungen. Er war ein Mensch, der es verstand, einem das Gefühl zu geben, willkommen, geborgen und wertgeschätzt zu sein.

Wir waren nun beim Altar angekommen und er zeigte uns seinen Arbeitsplatz. Hinter dem Tisch aus weißem Stein, der von einer Engelsstatue getragen wurde, befand sich ein kleines Podest. Von hier aus hielt der Pfarrer seine Messe.

„Oh, du hast ein bisschen nachgeholfen, damit die Zuhörer dich auch sehen können, hinter dem Riesentisch!“ neckte Heiko.

„Jaja,“ sagte er und lachte, „ohne dieses Ding wundert sich immer jeder, warum sich die Messe von ganz alleine hält!“

Bevor wir schlafen gingen schaute er noch einmal in unseren Raum und wollte dieses Mal alles über unsere Kleidung wissen.

„Die deutsche Kleidung ist noch richtige Qualitätsware!“ meinte er, „Hier in Italien bekommt man inzwischen nur noch den billigen Kram von den Chinesen-Märkten. Die Sachen halten keinen Tag mehr und sind so voller Gifte, dass man sie kaum noch anziehen kann!“

Auch am Morgen konnten wir nicht gehen, ohne noch ausgiebig mit Don Franco zu frühstücken. Er wünschte uns mehrmals einen segenvollen Weg und betonte einige Male, dass wir ein Geschenk des Himmels waren. Wir sahen das genauso. Vor allem an einem Tag wie gestern hatten wir den Glauben an die Menschheit schon fast wieder vollkommen aufgegeben. Und dann tauchte so ein herzlicher Mann auf, der einen wieder davon überzeugte, dass es doch noch etwas gutes in unserer Spezies gab. Es war das erste Mal seit langem, dass es uns schwer fiel, uns zu verabschieden.

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„Wenn ihr keinen Platz zum übernachten in Taurianova findet, dann kommt einfach wieder her. Wann immer ihr in diese Stadt kommt, könnt ihr euch gewiss sein, dass ich euch herzlich empfangen werde!“

Dann zogen wir los. Das Wetter war grau und trübe, aber die Strecke heute war wieder bedeutend schöner als die letzte. Wir wanderten auf einer ebenen Straße durch Olivenhaine und Orangenwälder in denen es fast keine Menschen gab. Einmal kamen wir sogar an einer gigantischen Kiefer vorbei, die über uns wie eine natürlich gewachsene Halle in den Himmel ragte. Man brauchte diesen Baum nur anzusehen und spürte sofort, dass er eine unglaubliche Kraft besaß. Erst als wir in die Stadt kamen, wurde es wieder unangenehmer. Nach einer so friedlichen Strecke wie heute fiel es uns gleich noch einmal mehr auf, wie grässlich diese Ansammlungen von Verkehr, Menschenmassen und Betonbunkern waren.

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Gerade als wir die Stadtgrenze erreicht hatten rief Don Franco an. Er hatte mit den Mönchen aus dem Cappucciner-Kloster gesprochen und sie hatten einen Platz für uns. Es dauerte noch eine knappe Stunde, bis wir das Kloster in den Wirrungen dieser unübersichtlichen Stadt fanden. Dann aber wurde uns klar, dass wir ohne Don Franco niemals einen Platz innerhalb dieser Mauern bekommen hätten. Es war ein altes Kloster, das kurz vor seinem Verfall stand. Um zu verhindern, dass es sich vollkommen in Wohlgefallen auflöste, hatte die Kirche vier Mönche aus Indien einfliegen lassen, die sich um den Wiederaufbau und um den sturen alten Mann kümmern sollten, der als einziger Mönch noch immer hier lebte. Er hatte sich geweigert in ein anderes Kloster umzuziehen und so hatte man eine Alternativlösung finden müssen. Die meisten Räume des Klosters waren unbewohnbar aber wir bekamen einen kleinen Saal, der normalerweise von den Pfadfindern genutzt wurde. Der indische Bruder führte uns ein wenig in der Ruine herum und wies uns auf die vielen schönen Details hin, die es ihm und seinen Leuten besonders schwer machten, den alten Schuppen vor dem Einstürzen zu bewahren. Fast überall lief beim Regen das Wasser durch die Decke und die Regenrinne vom Dach der Kirche endete auf einem Balkon, der mit Betonmauern umgeben war. Wenn es regnete wurde er zu einem Schwimmbecken und das Wasser hatte sich seinen Weg durch die Wände ins Innere der Gebäude gesucht. Die Mönche hatten eine recht abstrakte Konstruktion gebaut, mit denen sie das Wasser vom Dach in den Vorhof leiten wollten, doch auch sie sah nicht so aus, als würde sie wirklich funktionieren.

Für den Rest des Tages hatten wir weitgehend unsere Ruhe. Erst am Abend wurde es wieder lebhaft, denn der Raum unter uns wurde an eine Gruppe von pensionierten Polizisten vermietet, die sich hier täglich zum Saufen trafen.

Spruch des Tages: Ende gut, alles gut

Höhenmeter: 550 m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 13.572,27 km

Wetter: überwiedend bewölkt

Etappenziel: Oratorio, 84099 Filetta, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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