Tag 764: Tiefpunkt – Teil 1

von Heiko Gärtner
02.02.2016 22:57 Uhr

Manchmal gibt es wohl einfach Phasen, da ist der Wurm drin. Manchmal ist es sogar noch ein bisschen schlimmer und man hat das Gefühl, dass sich die Würmer gegenseitig die Hände reichen und gemeinsam Tango tanzen.

Vor einem Jahr etwa hatten wir kurz vor Weihnachten ebenfalls eine Phase, in der nichts so richtig laufen wollte. Wir wanderten ewig an der Südküste Frankreichs entlang, kamen von einer unerträglichen Großstadt in die nächste, niemand wollte uns aufnehmen, Heiko wurde krank und mein Wagen hatte einen Achsbruch. Es war eine Resümee-Phase in der wir das Gefühl hatten, kurz vor dem Ende unseres ersten Weltreisejahres noch einmal tüchtig auf die Probe gestellt zu werden, um für uns selbst herauszufinden, ob wir es auch wirklich ernst meinten. War dies nur eine Reise? Ein Spaziergang durch Mitteleuropa, nachdem wir wieder heimkehren und unser altes Leben wieder aufnehmen würden? Oder war dies unser Leben? War es das, was wir wirklich wollten? Oder war es vielleicht auch nur ein Schritt zu etwas ganz anderem? Ein Jahr lang hatten wir nun auf diese Weise gelebt und nun war es an der Zeit, noch einmal über alles zu reflektieren.

Dieses Jahr sind wir nun bereits seit über 700 Tagen auf dem Weg und haben viel dazugelernt. Deswegen sind die Prüfungen dieses Mal auch härter, mit denen uns das Leben ein weiteres Mal vor die Frage stellt, ob wir es auch ernst meinen.

Und obwohl wir wissen, dass es Prüfungen sind, dass wir es selbst sind, die diese Ereignisse in unser Leben ziehen und dass alles was passiert, nur unserer Entwicklung dient, so dass wir mehr zu unserem Heilerseinf finden können, brachten uns die letzten Tage fast zur Verzweiflung. Noch immer ist es nicht vorbei. Noch immer stecken wir mitten in einem Chaos, in das wir uns selbst manövriert haben und aus dem wir nun irgendwie wieder herausfinden müssen. Doch jetzt im Moment fühlt es sich so an, als hätten wir den absoluten Höhepunkt gestern abend erreicht. Es war eine Art Finale von vier Tagen voller Pleiten, Pech und Pannen, an dem es uns einfach zu viel wurde. Heiko war sogar für einen Moment lang soweit, dass er die ganze Sache hinschmeißen und mit dem nächsten Flieger zurück nach Hause reisen wollte. Es gab viele schwierige Situationen auf der Reise und oft schon haben wir das ganze Projekt in Frage gestellt, doch so ernst wie gestern Abend war es noch nie.

Doch beginnten wir am Anfang.

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Richtig angefangen hat die Chaosspirale mit dem plötzlichen Überfall der drei Männer, die unser Handy zerstörten. Seitdem überschlugen sich die Ereignisse förmlich, die uns jedes auf seine Art zusetzten. Jedes einzelne für sich genommen wäre wohl nicht weiter dramatisch gewesen, doch die Häufung war es, die uns fertig machte. Es war ein bisschen, als würde man einen leichten Schlag ins Gesicht bekommen. Nicht doll, nicht so dass es wirklich schmerzt. Eine leichte kleine Backpfeife, die man kaum spürt, die einen aber aus dem Konzept bringt. Und dann noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Dann einen Schag in den Nacken. Einen Stupser in die Seite. Wieder und wieder. Doch am meisten macht es dich fertig, dass du den Angreifer nicht sehen kannst und dass du keine Ahnung hast, was als nächstes Kommen wird. Oder ob überhaupt etwas kommt. Und gerade wenn du glaubst, es sei geschafft, dann kommt wieder das nächste. Vielleicht sogar ein bisschen stärker und heftiger. Irgendwie ist dir bewusst, dass das ganze ein Training ist und dass es darum geht, deine Aufmerksamkeit zu schulen. Doch gerade jetzt in diesem Moment kannst du es einfach nicht sehen und bist nur am Verzweifeln, weil du dir das einzige Wünschst, wass du gerade bei diesen ganzen kleinen Schlägen nicht haben kannst: Ruhe und Entspannung.

Zuerst gab mein schwarzer Packsack wieder einmal den Geist auf. Der Reißverschluss ließ sich am Morgen nach unserem Klosterbesuch nicht mehr schließen, egal wie sehr wir ihn auch ölten und einfetteten. Nur mit Hilfe einer Zange brachten wir ihn wieder in Ordnung, doch das war bereits bei seinem Vorgänger der Anfang vom Ende. Zwei drei Mal konnten wir ihn auf diese Weise reparieren, dann war er endgültig kaputtgegangen und wir mussten den sack tauschen. Ging also alles wieder von Vorne los? Ungefähr zu gleichen Zeit fanden wir heraus, dass unsere neue Kamera nicht die Kamera ist, die wir eigentlich haben wollten. Sie ist definitiv nicht schlecht und sie wird uns trotzdem gute Dienste leisten, doch ihr fehlen viele wichtige Funktionen, auf die sich Heikos Fotografenherz schon lange gefreut hatte.

Dann begann die Anstrengung. Wir hatten Griechenland vor allem aus einem Grund verlassen, nämich dem, dass man sich in Italien sicher sein konnte. fast immer einen Schlafplatz zu bekommen. Natürlich gab es mal schlechte Tage, in denen nichts so lief wie es sollte und dann musste man am Ende doch mit einem Zelt vorlieb nehmen. Veilleicht weil man keinen Pfarrer antreffen konnte, weil er krank war oder weil ihm eine Laus über die Leber gelaufen war und er deshalb vergessen hatte, dass es seine Aufgabe war, sich auch um Menschen zu kümmern. Doch bislang waren das Ausnahmen. Es war uns bei unserem ersten Italienaufenthalt ein Mal passiert und in der Zeit die wir nun hier verbrachten ein weiteres Mal. Doch seit wir Kalabrien betreten hatten, war die Situation mit den Pfarrern immer schwerer geworden. Die Male, in denen sie Wanderer mit der Bitte um Gastfreundschaft abwiesen häuften sich und so mussten wir schon einige Male Strecken zurücklegen, die eineinhalb-, doppelt oder sogar dreimal so lang waren wie die, die wir eigentlich geplant hatten. Je weiter wir in den Süden kamen, desto schwieriger schien es zu werden. Männer wie Don Franco oder auch Don Giorgio unterbrachen diese Tendenz zwar, wurden aber immer mehr zur Ausnahme. Ohne das ausdrückliche Drängen von Don Franco hätten uns selbst die indischen Cappucciner-Mönche nicht mehr aufgenommen. Sie waren so skeptisch und führten uns gegen so starke innere Widerstände in ihre Räumlichkeiten, dass sofort klar wurde, dass sie uns nicht aus Freundlichkeit aufnahmen, sondern weil sie dem kleinen, quirligen Pfarrer keine Bitte abschlagen konnten. Doch bereits am nächsten Tag zeigte sich wieder die allgemeine Ablehnung gegen alles Fremde, die hier in den Menschen steckt. Wie wir später herausfanden waren die Bewohner Kalabriens sogar unter den Italienern dafür bekannt, besonders verschlossen, abweisend und ängstlich zu sein. Eine Beobachtung die wir leider durchaus bestätigen können. Nach unserem Klosterbesuch mustten wir das erste Mal fast 30km wandern, bis wir endlich an einen Ort kamen, an dem wir einen Schlafplatz bekommen konnten. Nicht vom Pfarrer und auch nicht vom Bürgermeister, sondern nur weil wir in dem pakinsonkranken Mann, den wir beim Krippenbauen antrafen, einen Führsprecher fanden. Wir bekamen ein leerstehendes, nagelneues und dennoch halb zerstörtes Haus. Obwohl es dort nichts gab, was man hätte kaputt machen können, gab es einen riesigen Aufstand mit Anmeldung bei der Polizei, kopieren der Ausweise und mehrfacher Befragung, dass wir auch ja keine Terroristen seien. All das könnte man gut verstehen, wenn es hier echte Werte geben würde, doch bereits seit Wochen waren wir nun schon in keinem Raum mehr, in dem es irgendetwas wertvolles gab. In den deutschen Gemeindesälen, die mit neuer Vortragstechnik, mit Beamern, Soundanlagen und ähnlichem ausgestattet waren, hätten wir es uns eingehen lassen, wenn man vorsichtig ist, bevor man einen Fremden darin schlafen lässt. Doch hier gab es keine Räume mehr. es gab Löcher. Die Buden waren so verschimmelt, verfallen und durchnässt, dass wir uns immer wieder fragten, wie man es den Schülern und auch sich selbst überhaupt noch zumuten konnte, hier einen Unterricht abzuhalten. Und doch hatten die Verantwortlichen Angst um diese Kammern, als wären es nagelneue Luxussuiten.

Der ersten Mammut-Etappe folgte eine Zweite. Wir legten mehr als 40km und weit über 1000 Höhenmeter zurück um am Ende oben auf dem Berg in einer verlassenen Sandgrube zu zelten. Vier Ortschaften durchquerten wir dabei, in denen es jeweil verschiedenste Möglichkeite gegeben hätte um zu übernachten. Doch kein Pfarrer war bereit und diese kleine Unterstützung zu gewähren. In der größten Ortschaft sprachen wir persönlich mit zwei Geistlichen und am Telefon mit einem dritten. Die ersten beiden entschuldigten sich mit ihrer mangelnden Autorität, da der dritte hier im Ort das Sagen habe. Dieser stellte sich dann am Telefon auf dumm, tat als würde er mich nicht verstehen und beendete das Gespräch mit dem Satz: "Wenn Sie kein richtiges Italienisch sprechen dann lassen Sie das Reden lieber bleiben!" dann legte er auf.

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Im nächsten Ort trafen wir den Pfarrer nicht persönlich an, dafür ber mehrere seiner Stellvertreter und Helfer. Die Ortschaften, durch die wir reisten waren kleine Dörfchen oben auf den Bergen, in denen fast nichts mehr los war. Viele der Einwohner und vor allem auch die Priester waren runter ans Meer gezogen, weil da die Hauptstraße so schön in der Nähe war. Deshalb war es eigentlich unmöglich einen Pfarrer persönlich zu treffen, was sonst auch nie ein Problem war. Es hatte stets ausgereicht, einen seiner direkten Helfer zu finden und schon wurde alles organisiert. Hier jedoch nicht. Die Aussage des Stellvertreters war in etwa folgende: "So, so, ihr braucht also einen Schlafplatz! Ja das kann ich verstehen! Hier wird es nachts schon wirklich kalt. Wir haben da vorne das alte Pfarrhaus. es steht komplett leer und wird nicht mehr verwendet. Nicht einmal mehr für den Kommunionsunterricht, denn dafür haben wir andere Räume. Ich habe zwar den Schlüssel dafür, aber ich kann ihn euch leider nicht geben, denn ich bin nur der Stellvertreter des Pfarrers. Ohne seine ausdrückliche Zustimmung kann ich nichts für euch tun. Leider will er nachmittags nicht gestört werden, deshalb kann ich ihn auch nicht anrufen. Schade! Ich hätte euch wirklich gerne geholfen! Es tut mir echt leid!"

Dann versuchte er noch etwa zehn Minuten sein Gewissen zu beruhigen, indem er uns immer wieder erklärte, warum er uns nicht helfen könne.

"Ihr seit gute Jungs und habt nichts Böses im Schilde!" sagte er, "Da bin ich mir sicher. Aber es gibt leider nicht nur gute Menschen und ab und zu kommen auch einmal böse Leute vorbei. deswegen kann ich niemanden in den Raum lassen!"

Ich weiß nicht, was schlimmer war, die Tatsache, dass er uns mit seinen Ausführungen wertvolle Zeit bis zum Sonnenuntergang stahl, oder dass er seine Worte sogar selbst glaubte. Vielleicht wäre es mir sogar leichter gefallen, zu akzeptieren, dass es einfach unfreundliche Menschen waren, als diese abstrakte Mischung. Er wollte wirklich helfen, genau wie die drei Frauen, die um uns herumstanden. Doch sie waren so shr zu Zombies erzogen worden, dass sie wirklich glaubten, uns nicht helfen zu können. Der Pfarrer hatte die absolute Autorität. Ohne sein Zustimmen geschah hier nichts. Und wenn es darum ging, ein Kind aus einem brennenden Haus zu retten, das dem Pfarrer gehörte. Wenn nicht abgeklärt war, ob der Pfarrer damit einverstanden war, dann musste es solange eben warten. Wenn es dabei verbrannte, dann war das tragisch, doch man konnte es leider icht ändern. Über dem Dorf bfand sich ein Steilhang, der mehr als 600 Meter in die Höhe führte. Die einzige Möglichkeit, die wir also hatten bestand darin, diesen Berg zu erklimmen und dann auf dem Hochplateu zu zelten. Das ganze lag dann auf etwas mehr als 1000m über dem Meeresspiegel und es war bereits hier so kalt, dass man absehen konnte, dass es die Nacht frieren würde. Dort oben zu Zelten war also nicht ganz ungefährlich und alle Anwesenden wussten es. Jeder von ihnen hatte ein schlechtes Gewissen deswegen doch keine fühlte sich in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Ich bin sicher, dass sie sich noch heute fragen, ob wir die Nacht wohl überlebt haben oder nicht. Wahrscheinlich haben sie in dieser Nacht weitaus schlechter geschlafen als wir und doch erlaube es ihnen ihre Hörigkeit nicht, ihrem Herzen zu folgen und sich selbst ein gutes Gefühl zu geben.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Ohne Pfarrer geht hier gar nichts!

Höhenmeter: 190 m

Tagesetappe: 8 km

Gesamtstrecke: 13.608,27 km

Wetter: überwiedend bewölkt

Etappenziel: Franziskaner Kloster, 84082 Bracigliano, Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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