Yoga und Schuhe

von Franz Bujor
12.03.2014 01:38 Uhr

Tage bis zu Heikos erstem Geburtstag auf der Weltreise: 1!

Eigentlich hätte es heute eine ordentliche Bescherung geben sollen. Am Mittag wollten wir in La Forét du Temple sein, wo die Pakete von Heikos Eltern und Keen auf uns warten sollten. Der erste Teil des Plans ging auch sehr gut auf. Von Crozon waren es nur noch 10 Kilometer, mit einigen steilen Hügelketten dazwischen. Es war nicht unanstrengend, aber vollkommen Ok. Unterwegs hatte Heiko einen genialen Einfall, der unsere Reise zur Sommerzeit deutlich luxuriöser machen wird: „Tobi, was hältst du davon, wenn wir uns einen Flaschenhalter vorne an den Wagen bauen? Dann können wir uns Trinkflaschen mit Wasser oder kalten Getränken daran befestigen. So können wir jederzeit nach hinten greifen und trinken, ohne anhalten zu müssen.“

Ich fand die Idee großartig. Vor allem deswegen, weil sie die Idee ablöste, Wasser im Rucksack zu transportieren, der auf meinen Schultern lastet.

 
Blick auf Crozon-sur-Vauvre.

Blick auf Crozon-sur-Vauvre.

 

Auf halber Strecke entdeckten wir einige Eidechsen, die sich auf einer Mauer sonnten und entspannt genug dalagen, um sie fotografieren zu können. Kurz nach zwölf Uhr erreichten wir dann unseren Zielort und wenig später fanden wir auch die gesuchte Adresse. Es war ein sehr schönes und stilvolles Haus, das aus Lehm und Strohballen gebaut worden war. Es war nahezu rund und wirkte freundlich und einladend. Agnés und ihre Mutter begrüßten uns und baten uns herein. Die alten Schuhe ließen wir aus Rücksicht auf alle anwesenden Nasen vor der Tür. Wir ließen sie dort zurück in der Gewissheit, dass wir sie heute zum letzten Mal ausgezogen hatten. Doch wieder einmal kam alles anders.

Das Paket mit den Ersatzteilen und dem Sicherheitszubehör für unsere Pilgerwagen war noch nicht angekommen. Mit etwas Glück kommt es morgen um 10:00 mit dem nächsten Postwagen. Wenn nicht, dann müssen wir uns wirklich etwas einfallen lassen, aber darüber denken wir lieber erst nach, wenn es so weit ist.

Das zweite Paket stand in einer Ecke neben einem kleinen Schränkchen. Es enthielt zwei Schuhkartons und wir konnten es kaum erwarten, sie zu öffnen.

 
Gepäck abladen an unserem heutigen Pilgerziel.

Gepäck abladen an unserem heutigen Pilgerziel.

 

Dann aber kam die Enttäuschung. Es waren wirklich gute Schuhe. Doch es waren Winterschuhe. Die Kartons enthielten hochgeschlossene Wanderhalfter, die ideal für Bergbesteigungen oder Wanderungen an kalten Tagen waren. Doch für eine Wanderung nach Spanien zur Sommerzeit waren sie nicht nutzbar. Unsere jetzigen Schuhe waren viel dünner und außerdem voller Löcher und doch schwitzten unsere Füße bereits so sehr, dass wir Angst hatten, sie würden einfach zerlaufen. Dabei hatten wir gerade einmal März. Die Nächte waren noch immer so kalt, dass der Boden am Morgen gefroren war, doch die Tage waren bereits wärmer als die meisten Sommertage in Norddeutschland. Und mit jedem Tag wurde es wärmer. Wie heiß es im Sommer sein wird, kann ich mir gerade noch nicht vorstellen, aber dass es unmöglich ist, in der Hitze mit dicken Wanderstiefeln herumzulaufen, daran gibt es keinen Zweifel. Was also fangen wir jetzt mit unserer neuen Fußbekleidung an? Wir können nicht noch ein Paar Schuhe mitnehmen, für den Fall, dass die Bedingungen vielleicht einmal passend sind. Anziehen und die alten wegschmeißen ist leider auch keine Option, denn dann werden wir schneller Blasen an den Füßen bekommen als wir „Aua!“ sagen können. Wenn die Füße schwitzen, werden sie feucht und weichen auf, sodass sich nach kurzer Zeit unweigerlich Blasen bilden. Bei Heikos letzter Wanderung nach Santiago hatten sich so viele Blasen übereinander gebildet, dass seine Füße am Ende offen und fleischig waren. Das Blut quoll daraus hervor, sobald er seine Schuhe auszog und an vielen Tagen konnte er kaum mehr laufen. Dies waren keine Aussichten, auf die wir großartig Lust hatten. Aber in den alten Schuhen kommen wir auch nicht mehr weit. Vor allem ich nicht, denn meine sind so voller Löcher, dass sie mit fast von den Füßen fallen. Vielleicht können wir uns neue schicken lassen, doch in der nächsten Zeit haben wir keine Adresse mehr, die wir angeben können. Schuhe in einem Supermarkt zu kaufen funktioniert auch nicht wirklich, denn das Geld, was wir geschenkt bekommen haben, reicht maximal für die günstigsten Exemplare und es ist wahrscheinlich keine gute Idee, bei einer Weltreise zu Fuß am Schuhwerk zu sparen. Vielleicht finden wir ja einen Schuhladen, der uns ein Paar schenkt. Doch bislang haben wir in ganz Frankreich gerade einmal drei oder vier Läden entdeckt, in denen man Schuhe hätte kaufen können. Wie man es auch dreht, es hört sich alles noch nicht nach einer guten Lösung an. Irgendetwas wird sich da sicher finden, aber im Moment beunruhigt mich die ganze Sache deutlich mehr, als ich mir zunächst eingestehen wollte. Auch Heiko war mächtig enttäuscht. Seine Schuhe halten zwar noch etwas länger, aber auch sie zeigen deutliche Abnutzungsspuren.

 
Gruppenfoto mit unserer Gastgeberin.

Gruppenfoto mit unserer Gastgeberin.

 

Das Mittagessen brachte uns erst einmal wieder auf andere Gedanken. Es gab einen Salat aus dem eigenen Garten und ein Hähnchen, dass sein Leben glücklich in einem großen Freigehege hinter dem Haus verbracht hatte. Ok, wir konnten es nicht mehr fragen, ob es wirklich glücklich gewesen war, aber man konnte schmecken, dass es nicht das gleiche Fleisch war, wie das einer Henne aus einem Hühner-KZ. Der Empfang, den uns die beiden Frauen bereiteten, war insgesamt viel zu herzlich, um wegen ein paar Schuhen und einem fehlenden Paket schlecht gelaunt zu sein. Dennoch kamen die Gedanken, an die möglichen Probleme immer wieder zurück und mit ihr kamen jedes Mal auch wieder neue Stimmungstiefs.

Am Nachmittag gab es im Rathaus eine Yogastunde, zu der auch wir eingeladen wurden. Wie ließen uns nicht lange bitten und nahmen daran teil. Auf dem Weg zum Rathaus testete ich einmal, ob es eine Option sein könnte, barfuß weiterzugehen. Aber da meine Füße bereits nach 200m auf steinigem Asphalt zu schmerzen begannen und ich mich nur noch hüpfend fortbewegte, strich ich diese Idee wieder aus meinem Kopf.

Die Yogastunde war großartig. Der Mann war sowohl der witzigste, als auch der ehrlichste und beste Yogalehrer den ich je gesehen habe. Er leitete die Übungen an, ohne eine übertrieben heilige Zeremonie daraus zu machen und er scheute sich nicht, einem direkt zu sagen, wenn man etwas falsch machte. Immer wieder machte er Witze über sich selbst und seine Teilnehmer. Außer uns und Agnés waren es vor allem ältere Damen, die an dem Kurs teilnahmen. Einige von ihnen konnten kaum mehr richtig laufen und auch unser Yogalehrer sah auf den ersten Blick eher wie ein gemütlicher Teddybär aus. Doch als es an die Übungen ging, mussten wir uns eingestehen, dass jeder und jede der Anwesenden deutlich flexibler war als wir. Vor allem, wenn es um eine Dehnung in den Beinen oder im Rücken ging, spürten wir deutlich, dass wir seit Beginn unserer Reise nur drei Mal etwas für unsere Beweglichkeit getan hatten.

 
Farbenfrohe Blüte.

Farbenfrohe Blüte.

 

Am Ende der Stunde durften wir uns dann auf den Rücken legen und meditieren. Eine großartige Idee, denn man brauchte keinen einzigen Muskel dafür. Doch mit der Konzentration war es ebenfalls nicht weit her. Anstatt mich wie geheißen auf mein drittes Auge zu konzentrieren, schweiften meine Gedanken ständig in Richtung Schuhproblem ab. „Komm schon, Gehirn!“ dachte ich mir, „es kann doch nicht so schwer sein, sich 10 Minuten lang auf deine Stirn zu konzentrieren und auf deinen Atem zu lauschen!“ Doch mein Gehirn sah das anders. Wenn ich dreißig Sekunden schaffte, dann war das viel. Zwischenzeitig schlief ich sogar ein und träumte, dass ich mich auf einer Wanderung befand. (Keine Ahnung, warum ich das träumte, mir fällt da keinerlei Verbindung zu meinem Leben ein!) Auf einmal stolperte ich im Traum und musste aufpassen, dass ich nicht das Gleichgewicht verlor. Mit einem lauten Schlag schlug ich mein linkes Bein auf den Holzboden der Yogahalle. Ich erschrak so sehr, dass ich aufwachte.

Heiko ging es nicht viel besser. Ihm fiel es zwar leichter, seine Gedankenstimmen abzuschalten, dafür begann aber sein Knie zu schmerzen und die Ohrgeräusche wurden lauter, so dass auch er sich nicht wirklich konzentrieren konnte. Es dauerte nicht lange und er fand sich ebenfalls im Traumland wieder.

Als wir aus der Meditation erwachten, war es bereits dunkel. Mühsam erhoben wir uns vom Boden und fühlten uns wie gerädert. Agnés gestand uns, mit einem Augenzwinkern, dass sie bei der Übersetzung, der Yogaaufgaben vergessen hatte und zu sagen, dass wir sie nur soweit machen sollen, wie es sich gut für uns anfühlt. Vieles von den Anweisungen des Lehrers hatten wir auch auf Französisch verstanden, den Teil jedoch nicht. Kein Wunder, dass sich unsere Muskeln anfühlten, als hätten wir sie durch einen Fleischwolf gedreht.

„Ich glaube ich lege mich hier einfach hin und sterbe!“, sagte Heiko auf dem Heimweg.

„Kein schlechter Plan, aber dazu müsstest du natürlich in der Lage sein, dich hinzulegen!“ gab ich zurück. „Ich fürchte, du wirst einfach im Stehen sterben müssen!“

„Verdammt, da hast du recht!“, antwortete er. „Man wird dann wohl einen extra Sarg für mich bauen müssen, denn so unflexibel wie ich bin, kann man mich später kaum so hinbiegen, dass ich in einen normalen passe.“

Wir lachten alle drei und freuten uns auf ein gemütliches Abendessen im warmen Wohnzimmer des runden Lehmhauses. Vielleicht bringen die Träume in der kommenden Nacht ja nicht nur Stolperattacken, sondern auch einen Geistesblitz in Sachen Schuhe.

 
In Sachen Schuhen brauchen wir auf jeden Fall eine Lösung!

In Sachen Schuhen brauchen wir auf jeden Fall eine Lösung!

 

Spruch des Tages: Das Leben lässt sich nicht planen.

Tagesetappe: 10 km Gesamtstrecke: 1444,97 km
Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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