2000 Kilometer

von Franz Bujor
10.04.2014 19:35 Uhr

Noch 2 Tage bis zum 100tägigen Jubiläum unserer Weltreise!

Heute gegen Mittag haben wir die 2000km-Marke erreicht! Seit Vézeley sind wir nun also schon wieder genauso weit gegangen, wie von zu hause bis dorthin!

Kuhherde auf einer Alm.

Manchmal fühlen wir uns in der Gesellschaft von Tieren wohler, als in der von Menschen.

 

Wir sind jetzt seit etwas mehr als drei Monaten als Pilger unterwegs und haben nun zum ersten Mal festgestellt, dass Pilgern einfach nicht so unser Ding ist. Das klingt vielleicht etwas komisch, aber ich kann es erklären. Bisher sind wir einfach auf einem Weg gewandert, der gemeinhin als Jakobsweg bekannt ist. Wenn uns jemand danach gefragt hat, haben wir uns durchaus auch immer wieder Jakobspilger genannt, doch heute haben wir zum ersten Mal das kennengelernt, was allgemeinhin unter der heutigen Pilgerei verstanden wird. Bzw. Ich habe es zum ersten Mal kennengelernt. Heiko ist ja bereits einmal nach Santiago gewandert und hat dabei bereits viele Pilger kennengelernt. Doch nun zu unserer Erfahrung.

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Heiko als Steinzeitpilger auf seiner Reise von 2010.

 

Dass es gestern ausgesprochen unruhig, laut und ungemütlich wurde, als die versammelte Mannschaft in der Herberge eingetroffen war, habe ich ja bereits erzählt. Doch der Abend ging noch weiter. Als die Herbergsverwalter gegangen waren, machten sich unsere beiden Pilgergenossen ans Kochen. Die beiden waren zwar unabhängig voneinander gestartet, reisten aber nun schon seit gut einer Woche gemeinsam. Daher hätte ich vermutet, dass sie auch gemeinsam kochen und essen. Tatsächlich aber machte jeder seine eigene Speise für sich und aß auch für sich allein. Nicht ganz allein, die anderen waren ja mit im Raum und es gab auch nur einen Tisch aber es kam keinerlei Gemeinsamkeitsgefühl auf. Überhaupt merkten wir schnell, dass wir auf dem ganzen Weg bis hierher noch niemanden getroffen hatten, mit dem wir so wenig zu bereden hatten, wie mit den beiden Pilgern. Obwohl einer von ihnen Deutsch sprach und für den anderen hätte übersetzen können, führte unsere Konversation nicht über das übliche Small-Talk-Bla-Bla hinaus. Wie heißt ihr? Wo kommt ihr her? Wie lange seit ihr unterwegs? Das war alles. Auch untereinander gab es bei den beiden keine wirkliche Kommunikation. Der einzige Moment, an dem sie sich kurz etwas zu öffnen schienen, war als sie gemeinsam je ein Bier öffneten und auf ihre Pilgerreisen anstießen. Dann blätterte der eine gelangweilt das Gästebuch durch und der andere konzentrierte sich wieder auf sein Essen.

Pavillon in Mont-de-Marsan.

Hier im Pavillon zu übernachten, wäre vielleicht ruhiger gewesen.

 

Um Punkt acht Uhr verabschiedete sich der holländische Pilger und wünschte uns eine gute Nacht. Wir schauten ihn etwas dämlich an und verstanden nicht so recht was er meinte. „Ich gehe ins Bett!“ wiederholte er. „Morgen müssen wir die Herberge schließlich um 8:00Uhr verlassen haben.“

Wir konnten einen erschreckten Aufschrei nicht unterdrücken: „8:00Uhr aufbrechen? Warum das denn?“

„Um 8:00Uhr kommt der Herbergsleiter und schaut, dass hier alles wieder Klarschiff ist, damit die nächsten Pilger kommen können!“

Mont de Marsan bei Nacht.

Mont de Marsan bei Nacht.

 

Diesen Teil der Ankündigungen hatte man vergessen, ins Deutsche, Englische oder Spanische zu übersetzen. Hätte uns der Mann nicht aufgeklärt, hätten wir locker bis halb neun durchgeschlafen.

Eine halbe Stunde später ging auch der zweite Pilger zu Bett. Es war nun 20:30Uhr. Um 21:00Uhr merkte ich, dass ich eigentlich noch hätte duschen wollen, doch bei den papierdünnen Wänden war das nun unmöglich. Hätte ich gewusst, wie der kommende Morgen ablaufen würde, hätte ich mein piethetisches Gefühl beiseite geschoben und mich einen Dreck um das Schlafbedürfnis der anderen gekehrt, doch soweit war ich noch nicht.

In der Nacht war Mont-de-Marsan deutlich sehenswerter als am Tag.

In der Nacht war Mont-de-Marsan deutlich sehenswerter als am Tag.

 

Zum ersten Mal auf unserer Reise fühlten wir uns wirklich unwohl in unserer Herberge. Ok, bei der Schreckschraube war es auch nicht wirklich gemütlich gewesen und es gab auch noch zwei drei andere Orte, an denen wir nicht wirklich gerne übernachtet haben. Aber diesmal war es anders. Wir kamen uns vor, als wären wir Fremde im eigenen Haus. Als wären wir ungebetene Gäste mit denen etwas nicht stimmte. Das Gefühl von Freiheit und von Unbeschwertheit war weg. Sollten wir jetzt auch einfach schlafen gehen?

Dazu war es eindeutig zu früh! Wir packten stattdessen unsere Kamera und einen Laptop ein und machten noch einen nächtlichen Spaziergang durch die Stadt. Bis um 22:30Uhr flogen noch immer die Düsenjets über uns hinweg. Noch ein Grund, warum ich vielleicht auch doch einfach hätte duschen können. Lauter als die wäre ich auch nicht gewesen. Als wir alles sehenswerte gesehen hatten und es noch immer zu früh zum Schlafen war, setzten wir uns in ein Parkhaus und schauten auf dem Laptop einen alten James Bond Film an. Warum in einem Parkhaus? Hier war es windstill, warm und ruhiger als an jedem anderen Ort in der Stadt.

Nächtlicher Spaziergang durch das Zentrum von Mont-de-Marsan.

Nächtlicher Spaziergang durch das Zentrum von Mont-de-Marsan.

 

Um kurz vor 24:00Uhr lagen wir dann im Bett und hatten unseren Wecker auf 7:30 gestellt.

Im Laufe meiner Karriere als Erlebnispädagoge habe ich viel Zeit in Jugendherbergen verbracht. Sehr viel sogar. Dabei kam es immer wieder vor, das einige Zimmergenossen früher aufstanden als andere. Egal ob man sich nun mochte oder nicht, es hatte immer einen Ehrenkodex gegeben, der besagte, dass man sich so lange ruhig verhält, bis auch der letzte aufgestanden oder zumindest wach war. Das schloss auch die Benutzung von unverhältnismäßig starken Lichtquellen ein. Diesen Ehrenkodex scheint es unter Pilgern jedoch nicht zu geben. Zumindest nicht unter denen, die wir hier angetroffen hatten. Um kurz nach sechs schellte der erste Wecker. Sein Besitzer hatte die Lautstärke vorsichtshalber so eingestellt, dass sie nicht nur ihn sondern auch alle anderen weckte. Das alleine war noch absolut Ok. Es gab einem sogar ein positives Gefühl, aufzuwachen und zu merken, dass der Wecker einen nicht gemeint hat, so dass man sich einfach umdrehen und weiterschlafen kann. Doch dem Weckerklingeln folgten lautstarke Packgeräusche und wenig später wurde ein grelles Licht eingeschaltet, das direkt in meine Augen leuchtete. Mit der Schlummerstimmung war es damit vorbei. Unser Mitbewohner verließ daraufhin den Schlafsaal in Richtung Küche und ließ die Zwischentür laut ins Schloss fallen. Das Licht ließ er brennen. Ich zog mir den Schlafsack über den Kopf und versuchte weiterzuschlafen. Doch kaum war ich wieder einigermaßen weggenickt, da kam auch schon der zweite Pilger und ließ die Zwischentür erneut so laut krachen, dass ich fast aus dem Bett gefallen wäre. Heiko hatte sich seine Ohropacks bis zum Anschlag in die Gehörgänge gestopft und damit den morgendlichen Lärm weitgehend ausgeblendet. Gegen das grelle Licht war jedoch auch er machtlos. Später erzählte er mir, dass die Ohropacks in der Nacht fast zu einem pikanten Unfall geführt hatten. Es war zum Pinkeln aufgestanden und schlaftrunken zum Klo gewankt. Als er die Tür öffnete bemerkte er gerade noch in letzter Sekunde, dass einer der beiden Pilger bereits auf der Schüssel saß. Er hatte kein Licht eingeschaltet und auch die Tür nicht abgeschlossen. Da Heiko ihn auch nicht hatte hören können, hatte er ihn fast nicht bemerkt.

Nächtliches Ambiente in Mont-de-Marsan.

Nächtliches Ambiente in Mont-de-Marsan.

 

Der Blende-Pilger kam, wühlte in seinen Sachen, ging und ließ das Licht weiterhin brennen. Fast wäre ich ihm an die Gurgel gesprungen, aber ich war noch immer so schläfrig, dass mein Reaktionsvermögen nicht einmal ausreichte um ihm ein „Mach das Licht aus!“ entgegenzubrummen.

Schließlich gaben wir es auf. Ich schälte mich aus dem Schlafsack und torkelte Richtung Klo.

„Vorsicht!“ rief Heiko mir nach. „Da gibt’s kein Klopapier mehr!“

‚Na super!’ dachte ich mir, ‚Auch dass noch!’

Müde und gnatschig schleppte ich mich in die Küche und machte mich auf die Suche nach einer Rolle Toilettenpapier oder sonst einer Alternative, mit dem man sich den Hintern abputzen konnte.

Die Kirche von Saint-Server

Die Kirche von Saint-Sever.

 

„Oh, guten Morgen! Hast du gut geschlafen? Möchtest du einen Kaffee?“ hallte es mir mit unverschämt guter Laune entgegen. Ich brummte etwas von „Ja, aber zu kurz!“ und „Vielleicht später!“ vor mich hin, schirmte meine Augen gegen das noch hellere Licht ab und durchsuchte die Schränke nach irgendetwas Hilfreichem. Die Suche blieb ohne Erfolg und auch die Abstellkammer war nicht ergiebiger. Also gab ich es auf und verzichtete auf eine Morgentoilette. Stattdessen half ich Heiko beim Packen unserer Schlafsäcke und unserer Wagen. Dann verabschiedeten wir uns und machten uns auf, um im Park zu Frühstücken. Die beiden Pilger schienen etwas endtäuscht zu sein, dass wir nicht mit ihnen gemeinsam wanderten, aber nach unserem bisherigen Kontakt zogen wir es vor, weiterhin alleine zu reisen.

Nicht dass das falsch rüber kommt. Die beiden waren keine unsympathischen Menschen. Sie waren durchaus sehr nett und bemüht, aber das alleine machte eben noch keinen geeigneten Wandergefährten aus.

Kreizgang der Klosterkirche in Saint-Server

Kreizgang der Klosterkirche in Saint-Sever.

 

„Was ich mich frage ist,“ sagte Heiko nachdem wir unser Frühstück aufgrund der arschkälte zu so früher Stunde vorzeitig beendet hatten, „was da noch an Leben übrig bleibt, wenn man auf diese Weise unterwegs ist. Ich meine, die beiden waren ja absolut gelangweilt. Ich gehe doch nicht täglich dreißig Kilometer um mich dann anschließend gleich ins Bett zu hauen, weil ich sonst nichts mit mir anzufangen weiß. Hattest du eigentlich das Gefühl, dass die beiden gerne miteinander reisten?“

„Nicht wirklich!“ gab ich zurück. „Es hat eher so gewirkt, als würden sie es unhöflich finden, alleine zu gehen, wenn noch ein weiterer Pilger die gleiche Strecke hatte. Der Holländer hat ja auch ein paar Mal erwähnt, wie anstrengend er es findet, ständig französisch reden zu müssen.“

Blick in das alte Kloster von Saint-Server

Blick in das alte Kloster von Saint-Sever.

 

„Das Gefühl hatte ich auch!“ sagte Heiko, „es kam mir eher so vor, als würden sie sich gegenseitig ziemlich arg auf die Nerven gehen und als wäre der Holländer froh, wenn die zwei Wochen Urlaub des anderen vorbei sind. Was mich aber noch mehr stutzig macht an unserer Begegnung ist, dass ich schon wieder nicht sehe, wie das zur Heilung oder zur inneren Einkehr führen soll. Stell dir vor, du bist jetzt immer mit mindestens drei oder vier Pilgern in so einer Herberge, so dass du keinen Moment mehr für dich hast. Es ist laut, aber es kommen keine tieferführenden Gespräche auf. Keiner kann mehr in seinem eigenen Rhythmus leben, sondern muss sich an das anpassen, was von den Herbergsleitern vorgegeben wird. Und geh dabei mal nicht davon aus, dass du das als Forschungsreise machst, sondern dass es dein Urlaub ist. Und dann verbringst du jeden Tag in einer Massenunterkunft, für die du aber trotzdem 20€ zahlst. Da kommt man mit einem All-Inclusive-Urlaub in der Türkei billiger bei weg und hat wahrscheinlich mehr für seine geistige Findungsphase getan. Mir leuchtet das noch nicht ein! Ich denke, es ist ganz gut, wenn wir jetzt erst Mal wieder vom Weg abgehen und als normale Weltreisende unterwegs sind.“

Unsere Vermutungen, was die Lust der beiden Pilger anbelangte, gemeinsam unterwegs zu sein, wurden im Laufe des Tages mehrfach bestätigt. Wir trafen immer mal wieder auf den einen oder auf den anderen, nie aber auf beide gleichzeitig. Auch heute ergaben sich keine wirklichen Gespräche. Es war jedes Mal ein kurzes Hallo, dann ein schneller Austausch von Belanglosigkeiten und dann trennten sich unsere Wege wieder. Ich kann nicht sagen woran es lag, denn sonst waren wir ja immer gerne mit den unterschiedlichsten Menschen zusammen. Aber diesmal versuchten wir immer wieder so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu bekommen. „Ich glaube, es liegt daran,“ vermutete Heiko schließlich, „dass jeder mit einer bestimmten Aufgabe reist. Damals bei meinem ersten Weg nach Santiago war es ähnlich. Die Menschen sind alle mit einer wirklich guten Absicht gestartet, aber dann kamen andere Pilger hinzu und sofort hat jeder die Chance gesehen, sich abzulenken. Sofort kamen dann wieder Alkohol, Smalltalks, Partys und ähnliches ins Spiel. Sonst wenn wir Menschen treffen, ist es immer so, dass sie etwas von uns oder über sich selbst erfahren wollen. Aber hier geht es eher darum, nicht alleine zu sein, weil die Angst zu groß ist, etwas über sich zu erfahren. Deswegen kommt auch kein Gespräch auf.“

Auf dem Weg Saint-Sever kam immer wieder auch die Frage auf, wie wir es heute mit dem Schlafplatz handhaben wollten. Wenn wir wieder in einer Pilgerherberge übernachten würden, würde unsere Nacht wahrscheinlich genauso verlaufen, wie die letzte und das war eigentlich nicht das, was wir uns wünschten. Die Frage klärte sich schließlich jedoch von ganz alleine. Die Herberge in Saint-Sever lief nicht auf Spendenbasis sondern hatte einen Festpreis, bei dem es auch für uns keine Ausnahmen gab. Also mussten wir eine andere Lösung finden und die bestand diesmal aus einem Seminarraum im Pfarrhaus. Einem Platz also, an dem wir ganz für uns sind.

Spruch des Tages: Derjenige, welcher die Zeit kreiert hat, hat davon genügend kreiert. (Spruch eines Pilgers in einem Gästebuch)

Tagesetappe: 27 km

Gesamtstrecke: 2011,97 km

 
Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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