Mont-de-Marsan

von Franz Bujor
10.04.2014 19:23 Uhr

Noch 3 Tage bis zum 100-tägigen Jubiläum unserer Weltreise!

Die Pilgersaison beginnt! Heute teilen wir uns unsere Herberge zum ersten Mal mit zwei anderen Pilgern. Jetzt, wo ich diesem Bericht schreibe, herrscht gerade ein bemerkenswerter Trubel um uns herum. Außer einem Pilger aus Holland und einem aus Frankreich, sind noch zwei Herbergseltern hier, die Stempel für die Pilgerpässe verteilen, Wegbeschreibungen erteilen und Tipps für Cafés, Restaurants und Sehenswürdigkeiten in der Stadt geben. Fast alles findet auf schnellem Französisch statt, sodass wir fast nichts verstehen. Fragen, die uns direkt betreffen, klären wir auf Spanisch, aber das führt dazu, dass immer mindestens zwei oder drei Gespräche gleichzeitig geführt werden. Dass Gardinen und Vorhänge, die Schall aufnehmen, eine gute Erfindung war, ist jetzt keine Frage mehr. Diesem Raum hätten sie definitiv nicht geschadet, denn ohne sie herrscht hier die gleiche besinnliche Atmosphäre, die man sonst vor allem aus Großbahnhöfen kennt. Es ist eigentlich nicht das ideale Umfeld, um einen Tagesbericht zu schreiben, aber manchmal kann man es sich eben nicht aussuchen. Also nicht enttäuscht sein, falls der Bericht heute nicht die gewohnte und philosophische Tiefe und poetische Brillanz aufweist.

Die Kirche von Bougue.

Die Kirche von Bougue.

 

Andererseits passt das Marktplatztreiben um mich herum auch ganz gut zu unseren Erlebnissen des Tages. Gestern hatte uns die Zornnatter noch geraten, uns von lauten und anstrengenden Orten fernzuhalten und heute waren wir gleich als Erstes in die größte Stadt der Region gewandert. Mont-de-Marsan ist mit seinen 30.000 Einwohnern natürlich keine Großstadt, aber sie hat sich einige Mühe gegeben so zu wirken.

Der Weg von Bougue bis nach hier war äußerst angenehm. Er bestand aus einem gut ausgebauten Fahrradweg, der auf der alten Zugstrecke gebaut wurde. Er war ruhig, enthielt keine Steigungen und führte mitten durch den Wald. Der ideale Pilgerwagen-Pilgerweg also. Ganz im Stil der französischen Königsgärten verlief auch dieser Weg wieder wie mit einem Lineal gezogen schnurgeradeaus. Zum ersten Mal seit Tagen kamen uns heute aber Menschen auf diesem Weg entgegen. Das war so etwas Besonderes, dass wir zunächst fast erschraken und ganz verunsichert waren, wie wir damit umgehen sollten. Vor allem, da sich diese Menschen zum großen Teil in einer für uns unvorstellbar hohen Geschwindigkeit fortbewegten. Einige von ihnen verwendeten dafür neumodische Konstruktionen, bei denen man mittels Beinkraft zwei Räder in Bewegung setzten konnte. Damit rasten sie geradezu an uns vorbei und wenn wir nicht auswichen, dann wären sie sogar über uns hinweggerast. Andere Menschen verzichteten auf diese Vehikel und nutzten stattdessen ausschließlich ihre Beinkraft. Sie trugen in der Regel sonderbare, neonfarbene Gewänder, die so eng an ihrem Körper anlangen, dass sich jedes noch so kleine Detail durch die Kleidung abzeichnete. Das war vor allem deswegen bemerkenswert, weil durch das Joggen viele dieser kleineren und größeren Körperteile ganz erheblich ins Schwingen gerieten und dadurch unweigerlich den Blick auf sich lenkten.

Eine Rast in Mont-de-Marsan.

Eine Rast in Mont-de-Marsan.

 

Da wir sonst nicht wussten, was wir mit den Menschen anfangen sollten, begannen wir sie zu grüßen. Doch sowohl die Radfahrer, als auch die Jogger versuchten in aller Regel, ihre Mundwinkel so weit wie möglich nach unten zu pressen. Es wirkte fast, als wäre dies eine Rennstrecke für die Weltmeisterschaft im griesgrämig Dreinschauen.

„Schau mal!“, sagte ich und deutete unauffällig auf eine entgegenkommende Radfahrerin, die eine große Tröte an ihrem Lenkrad angebracht hatte. „Sie hat so eine schöne Hupe und trotzdem schaut sie, wie drei Tage Regenwetter!“

„Stimmt“, sagte Heiko, „eine Hupe allein macht also wohl auch nicht glücklich!“

„Nein, offensichtlich nicht!“ setzte ich das Gespräch fort, „Aber rosa Schleifen im Haar auch nicht!“ Dabei deutete ich auf eine ältere, korpulente Dame im pinken Radsportdress, die ihr dunkles Haar mit zwei ausladenden rosafarbenen Schleifen zu Zöpfen gebunden hatte. Dabei schaute sie, als wollte sie den erstbesten Menschen, der ihr entgegenkam, mit genau diesen Schleifen erwürgen. Bis nach Mont-de-Marsan kamen uns noch weitere Menschen entgegen, die genügend Stoff für ironische Seitenkommentare abgaben. Manchmal war es eben doch gut, in einem Land zu sein, in dem einen die Menschen nicht verstanden. Jetzt müssen wir uns da allerdings schon wieder umstellen, denn der holländische Pilger spricht fließend Deutsch. Man kann also nicht mehr einfach so jeden blöden Kommentar unüberlegt daher schnattern.

Mont-de-Marsan ist an sich keine hässliche Stadt. Es gibt einige nette, alte Gebäude und sogar zwei Flüsse, die durch sie hindurchführen. Das ist allerdings auch schon fast alles, was man darüber sagen kann. Ein junger Mann, der uns vor dem Rathaus angesprochen hatte, antwortete auf die Frage, was man sich ansehen sollte, wenn man schon mal da war, mit „Nichts!“ und einem Schulterzucken. Wie wir später feststellten, lag er damit nicht ganz falsch.

Es gibt zwar einen roten Faden, also eine Route die man als Tourist laufen kann um alle Sehenswürdigkeiten der Stadt abzuklappern, aber die führt immer wieder an dieselben Punkte. Dazwischen führt sie an Hauptstraßen entlang und macht kleine Schlenker zu Orten, die einfach da sind, ohne dass man sie unbedingt gesehen haben muss. Um diesen Mangel an wirklichen Attraktionen auszugleichen, hat die Stadt zum ältesten Trick der Menschheitsgeschichte gegriffen. Sie hat überall Statuen von nackten Menschen aufstellen lassen. Wohin man auch blickte, es gab fast keine Richtung, in der man nicht auf einen nackten Hintern schaute. Bedauerlicherweise machten die Statuen ein genauso deprimiertes Gesicht, wie zuvor die Menschen, denen wir auf dem Radweg begegnet sind.

Wenn es einen Mute-Knopf gegeben hätte, dann hätte das Städtchen vielleicht noch als idyllische Kleinstadt im Grünen durchgehen können. Doch auch diesen Bonuspunkt hat sie mit ein paar kleinen Details verspielt. Den ersten Platz in Sachen Störenfried belegte dabei der Militärflughafen, der sich mitten in der Stadt befand und von dem im Abstand von nicht mehr als ein paar Minuten Düsenjets starten. Immer, wenn man meint, dass man doch einmal ein ruhiges Plätzchen gefunden hat, jagt ein solcher Flieger über einen hinweg und verursacht dabei ein Dröhnen, wie man es wirklich nur von Düsenjets kennt. In den Pausen zwischen den Fliegern, konnte man seinen Fokus dann auf die anderen Geräusche legen: Hauptstraßen mit LKWs, Straßenarbeiten, Kettensägen, Rasenmäher, Heckenscheren und dergleichen mehr.

Der Stadtpark von Mont-de-Marsan.

Der Stadtpark von Mont-de-Marsan.

 

In einer Bäckerei bekamen wir Sandwiches und Süßgebäck geschenkt und machten uns damit auf die Suche nach einem ruhigen Platz. Vor dem Rathaus war zu viel Verkehr. Vor der Touristeninformation auch. Wir versuchten es am Fluss, aber hier hatte man eine Schleuse eingebaut, über die das Wasser mit lautem Rauschen hinunterfiel. Dann vielleicht weiter unten am Fluss! Wir überquerten eine Straße und folgen dem Fluss um eine Biegung. Von weitem sah es hier abgelegen und ruhig aus. Doch von nahem bemerkten wir, dass der ganze Uferbereich erneuert wurde. Mehrere Bagger verteilten Sand, Rüttelmaschinen verrichteten ihr Werk und einige Arbeiter schlugen mit Vorschlaghämmern auf dicke Metallpfähle ein. Das konnte auch nicht des Rätsels Lösung sein, also schlappten wir weiter. Schließlich fanden wir einen kleinen Platz hinter einem Schwimmbad. Er war nicht schön, aber es gab eine Bank in der Sonne. Kaum hatten wir uns gesetzt, ging eine Lüftungsanlage an und brummte laut vor sich hin.

„Ich geb's auf!“, stöhnte Heiko. „Es gibt hier einfach keine Ruhe!“

Ab 14:00 sollte eigentlich die Touristeninformation wieder öffnen, in der es den Schlüssel für die Herberge gab. Doch heute hatte sie ausnahmsweise komplett geschlossen. Dafür gab es einen chinesischen Supermarkt, in dem man ebenfalls einen Schlüssel bekommen konnte. Als wir dort eintrafen, hatte er jedoch ebenfalls geschlossen. Langsam aber sicher kamen wir uns ein wenig verarscht vor, doch gut zehn Minuten später öffneten sich die Tore. Eine junge Frau kam auf uns zu und fragte: „Braucht ihr den Schlüssel?“

Wir nickten und sie drückte ihn mir in die Hand. Das war mal einfach.

Wir verstauten unsere Sachen und machten noch eine Runde durch die Stadt. Als wir zurückkehrten, staunten wir nicht schlecht über die vielen Menschen, die sich plötzlich in unserer Herberge befanden.

Spruch des Tages: Don´t wait. Make it Happen!

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 1984,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare