Blindheit als Sinnestraining

von Shania Tolinka
17.08.2012 08:48 Uhr

Wenn die Ohren plötzlich ganz wichtig sind!

Zwei Abenteurer ziehen als Blinde durch Bayern - Klettern ohne Sicht gehört auch zu dem Selbstversuch

Von Gunther Lutz

Velburg (DK) Heiko Gärtner und Tobias Krüger suchen immer wieder abenteuerliche Erfahrungen der besonderen Art.  Im Winter lebten die beiden jungen Männer aus Neumarkt zwei Wochen wie Obdachlose. Nun sind sie als Blinde in einem Sinnestraining unterwegs - auch ein  Besuch  im Hochseilgarten gehört zu ihrer „Blindentour".

„So, das ist jetzt mal echt dunkel!"  Heiko Gärtner  (33) kann nichts mehr sehen. Er trägt Augenklappen wie  ein  Pirat, und  zwar vor  beiden  Augen.

Heiko Gärtner Blindenprojekt mit Tobias Krüger

Heiko Gärtner beim Blindenprojekt zusammen mit Tobias Krüger

Das Motto im Sinnestraining lautet: Fühl dich ein!

„Captain Jack Sparrow  lässt grüßen", witzelt der Abenteurer aus Neumarkt, bevor er zusätzlich noch eine dunkle Binde aufsetzt, damit ja kein Licht seine Augen trifft. Sein Kollege Tobias Krüger (27) tut es ihm gleich - dann klettern die beiden jungen Männer mit einer Mischung aus Mut und Vorsicht wieder los. Gärtner und  Krüger sind derzeit auf  „Blindentour". Unter dem Motto „Fühl Dich ein", das auch  auf ihren  blauen T-Shirts steht,  ziehen sie 14 Tage durch Bayern und  sehen dabei  nur ganz   wenig  oder   gar   nichts. Gestern waren  sie in Nürnberg und   versuchten  sich  in  einer Praxis   für   Physiotherapie als blinde  Masseure, am Tag zuvor erprobten  sie  ihr  Können im Velburger  Klettergarten. Um zu erfahren, wie sich das Leben als Sehbehinderter oder  Blinder anfühlt, haben sie sich viel vorgenommen:  Zum Programm im Sinnestraining gehören unter anderem Übernachten mit  Schlafsack  im Wald,  ein Volksfest-Besuch, Einkaufen im  Supermarkt mit anschließendem  Kochen und sogar der Versuch,  Frauen kennenzulernen wobei sie sich ein Bild nur anhand der Stimme machen können.  „Richtig   erfolgreich war ich noch nicht", gibt Krüger zu.

Um  die  verschiedenen  Formen    von    Sehbehinderungen selbst erleben zu können, haben Gärtner und Krüger gleich einen ganzen Koffer mit Spezialbrillen im  Gepäck.  Damit   lassen   sich Augenkrankheiten   in    unterschiedlichen  Stärken   simulieren.  Die  Brillen  hat  ihnen der Ingolstädter Designer Wolfgang Moll zur Verfügung  gestellt.  Als die beiden Abenteurer sie in der Vorbereitungsphase  ihrer „Blindentour"  abholten,  probierten sie die Brillen sofort aus. Sie  zogen   damit  stundenlang durch die Stadt - ohne  eine „sehende Schutzperson", wie Krüger  berichtet.  „Das   war   echt heftig." Nicht nur das Überqueren von Straßen wurde  zum gefährlichen Manöver, die beiden machten noch  eine  andere Erfahrung, als sie erstmals hauptsächlich auf ihr Gehör angewiesen waren:  „Der Trubel und  der Lärm in der Stadt  machen dich fertig", sagt Gärtner.

Heiko Gärtner Blindentraining

Das Sinnestraining ist beim Kochen und Essen besonders herausfordernd

Für die Sicherheit ist bestens gesorgt

Bei ihrem  14-tägigen Selbstversuch haben er und Krüger zur Sicherheit immer einen dritten Mann  dabei,  der für sie die Augen offen hält und  vor Gefahren warnt.      „Rettend    eingreifen musste ich aber  erst  zweimal", berichtet   Johannes   Scheider (20).  „Einmal   lagen   Scherben auf dem  Weg und  Heiko  und Tobias waren barfuß unterwegs! Beim zweiten Mal wären  ihnen beinahe kleine  Kinder,  die  sie einfach  nicht   sehen  konnten, zwischen die Beine gerannt." Gärtner und  Krüger  sind  auf ihren     Begleiter     angewiesen. Einmal   war  Scheider  nur   ein paar   Meter   entfernt,  aber   sie dachten, er  sei  verschwunden. Sofort fühlten sie sich „klein und verlassen", berichten sie.

„Desorientierung beim ständigen Sinnestraining geht  an  die  Substanz", sagt Gärtner. Auch  im  Hochseilgarten begleitet   Scheider  seine   beiden Partner. „Wie groß  ist  der  Abstand  zwischen den   Tritten?", fragt   Gärtner.   „Etwa   eine Handbreit",  bekommt  er   als Antwort.   Mit  der   dunklen  Simulationsbrille vor  den  Augen verlässt  er die in mehreren Metern  Höhe  an  einem Baum  befestigte    Plattform.   Vorsichtig tastet er sich  über  die  Wackel Brücke, dann  stolpert  er  und sackt  zur  Seite.  Gärtner richtet sich wieder  auf und  versucht es erneut. Wieder   verliert   er  die Balance.  „Das kann  doch  nicht so  schwer   sein!",  ruft  er  und lacht.

Bei allem Nervenkitzel - richtig   gefährlich  ist   das   blinde Klettern  nicht:  Gärtner ist  mit Seil und Karabiner gesichert, die den Sturz sofort stoppen. Außerdem sind  die  beiden Abenteurer,  die  in  Neumarkt eine Wildnisschule betreiben  und Survival-Seminare anbieten, nicht  zum  ersten Mal im  Klettergarten: „Das  Terrain  ist uns bekannt, weil wir beide schon in solchen Anlagen  gearbeitet haben", sagt Gärtner. „Richtig schwierig  wird   es  erst,  wenn man etwas nicht kennt." Das Klettern  als  Blinder  ist  für  ihn auch  deshalb kein großes  Problem,  weil die Strecken auf dem Parcours zwischen den Bäumen klar definiert sind  und  es viele Orientierungspunkte gibt.  „Da ist es auf unebenem Waldboden viel schwieriger", sagt Gärtner.

mit Sehbehinderung am Volksfest

Sogar auf einem Volksfest werden die Sinne von beiden getestet

"Man merkt, wie wichtig eine gute Struktur im Alltag ist"

Ohnehin  hat   sich   auf   der „Blindentour" bereits nach  wenigen Tagen herausgestellt, dass vermeintliche Kleinigkeiten und alltägliche Dinge  ohne  Augenlicht leicht zur Herausforderung im bewussten Sinnestraining werden können. Krüger berichtet von Problemen beim  Rasieren.   Gärtner  hat   es  ebenfalls nicht   leicht   in  Bad  und   WC: „Beim Duschen dreht man  sich ein oder zweimal um und schon weiß man nicht mehr, wo das Handtuch hängt", erzählt er. „Oder man findet kein Toilettenpapier." Auch kein  Spaß  ist es, wenn man nach dem Aufstehen ewig eine  am Abend achtlos ausgezogene, nicht  ordentlich  hingelegte Socke  suchen  muss.  Gärtner hat dem Schlamper in  sich  deshalb zumindest für die  nächsten  Tage den  Kampf  angesagt:  „Man lernt,  viel strukturierter zu werden", sagt er.

Die Abenteurer machen eine Pause  im  Biergarten der  Kletteranlage. Auf dem Weg dorthin gibt es unvorhergesehene Schwierigkeiten zu meistern. Erst warnt Scheider als sehender Aufpasser vor einem Stein, über den  ein großer  Schritt  gemacht werden muss.   Direkt  dahinter liegt  ein  Hund in  der  Sonne. Scheider kann  gerade  noch  verhindern, dass Gärtner dem  Tier auf den Schwanz tritt. Kaum hat der Mann mit der dunklen Brille sich  hingesetzt, reckt  er  seine Nase  in  die  Höhe:  „Hier  gibt's Currywurst", sagt er, als die Bedienung einige Meter weiter mit einem Teller vorbeiläuft. Die  anderen Sinne funktionieren im Sinnestraining eben besser, wenn  man nur   wenig  oder  nichts  sieht. Gärtner und Krüger sind  schon gespannt, wie das nächste Woche wird: Dann  wollen sie nämlich die ganze Zeit mit blickdichter Augenbinde unterwegs sein.

Neugierig geworden?

Folgende Erfahrungen für eure Sinneswahrnehmungen sind möglich: - einfache Sinnesübungen für Erwachsene und Senioren - interessante Sinnesspiele und Wahrnehmungsspiele für die Grundschule - kreative Spiele zur neuen Wahrnehmung und das bekannte 5 Sinne Spiel für Erwachsene - eine bestimmte Sinneswahrnehmung trainieren, wie z. B. das Schmecken Spiel
Shania Tolinka
Shania Tolinka ist Reflexzonentherapeutin, Altenpflegerin und Blog-Autorin. Das Erwecken und Annehmen der eigenen Weiblichkeit, der Umgang mit traumatischen Erlebnissen, sowie die Frage, wie man bereichernde, erfüllende Beziehungen zu sich, seinem Partner und der Natur aufbauen kann, sind Themen, die ihr besonders am Herzen liegen. Aber auch im Bereich von gesunder Ernährung, Heilmassagen und Heilkräutern ist sie Expertin. Seit 2020 ist sie als Vollzeitmitglied der Lebensabenteurer-Herde dabei.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare