Blindheit als Sinnestraining


Wenn die Ohren plötzlich ganz wichtig sind!
Zwei Abenteurer ziehen als Blinde durch Bayern - Klettern ohne Sicht gehört auch zu dem Selbstversuch
Von Gunther Lutz
Velburg (DK) Heiko Gärtner und Tobias Krüger suchen immer wieder abenteuerliche Erfahrungen der besonderen Art. Im Winter lebten die beiden jungen Männer aus Neumarkt zwei Wochen wie Obdachlose. Nun sind sie als Blinde in einem Sinnestraining unterwegs - auch ein Besuch im Hochseilgarten gehört zu ihrer „Blindentour".
„So, das ist jetzt mal echt dunkel!" Heiko Gärtner (33) kann nichts mehr sehen. Er trägt Augenklappen wie ein Pirat, und zwar vor beiden Augen.

Heiko Gärtner beim Blindenprojekt zusammen mit Tobias Krüger
Das Motto im Sinnestraining lautet: Fühl dich ein!
„Captain Jack Sparrow lässt grüßen", witzelt der Abenteurer aus Neumarkt, bevor er zusätzlich noch eine dunkle Binde aufsetzt, damit ja kein Licht seine Augen trifft. Sein Kollege Tobias Krüger (27) tut es ihm gleich - dann klettern die beiden jungen Männer mit einer Mischung aus Mut und Vorsicht wieder los. Gärtner und Krüger sind derzeit auf „Blindentour". Unter dem Motto „Fühl Dich ein", das auch auf ihren blauen T-Shirts steht, ziehen sie 14 Tage durch Bayern und sehen dabei nur ganz wenig oder gar nichts. Gestern waren sie in Nürnberg und versuchten sich in einer Praxis für Physiotherapie als blinde Masseure, am Tag zuvor erprobten sie ihr Können im Velburger Klettergarten. Um zu erfahren, wie sich das Leben als Sehbehinderter oder Blinder anfühlt, haben sie sich viel vorgenommen: Zum Programm im Sinnestraining gehören unter anderem Übernachten mit Schlafsack im Wald, ein Volksfest-Besuch, Einkaufen im Supermarkt mit anschließendem Kochen und sogar der Versuch, Frauen kennenzulernen wobei sie sich ein Bild nur anhand der Stimme machen können. „Richtig erfolgreich war ich noch nicht", gibt Krüger zu.
Um die verschiedenen Formen von Sehbehinderungen selbst erleben zu können, haben Gärtner und Krüger gleich einen ganzen Koffer mit Spezialbrillen im Gepäck. Damit lassen sich Augenkrankheiten in unterschiedlichen Stärken simulieren. Die Brillen hat ihnen der Ingolstädter Designer Wolfgang Moll zur Verfügung gestellt. Als die beiden Abenteurer sie in der Vorbereitungsphase ihrer „Blindentour" abholten, probierten sie die Brillen sofort aus. Sie zogen damit stundenlang durch die Stadt - ohne eine „sehende Schutzperson", wie Krüger berichtet. „Das war echt heftig." Nicht nur das Überqueren von Straßen wurde zum gefährlichen Manöver, die beiden machten noch eine andere Erfahrung, als sie erstmals hauptsächlich auf ihr Gehör angewiesen waren: „Der Trubel und der Lärm in der Stadt machen dich fertig", sagt Gärtner.

Das Sinnestraining ist beim Kochen und Essen besonders herausfordernd
Für die Sicherheit ist bestens gesorgt
Bei ihrem 14-tägigen Selbstversuch haben er und Krüger zur Sicherheit immer einen dritten Mann dabei, der für sie die Augen offen hält und vor Gefahren warnt. „Rettend eingreifen musste ich aber erst zweimal", berichtet Johannes Scheider (20). „Einmal lagen Scherben auf dem Weg und Heiko und Tobias waren barfuß unterwegs! Beim zweiten Mal wären ihnen beinahe kleine Kinder, die sie einfach nicht sehen konnten, zwischen die Beine gerannt." Gärtner und Krüger sind auf ihren Begleiter angewiesen. Einmal war Scheider nur ein paar Meter entfernt, aber sie dachten, er sei verschwunden. Sofort fühlten sie sich „klein und verlassen", berichten sie.
„Desorientierung beim ständigen Sinnestraining geht an die Substanz", sagt Gärtner. Auch im Hochseilgarten begleitet Scheider seine beiden Partner. „Wie groß ist der Abstand zwischen den Tritten?", fragt Gärtner. „Etwa eine Handbreit", bekommt er als Antwort. Mit der dunklen Simulationsbrille vor den Augen verlässt er die in mehreren Metern Höhe an einem Baum befestigte Plattform. Vorsichtig tastet er sich über die Wackel Brücke, dann stolpert er und sackt zur Seite. Gärtner richtet sich wieder auf und versucht es erneut. Wieder verliert er die Balance. „Das kann doch nicht so schwer sein!", ruft er und lacht.
Bei allem Nervenkitzel - richtig gefährlich ist das blinde Klettern nicht: Gärtner ist mit Seil und Karabiner gesichert, die den Sturz sofort stoppen. Außerdem sind die beiden Abenteurer, die in Neumarkt eine Wildnisschule betreiben und Survival-Seminare anbieten, nicht zum ersten Mal im Klettergarten: „Das Terrain ist uns bekannt, weil wir beide schon in solchen Anlagen gearbeitet haben", sagt Gärtner. „Richtig schwierig wird es erst, wenn man etwas nicht kennt." Das Klettern als Blinder ist für ihn auch deshalb kein großes Problem, weil die Strecken auf dem Parcours zwischen den Bäumen klar definiert sind und es viele Orientierungspunkte gibt. „Da ist es auf unebenem Waldboden viel schwieriger", sagt Gärtner.

Sogar auf einem Volksfest werden die Sinne von beiden getestet
"Man merkt, wie wichtig eine gute Struktur im Alltag ist"
Ohnehin hat sich auf der „Blindentour" bereits nach wenigen Tagen herausgestellt, dass vermeintliche Kleinigkeiten und alltägliche Dinge ohne Augenlicht leicht zur Herausforderung im bewussten Sinnestraining werden können. Krüger berichtet von Problemen beim Rasieren. Gärtner hat es ebenfalls nicht leicht in Bad und WC: „Beim Duschen dreht man sich ein oder zweimal um und schon weiß man nicht mehr, wo das Handtuch hängt", erzählt er. „Oder man findet kein Toilettenpapier." Auch kein Spaß ist es, wenn man nach dem Aufstehen ewig eine am Abend achtlos ausgezogene, nicht ordentlich hingelegte Socke suchen muss. Gärtner hat dem Schlamper in sich deshalb zumindest für die nächsten Tage den Kampf angesagt: „Man lernt, viel strukturierter zu werden", sagt er.
Die Abenteurer machen eine Pause im Biergarten der Kletteranlage. Auf dem Weg dorthin gibt es unvorhergesehene Schwierigkeiten zu meistern. Erst warnt Scheider als sehender Aufpasser vor einem Stein, über den ein großer Schritt gemacht werden muss. Direkt dahinter liegt ein Hund in der Sonne. Scheider kann gerade noch verhindern, dass Gärtner dem Tier auf den Schwanz tritt. Kaum hat der Mann mit der dunklen Brille sich hingesetzt, reckt er seine Nase in die Höhe: „Hier gibt's Currywurst", sagt er, als die Bedienung einige Meter weiter mit einem Teller vorbeiläuft. Die anderen Sinne funktionieren im Sinnestraining eben besser, wenn man nur wenig oder nichts sieht. Gärtner und Krüger sind schon gespannt, wie das nächste Woche wird: Dann wollen sie nämlich die ganze Zeit mit blickdichter Augenbinde unterwegs sein.
Neugierig geworden?
Folgende Erfahrungen für eure Sinneswahrnehmungen sind möglich: - einfache Sinnesübungen für Erwachsene und Senioren - interessante Sinnesspiele und Wahrnehmungsspiele für die Grundschule - kreative Spiele zur neuen Wahrnehmung und das bekannte 5 Sinne Spiel für Erwachsene - eine bestimmte Sinneswahrnehmung trainieren, wie z. B. das Schmecken Spiel