Tag 706: Albanische Berge

von Heiko Gärtner
13.12.2015 18:23 Uhr

Auch am Morgen mussten wir noch weiter über die Huckelpiste holpern, bis wir schließlich die Hauptstraße erreichten. Dass es sich bei dieser Straße noch immer um die gleiche handeln sollte, über die unten im Tal vierhundert Autor pro Minute rollten, konnte man sich kaum vorstellen. Sie war schmal, löchrig und kaum befahren. Genau das richtige also um auf ihr zu wandern.

Nach einigen Kilometern führte uns diese Straße in eine kleinere Stadt, die sich von denen im Tal ebenfalls deutlich unterschied. Sie war zwar genauso hässlich und bestand auch nur aus unwirtlichen Betonbauten, war dafür aber unwahrscheinlich leise. Nur wenige Menschen zeigten sich in den Straßen und Autos gab es so gut wie keine. Wieder kam dieses unheimliche Gefühl in uns auf, so als wären wir in eine Geisterstadt geraten, die ein finsteres Geheimnis barg. Wirklich wohl fühlten wir uns hier nicht, auch wenn es vielleicht die angenehmste Stadt der gesamten Region war. Im Zentrum gab es einen kleinen Platz, der sogar recht schön gemacht worden war. Er war gepflegt und sauber, besaß einige Parkbänke und sogar ein paar kleine Bäumchen zur Zierde. Dennoch war auch hier die Atmosphäre gespenstisch, was wahrscheinlich vor allem an den vielen Ruinen lag, die den Platz umgaben.

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Mit unserem Handy konnten wir vor einer Bar kurz unsere Mails abrufen und dabei herausfinden, dass man unser Zelt am besten dadurch reparieren konnte, dass man einen Flicken auf die kaputte Stelle nähte. Im Nachhinein betrachtet, ist das eigentlich eine recht naheliegende Idee, aber am Vorabend waren wir nicht darauf gekommen. Das heißt, daran gedacht hatten wir schon, nur hatten wir Angst gehabt, das Zelt dadurch noch stärker zu beschädigen. Nun konnten wir es beruhigt versuchen.

Wir verließen die Stadt und kehrten dabei wieder auf die Hauptstraße zurück. Dabei wurden wir von einem Mercedes überholt, dessen Fahrer die wohl ungewöhnlichste Idee zum Transport langer Gegenstände hatte, die wir je gesehen hatten. Er transportierte ein Abflussrohr, das ein gutes Stück länger war als sein Auto. Da es nicht hinein passte, transportierte er es außen. Nicht auf dem Dach, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern seitlich. Es lag einfach auf dem Außenspiegel und auf dem geöffneten Tankdeckel auf. Damit es nicht herunterfiel, war es fachmännisch befestigt worden. Und zwar mit der Hand des Fahrers. Es gab kein Seil und keinen Gurt, mit dem er es abgespannt hatte, er hielt es einfach mit der linken Hand fest während es mit der rechten lenkte. Nur bremsen sollte er dabei nicht, denn dann wurde sein Rohr schnell zu einem Hohlmantelgeschoss von beeindruckender Länge.

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Kurz hinter der Stadt wurden wir in eine weitere Szene aus dem Bereich „Ungewöhnliche Verkehrsereignisse für Anfänger“ involviert. Ein kleiner LKW mit einem riesigen Berg Stroh kam uns entgegen. Auf diesem Berg saß ein ganzer Trupp von Arbeitern, die miteinander Quatschten und uns lauthals mit einem freundlichen „EY!“ grüßten. Dabei drehte sich einer der Männer um und ließ seine Tasche fallen, die vom Strohberg herunterkullerte und auf der Straße landete. Als der Mann das bemerkte neigte er seinen Kopf in Richtung Führerhaus und schrie seinem Fahrer die präzise Anweisung „EY!“ zu. „EY!“ war hier offensichtlich ein Generalwort, das man in jeder Situation und Lebenslage verwendete. Der Fahrer jedoch konnte seinen Passagier nicht hören, da der Motor lauter war als ein Düsenjet und er dazu noch vor sich hin trällerte. Also versuchte der Mann es noch einmal: „EY!“ dann noch einmal etwas lauter „EY!!!“ Und schließlich stimmten alle Männer auf dem fahrenden Strohberg mit ein: „EY!!! EY!!! EY!!!“

Der Fahrer merkte nun, dass irgendetwas nicht stimmte und schaute pflichtbewusst in den Rückspiegel. Doch aus irgendeinem Grund schien ihm nicht sofort klar zu sein, dass er das „EY!!!“ in diesem Fall als „Fahrer halt an! Meine Tasche ist runtergefallen und ich muss sie aufheben!“ interpretieren sollte.

Er fuhr also weiter und die Tasche wurde immer kleiner und kleiner. Schließlich verlor der Ex-Taschenbesitzer die Geduld und beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er machte sich seine Tasche zum Vorbild und rutschte einfach bei voller Fahrt den Strohberg hinunter um dann vom fahrenden Wagen zu springen. Der Plan funktionierte bedingt. Das Ziel, auf der Straße zu landen, wurde erreicht. Nur in den Haltungsnoten gab es Punktabzug, denn wie zu erwarten, kam der Mann mit der gleichen Eleganz am Boden auf, wie seine Tasche. Er haute sich so dermaßen auf die Klappe, dass das gemeinschaftliche „EY!!!“ seiner Kameraden zu einem mitleidigen „OU!!!“ wurde. Erst jetzt verstand der Fahrer die Nachricht und bremste.

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Um es dem Mann nicht ganz so schwer zu machen, war ich in der Zwischenzeit zur Tasche gegangen, hatte sie aufgehoben und brachte sie ihm nun entgegen. Es war eine rosafarbene Schulmädchentasche, ein bisschen gewagt für einen Mann seines Kalibers, aber nicht ohne Stil.

„Thank You!“ sagte er als er die Tasche wieder in den Händen hielt und wünschte mir dann noch eine gute Reise. Offensichtlich gab es doch Situationen, in denen man seine Nachricht nicht bloß über ein „EY!“ ausdrückte.

Unser Zelt schlugen wir wieder auf einer Wiese, etwas außerhalb eines Dorfes auf. Den kompletten Nachmittag machte ich mich daran, die Löcher zu flicken und schaffte dabei gerade einmal ein drittel. Die Essenssuche verlief ähnlich wie am Vortag. Die Menschen in den Bergdörfern waren deutlich angenehmer als die in der Flachebene. Nur gab es in diesem Ort hier mehr Kinder als im letzten und diese machten es sich zur Aufgabe mich für den Rest des Tages zu begleiten und mir fragen zu stellen. Eigentlich waren sie ganz niedlich, zumindest wenn man davon absah, dass sie der Überzeugung waren, dass ich ihr Albanisch nur deshalb nicht verstand, weil sie zu leise sprachen. Und wenn man davon absah, dass sie sich mir ans Bein banden wie ein Dutzend bleierne Kugeln. Es kostete mich einiges an Mühe, sie abzuschütteln und ihnen soweit zu entkommen, dass ich ungestört zum Zelt zurückkehren konnte.

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Obwohl es in Albanien eigentlich an jeder Ecke Tankstellen gab, waren wir nun schon lange an keiner mehr vorbeigekommen, die auch wirklich geöffnet hatte. Unser Benzinkocher verlangte nun nach neuem Treibstoff und wenn wir nicht bald eine Lösung finden würden, dann mussten wir wieder auf kalte Ratte umsteigen. Doch für heute sollte das erst einmal kein Thema werden, denn der Tag machte ohnehin was er wollte. In der Früh hörten wir bereits, wie einige leichte Tropfen auf unser Zelt trommelten. Es war eine Art Vorgeschmack, für das, was später noch folgen sollte. Das Wetter wechselte heute mindestens genauso oft, wie die Berge und Täler. Wir wanderten ständig irgendwo rauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Dabei war es manchmal sommerlich warm, dann wieder windig kalt. Manchmal regnete es und manchmal schien die Sonne. Dann wurden wir plötzlich sogar mit Hagel beworfen und kurz bevor der Starkregen begann, kam wieder einmal für einen Moment die Sonne raus.

Seit wir am Morgen das kleine Dorf verlassen hatten, waren wir nu noch ein einziges Mal an ein paar Häusern vorbeigekommen. Danach gab es nichts mehr. Nur noch Berge, Wälder, Täler, Schluchten, Wiesen und Hügel. Schön war es ohne jede Frage, nur eben auch nicht unanstrengend. Und gerade, als der Regen wieder richtig einsetzte, bekam mein rechter Reifen einen Platten, der repariert werden wollte, bevor wir eine Chance hatten, dem Wolkenbruch zu entkommen.

Als wir schließlich einen Platz zum Zelten fanden, an dem wir uns auch mit Nahrung versorgen konnten, hatten wir bereits ganze 45km zurückgelegt.

Vor uns lag eine Kleinstadt, die direkt an eine Felsenklippe gebaut worden war. Wir zelteten ihr gegenüber etwas abseits der Straße. Der erste Platz, den wir und ausgesucht hatten, war leider komplett von Stacheldraht umgeben. Wieso zäunte man eine leerstehende Wiese so hermetisch mit Stacheldraht ein? Das brachte doch nichts! Der zweite Platz war etwas geschützter, dafür lag er an einem Abhang und bestand größtenteils aus aufgeweichtem Lehm. Doch viel mehr Alternativen hatten wir nicht. Es begann bereits wieder zu regnen und wenn wir uns mit dem Zeltaufbau nicht beeilten, dann würden wir im Schlamm versinken, vollkommen gleich, wo wir uns befanden.

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Wir schafften es gerade, das Zelt aufzustellen, da begann eine Sintflut, wie wir sie auf der ganzen Reise noch nicht erlebt hatten. Naja, einmal in Portugal vielleicht, aber damals konnten wir uns unterstellen. Heute waren wir innerhalb von Sekunden durchnässt und mussten nun versuchen alles halbwegs Trocken durch den Schlamm vom Wagen ins Zelt zu bringen. Dabei dämmerte es bereits und wir mussten bei jedem Hin und Her aufpassen, dass wir nicht auf den glitschigen Felsen ausrutschten oder uns im Dornengestrüpp verfingen.

Anschließend machte ich mich auf in die Stadt, um uns ein Abendessen zu besorgen. Kochen konnten wir bei diesem Wetter vergessen, vor allem, da es nun bereits stockdunkel war. Also musste ich etwas auftreiben, das wir auch kalt essen konnten. Ein Unterfangen, das bei weitem nicht so einfach war, wie ich es erhofft hatte.

Zunächst traf ich auf eine junge Frau, die sich unter einem Regenschirm vor dem Wetter versteckte, während sie ein paar andere Leute beim arbeiten beobachtete, die keinen Schirm hatten. Ich zeigte ihr meinen Zettel, den sie natürlich nicht unter den Schirm, sondern in den Regen hielt und sie versprach mir daraufhin, mir etwas zu organisieren. Ich solle ihr nur folgen.

Sie führte mich einige schmale Gassen hinauf zu einem anderen Grundstück. Die Stadt war wirklich so steil in den Hang gebaut worden, wie man es von weitem vermutet hatte und so waren die Häuser eher übereinander als nebeneinander. Sie ließ mich einen Moment vor der für warten, während sie eine Freundin auftrieb, die nebenan wohnte. Dann bat sie mich herein und bot mir einen Platz auf der Terrasse an. Die Einladung war sicher nett gemeint, aber mir war so kalt, dass ich mich nun nicht auch noch ins Freie setzen und plaudern wollte. Vor allem, da wir ja nicht einmal plaudern konnten, denn wir hatte ja noch immer keine gemeinsame Sprache. Es dauerte einige Momente, bis ich erkannte, dass es der Frau jedoch nur darum gegangen war. Ich war nicht hier um etwas zu Essen zu bekommen, sondern um als Maskottchen für ihre Freundinnen zu dienen. Unter anderen Umständen hätte das sicher auch sehr nett sein können, aber mir war kalt und ich hatte Hunger, weshalb ich nicht im geringsten zu solchen Späßen aufgelegt war.

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Ich verabschiedete mich höflich und machte mich erneut auf die Suche. Bei den nächsten Häusern hatte ich mehr Glück. Doch zum ersten Mal in Albanien fragte ich nun wirklich in einer Stadt und nicht auf dem Land. Der Unterschied war immens. Auf dem Land hatten die Menschen immer eigene Höfe mit großen Gärten und Unmengen an Gemüse, Kartoffeln und allem Möglichen gehabt. Hier aber lebten die Menschen in winzigen Häuschen, teilweise sogar Zimmerchen auf engstem Raum und sie besaßen selbst fast nichts. Einige schienen mir so arm zu sein, dass ich mich nicht einmal zu fragen traute und mich einfach nur entschuldigte und wieder ging. Darunter war ein altes Ehepaar, das in einem winzigen Zimmer lebte. Es war so klein, dass mir der Mann die Tür öffnete, ohne dabei sein Bett zu verlassen.

Ein anderes Haus hingegen war größer und so voller Leute, dass ich gar nicht mehr wusste, an wen ich mich überhaupt wenden sollte. Es waren alles alte Damen und alle versuchten meine Verwirrung dadurch aufzulösen, dass sie gleichzeitig durcheinander redeten. Je verwirrter ich dreinblickte, desto energischer wurden sie, bis ich schließlich kurz davor war, die Flucht zu ergreifen. Dann aber kam eine der alten Damen und bat mich noch einmal um meinen Zettel.

„Er will einfach etwas zum Essen!“ erklärte sie den anderen und damit löste sich das Chaos dann langsam auf. Die Hauseigentümerin ging zurück in die Küche und stellte mir eine Tüte mit Brot und einigen anderen Dingen zusammen. Die grauhaarige Dame, die das Chaos zuvor aufgelöst hatte, kümmerte sich derweil um mich wie um einen Enkel.

„Vergiss deinen Zettel nicht!“ bedeutete sie mir, als ich die Tüte ihrer Freundin im Rucksack verstaut hatte. „Und setz deine Kapuze wieder auf, damit du nicht krank wirst!“

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Bevor ich ging schaute sie noch einmal, dass ich wirklich nichts vergessen hatte und dann verabschiedete sie sich wie von einem Enkel, der hinaus in die Welt wollte.

Bei den nächsten Häusern war es dann wieder gemischter, in Sachen Erfolg. Einige sagten zu, andere sagten ab und langsam wurde es immer dunkler. Die Straßen waren steil und durch die Nässe extrem glatt. Außerdem tauchten immer wieder Stufen auf, die man im Dunkel kaum sehen konnte, so dass ich mehr als einmal kurz davor war, mich ordentlich auf die Nase zu legen. Unsicher tastete ich mich von einer Hauswand zur nächsten und versuchte dabei nicht vollkommen die Orientierung zu verlieren. Plötzlich stand ein Mann mit einem Esel vor mir, der völlig unvermittelt aus der Dunkelheit auftauchte.

Er war der einzige Mann den ich in diesem Dorf traf, der fließend Englisch sprach, doch das einzige, was er mir mitteilte war, dass ich mich gerade in einer Sackgasse befand. Hätte ich irgendwo hingewollt, wäre das sicher eine nützliche Information gewesen, doch für meine Zwecke spielte es eher eine untergeordnete Rolle, ob eine Straße ein Ende hatte oder nicht. In diesem Fall wohnte am Ende der besagten Straße ein Mann, der mich sogar nach innen in sein Wohnzimmer einlud. Ich war zwar Dankbar für das Angebot, der Nasskälte zumindest für einen kurzen Moment entfliehen zu können, wollte ihm aber auch nicht das komplette Haus einsauen. Immerhin tropfte der Wegen von mir herab wie von einer Gewitterwolke. Doch der Mann ließ nicht locker. Vorsichtig hüpfte ich von einem teppichfreien Fleck der Wohnung zum nächsten, damit ich so wenig wie möglich einsaute. Doch der Mann schien nicht allzu viel auf seinen Teppichboden zu halten und bedeutete mir endlich ins Wohnzimmer zu kommen, damit ich auf dem Sofa neben dem Kamin Platz nehmen konnte.

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Es war angenehm warm und ich bekam sofort einen Teller mit Honig und Honigwaben von der Frau des Mannes hingestellt. Sonst hatten die beiden nicht viel im Haus, aber sie schenkten mir eine Packung Reis.

Etwa zehn Minuten später stand ich wieder im Regen. So schön die Wärme auch gewesen war, lang hielt sie nicht an.

Da wir keine Chance hatten, den Reis heute Abend noch zuzubereiten, versuchte ich mein Glück noch bei einer einzigen weiteren Tür. Die Klingel war kaputt, deswegen klopfte ich an und wartete. Als sie sich öffnete blickte mir ein bekanntes Gesicht entgegen.

„Ach du bist es!“ sagte die weißhaarige Frau, die mich zuvor als Enkel adoptiert hatte. „Komm rein!“

Ich trat in einen winzigen Raum, der nicht viel größer war als unser Zelt. er diente der Dame sowohl als Wohnzimmer als auch als Küche. Von hier aus gingen zwei Türen ab. Eine führte in eine kleine Nische mit einem Bett und die andere in einen Verschlag, der als Badezimmer diente. An der Wand hing eine riesige Uhr, die auf Punkt 10:00 stehengeblieben war und wahrscheinlich schon seit Ewigkeiten nicht mehr ging. Auf der Anrichte stand in winziger Fernseher, etwa in der Größe eines Gameboys, der fast nur Bildrauschen zeigte in dem man hin und wieder mal eine Silhouette erahnen konnte. Auch der Ton bestand zu neunzig Prozent aus Rauschen und nur zu einem kleinen Rest aus Wortfetzen, die man vielleicht zu einem Dialog zusammenpuzzeln konnte, wenn man viel Fantasie hatte. Vor dem Fernseher stand ein Küchenstuhl, auf dem die Dame gesessen hatte, bis ich sie beim Fernsehen gestört hatte. Es war der einzige Stuhl den es im Haus gab.

Ich brauchte nichts mehr zu fragen, denn sie wusste ja was ich wollte. Ich lächelte mich an und machte sich sofort daran, mir eine kleine Brotzeit zusammenzustellen. Immer wieder öffnete sie dafür den Kühlschrank um nach irgendetwas zu suchen, was sie nicht finden konnte. Dann gab sie es auf und versuchte er eine Minute später noch einmal. Schließlich hielt sie zwei Wienerwürstchen in der Hand und machte dabei ein zufriedenes Gesicht. Ich selbst stand die ganze Zeit neben der Tür und versuchte, so wenig Platz wie möglich einzunehmen. Dabei fielen meine Blicke zunächst auf den riesigen Spalt, der zwischen der für und der Wand klaffte und durch den die Kälte von draußen hereinzog, wie durch ein offenes Fenster. Dann wurde ich jedoch von ihren Schuhen abgelenkt. Sie trug ausgelaufene und löchrige Pantoffeln, auf denen kleine Gesichter mit riesigen Kulleraugen aufgenäht waren. Als ich sie darauf ansprach mussten wir beide lachen. Kein Mensch braucht eine gemeinsame Sprache, wenn er Schuhe mit solchen Kulleraugen hat!

Dann verabschiedeten wir uns ein zweites Mal und ich kehrte durch die kalte, nasse Nacht zu unserem Zelt zurück. Dort musste ich mich im Vorraum erst einmal komplett nackt ausziehen, abtrocknen und neu einkleiden. Es gab keinen Millimeter mehr an mir, der nicht komplett nass war. Gott, wie freute ich mich jetzt auf einen warmen Schlafsack und ein entspanntes Abendessen!

Spruch des Tages: Kein Mensch braucht eine gemeinsame Sprache, wenn er Schuhe mit solchen Kulleraugen hat!

Höhenmeter: 600 m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 12.586,27 km

Wetter: leicht bewölkt, später neblig

Etappenziel: altes Pfarrhaus, 88050 Petroná, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Etwas unterhalb des kleinen Dörfchens errichteten wir unser Zelt auf einer Weidewiese. Heiko war gerade dabei die Heringe in den Boden zu treiben, als er plötzlich erschrocken auffuhr: „Scheiße, was ist das denn!?“

„Was ist was?“ fragte ich beunruhigt.

„Schau dir das an!“ sagte er in einem Tonfall, der keineswegs zu meiner Beruhigung beitrug, „Wir haben ein paar wirklich große Löcher im Zelt!“

Ich schaute mir den Zeltstoff an der Stelle an, auf die er deutete. In und neben der Tür war er an mehreren Stellen aufgerieben und gerissen, so dass einige kleinere und größere Löcher entstanden sind.

„Wie konnte das denn passieren?“ fragte ich entgeistert, wodurch eine längere Diskussion über Ursächlichkeiten, Verantwortung und Schuldzuweisungen entstand. Heiko war der Meinung, dass ich am Vortag auf den Stoff getreten sein musste und dabei die Löcher mit meinen Füßen verursacht hatte. Ich war der Überzeugung, dass dies nicht stimmte und dass die Löcher stattdessen durch Reibung in der Tasche entstanden waren. Wahrscheinlich weil die Strecke so holperig war.

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Die wirkliche Ursache fanden wir nicht heraus. Vielleicht war beim Einpacken ein Steinchen mit ins Zelt geraten, doch auch darauf fanden wir keine Hinweise. Wir erfuhren nur einige Zeit später von Hilleberg, dass es vorkommen konnte, dass der Zeltstoff bei zu intensiver Sonneneinstrahlung instabil wurde, so dass sich leicht kleinere Risse ergeben konnten. Auch wenn unser Zelt inzwischen wie ein Haus für uns war, mussten wir nun doch wieder schmerzlich erkennen, dass nichts für die Ewigkeit bestimmt war. Bis zu diesem Abend war für mich immer klar gewesen, dass wir uns auf unser Zelt verlassen konnten. Doch nun spürte ich, dass auch dies nur eine Illusion war. Ein einziger Riss an der falschen Stelle genügte, um uns im Handumdrehen zu Obdachlosen zu machen. Trotz all unserer Sicherheitsvorkehrungen und all der Dinge, die wir inzwischen als Redundanz und zur Reparatur dabei hatten, gab es noch immer Schwachstellen, die wir nicht bedacht hatten und durch die wir in wirklich ernste Schwierigkeiten geraten konnten. Nicht nur unser Zelt, auch die Packsäcke und mein Rucksack waren solche Faktoren. Wenn wir Europa wirklich verlassen und uns in entlegene Gebiete vorwagen wollten, dann mussten wir in der Lage sein, alles, aber auch wirklich alles zu reparieren. Und wir brauchten Ersatzmaterialien, die wir uns jederzeit zuschicken lassen konnten. Als wir zu unserer Weltreise aufgebrochen waren, hatte ich die naive Vorstellung gehabt, dass wir das Material, was wir in unseren Wagen verstaut hatten, bis zum Ende aller Tage bei uns tragen würden. Das konnte natürlich nicht funktionieren, aber dass wir sogar bei unserem Zelt schon nach so kurzer Zeit über Ersatz nachdenken mussten, hätte ich auch wieder nicht vermutet. Noch waren die Risse nur klein, doch was war, wenn nun ein heftiger Sturm aufkam? Würden sie weiter aufreißen? Würden neue hinzukommen?

Irgendwo auf meinem Computer hatte ich eine Mail vergraben, in der wir eine genaue Anleitung bekommen hatten, wie man den Zeltstoff flicken konnte. Die Frage war nur: „Wo?“ nach einer Dreiviertelstunde des Suchens gab ich es auf und wir beschlossen, es durch das gute, alte Try-And-Error-Verfahren herauszufinden. Unsere Befürchtung war, dass wir den Zeltstoff mit einem zu aggressiven Klebstoff vielleicht noch mehr beschädigen würden. Doch das Gegenteil war der Fall. Nichts, aber auch gar nichts wollte auf diesem Stoff haften bleiben. Er stieß alles wieder ab und sah anschließend wieder aus wie zuvor. Erst später fanden wir heraus, dass der Stoff mit einer Silikonschicht überzogen war, die nicht nur Nässe sondern einfach alles abperlen ließ. Die einzige Möglichkeit den Stoff zu reparieren bestand also darin, ihn zu nähen. Doch darauf kamen wir erst am Folgetag. Für Heute versuchten wir es mit dem Kleben und hofften, dass die Flicken zumindest die Nacht über an der richtigen Stelle bleiben würden.

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Nach dieser Erfahrung beschlossen wir, euch noch einmal um eure Unterstützung auf unserer Weltreise zu bitten. Bislang hatten wir ja einige Male um Geld gebeten und daraufhin auch mehrfach großartige Spenden von euch erhalten. Dafür möchten wir uns noch einmal ganz herzlich bei euch bedanken! Wir freuen uns natürlich auch zukünftig noch über finanzielle Unterstützung, aber ebenso freuen wir uns auch über alle anderen Formen der Hilfe. In unserem Alltagsleben bitten wir die Menschen ja schließlich auch nicht um Geld, sondern fragen direkt nach den Dingen, die wir gerade benötigen. Warum sollten wir es im Blog also anders machen. Falls ihr uns also eine Freude machen wollt, könnt ihr uns gerne auch mit etwas Material unterstützen. Wir freuen uns über alles, was man auf einer Weltreise gebrauchen kann. Natürlich über Zelte, in denen man gut zu zweit oder zu dritt schlafen kann, denn die haben ja den Anlass gegeben. Aber auch über Isomatten, Luftmattratzen, T-Shirts, Regenkleidung sowie Kleidung im Allgemeinen, Schuhe, Reifen, Rucksäcke, Wasserdichte Packsäcke, Smartphones, Laptops, Foto-Kameras, Pilgerwagen oder Sonnenhüte. Alles darf auch gerne gebraucht sein. Vielleicht hat ja der eine oder andere irgendwelche Ausrüstung auf dem Dachboden oder im Keller liegen, die er eh nicht mehr braucht und die sich über einen neuen Einsatz irgendwo auf der Welt freuen würde. Und wer weiß, vielleicht hat ja sogar jemand einen Wohlwagen, in dem wir irgendwann einmal unsere Rente verbringen dürfen.

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Passend zu dieser Idee haben wir beim nächsten Internetzugang auch eine kleine Unterseite mit einer Wunschliste eingerichtet, auf der wir alles notieren, was wir gerade im Moment gut gebrauchen können. Dabei gibt es auch eine Kategorie mit nichtmaterieller Unterstützung. Wie ihr vielleicht gemerkt habt, ist unser Heilungsshop nicht gerade der schönste, was vor allem daran liegt, dass wir keine Ahnung vom Programmieren haben. Wenn es euch da anders geht, sind wir für jede Form der Hilfe offen. Genauso freuen wir uns über Menschen, deren Rechtschreibung besser ist als unsere (also so gut wie jeder) und die uns bei der Lektorierung unserer Bücher unterstützen möchten. Oder deren Übersetzung, Illustration oder Veröffentlichung.

Egal für was, vielen Dank schon einmal im Voraus! Und vielen Dank, dass ihr uns nun bereits seit fast zwei Jahren so treu begleitet, so aufmerksam lest und unsere Abenteuer teilt und verbreitet!

 

Spruch des Tages: „Alles hat seine Zeit, richtig?“ fragte der Schüler seinen Meister. „Ja!“ antwortete der Meister. „Dann gibt es auch für alles eine Zeit in der es kommt und eine Zeit in der es vergeht. Daraus folgt, dass es nicht zur Erleuchtung führen kann, wenn man an etwas festhält, das vergangen ist.“, fuhr der Schüler fort. „Richtig!“ bestätigte der Meister, „Das ist eine weise Erkenntnis. Wie kommst du darauf.“ „Nun“, sagte der Schüler und zeigte dem Meister ein paar Scherben, die er in der Hand hielt, „weil ich gerade deine Lieblingsvase zerbrochen habe!“

 

Höhenmeter: 310 m

Tagesetappe: 10 km

Gesamtstrecke: 12.573,27 km

Wetter: leicht bewölkt

Etappenziel: Pfarrhaus, 88838 Mesoraca, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Auch heute ging es weiter durch die Flachebene und noch immer war das Wandern alles andere als ein Genuss. Die Straßen waren holprig und teilweise fast unzugänglich und die Berge an Müll schlugen uns langsam aufs Gemüt. Noch vor ein paar Tagen waren wir froh gewesen, endlich einmal eine Weile durchs flache Land wandern zu können. Jetzt freuten wir uns schon wieder auf die Berge. Dort war es zwar anstrengender aber auch ruhiger und schöner. Albanien konnte nicht als gesamtes Land so grausam sein wie diese Gegend hier, da waren wir uns sicher.

Doch diese Gegend hatte es erst einmal in sich. Nachdem wir unser Zelt in den Feldern aufgeschlagen hatten, machte ich mich wieder auf die Suche nach Lebensmitteln und einer Stromquelle. Das Dorf in das ich dabei gelangte war noch weitaus unangenehmer als die, durch die wir zuvor gekommen waren. Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas war hier anders. Alle starrten mich an als wäre ich ein Geist und mehrere Male lief es mir kalt den Rücken hinunter. In einem kleinen Lädchen fragte ich nach Wasser, doch es gab nur winzig kleine Flaschen, von denen ich ein Dutzend gebraucht hätte, um damit durchzukommen. Im zweiten Laden sah es ähnlich aus, doch hier entdeckte ich einen Sechserträger mit Eineinhalb-Liter-Flaschen, der versteckt hinter dem Tresen stand. Ich fragte den Ladenbesitzer danach, doch dieser bat mir wieder nur die kleinen Fläschchen an.

„Nein, nein!“ sagte ich und machte eine Handbewegung um Größe zu signalisieren. „Eine große Flasche!“

Wieder wies der Mann auf den Kleinkram, dieses Mal jedoch schon deutlich energischer. Ich versuchte es noch einmal und zeigte dabei auf die Flaschen hinterm Tresen. Da wurde der Mann sauer, drückte mir eine Miniflasche in die Hand und warf mich aus seinem Laden. „Die hier kannst du behalten!“ sagte er, „Und jetzt verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken!“

Ich brauchte noch zwei weitere Läden, bis ich einen fand in dem ich dann wirklich Wasser kaufen konnte. Dabei geriet ich jedoch immer tiefer in den Ort hinein und je weiter ich in Richtung Zentrum kam, desto unangenehmer wurde es. Überall lauerten zwielichtige Gestalten in den dunklen Ecken und jede von ihnen starrte mich mit einer Mischung aus Angst, Gier und Faszination an, als wüssten sie nicht, ob sie mich fressen oder vor mir weglaufen sollten. War es wirklich eine gute Idee, hier irgendwo meinen Computer auszupacken und mit dem Arbeiten zu beginnen? Wenn ich jetzt schon so angegafft wurde, was würde dann erst passieren, wenn sie wussten, was ich für Werte bei mir trug? Gut fühlte sich das alles nicht an.

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Ich hielt mich wieder an größere Straßen und versuchte dabei in Richtung Ortsausgang zu gelangen, hielt aber dennoch Ausschau nach einer Bar oder etwas ähnlichem. Schließlich fand ich ein kleines Café, das von einem älteren Pärchen betrieben wurde. Das Pärchen selbst machte keinen gefährlichen Eindruck und von hier aus musste ich durch keine einsame Gasse mehr, um zurück zum Zelt zu gelangen. Noch immer fühlte ich mich nicht wirklich wohl bei der Sache, doch ich beschloss das Risiko einzugehen.

Erst jetzt stellte sich heraus, dass das gar nicht so einfach war, wie gedacht. Denn die Barleiterin war keinesfalls erfreut, dass ich ihren Strom nutzen wollte. Es war das erste Mal, dass ich in einem öffentlichen Café wirklich Überzeugungsarbeit leisten musste, um eine Steckdose benutzen zu dürfen. Schließlich willigte sie ein. Als ich jedoch meinen Computer anschloss, bekam sie fast einen Herzinfarkt.

„Ich dachte es geht um ein Handy!“ sagte sie entsetzt, „jetzt auch noch ein Computer?“

Doch ihr Mann beruhigte sie und nickte mir entspannt zu. Ich setzte mich in eine Ecke und richtete mich ein. Kurz darauf kam ein Junge mit zwei seiner Kumpels herein und setzte sich mir gegenüber. Er muss so um die sechzehn gewesen sein und war einer der Gründe, weshalb ich mich auf den Straßen so unwohl gefühlt hatte. Einen Moment lang schaute er mir zu, dann versuchte er ein Gespräch anzufangen in dem er mich auf eine Weise ansprach die in Deutschland als Aufforderung für eine Schlägerei durchgegangen wäre. Ich antwortete ruhig, ohne mich großartig unterbrechen zu lassen und der Junge fuhr damit fort in regelmäßigen Abständen neue Fragen zu stellen, dessen Antwort er nicht verstehen konnte. Sein Englisch reichte für dreisilbige Fragen, aber weiter leider nicht. Einen Moment lang gab er Ruhe, doch dann übermannte ihn wieder sein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und er begann laut zu schnipsen und zu Pfeifen um eine Reaktion von mir einzufordern. Ich verhielt mich freundlich aber distanziert und versuchte dabei so uninteressant wie möglich zu wirken. Doch das funktionierte leider nicht besonders gut. Schließlich kam er sogar zu mir herüber und schaute mir beim Schreiben in den Bildschirm. Ein Gefühl für höfliche Distanz gab es offensichtlich einfach nicht und je länger der Junge in meiner Nähe blieb, desto schwerer fiel es mir, höflich zu bleiben. Ich empfand ihn als aufdringliche, penetrante Nervensäge, der so langweilig war, dass sie anderen um jeden Preis auf den Senkel gehen musste. Schließlich jedoch kamen noch weitere seiner Kumpel und er lief raus um mit ihnen Fußball zu spielen.

Als ich eine halbe Stunde später das Café verließ bolzte er noch immer direkt vor der Tür. Sofort kam er auf mich zu, verabschiedete sich freundlich und wünschte mir eine gute Reise. Ich war verblüfft. Sein ganzes nerviges Prollgehabe war also nichts weiter als eine Fassade gewesen, durch die er versucht hatte, nett zu sein. Nichts war böse gemeint sondern wirklich ein Angebot für eine Freundschaft gewesen.

Trotzdem fühlte ich mich noch immer unwohl in dem Dorf, nachdem nun so viele Menschen wussten, was ich in meinem Rucksack verbarg. ‚Raus!’ dachte ich, ‚Nur schnell raus hier!’ Erst als ich die Hauptstraße erreicht und jeden hinter mir gelassen hatte, der mir komisch vor kam, wurde ich wieder entspannter. Hier konnte ich nun auch wieder in Ruhe an den Türen klingeln und nach Essen fragen. Und hier hatte ich nun auch wieder das Gefühl, dass ich mit wirklichen Menschen umgeben war, mit denen man gefahrlos sprechen konnte.

Am nächsten Morgen war es dann endlich soweit, dass wir die Flachebene verlassen und wieder in die Berge wandern konnten. Wer hätte gedacht, dass sich Anstrengung einmal so gut anfühlen würde? Beim Raussuchen der Strecken hatte ich etwas Bedenken, weil es im bergigen Teil des Landes nur noch Hauptstraßen gab, die genauso bezeichnet waren, wie die unerträglichen Verkehrsadern in der Ebene. Wenn sie im Gebirge genauso unerträglich waren, dann kamen rund 60km Hölle auf uns zu.

Doch bereits der erste Blick war beruhigend. Kurz bevor sich die Berge aus der Ebene Erhoben endete der ausgebaute Teil der Straße und sie wurde zu einer gigantischen Baustelle. Damit sah sie eigentlich aus, wie jede andere Straße auch, nur das ein paar Baufahrzeuge herumstanden und dass es einige Schilder gab, die diesen Teil der Straße für unfertig erklärten. Kaum hatten wir auch nur einen Höhenmeter hinter, bzw. unter uns gebracht, änderte sich das Landschaftsbild radikal. Das Gebirge war fast menschenleer und wunderschön. Unter uns blickten wir noch in das Tal, das wie eine Hölle aus Müll vor uns lag und gleich auf der anderen Seite begann ein Paradies aus Wäldern, grünen Hügeln, Felsen und Seen. Sofort kehrte die Ruhe wieder ein und das Wandern wurde wieder zu einer Freude.

Etwa fünf Kilometer vom Ende des Flachebene entfernt öffnete sich die schmale Schlucht zu einem weitläufigen Tal in dessen Mitte sich ein flacher See mit einer einzigen kleinen Insel darin befand. An seinem Ufer gab es ein Restaurant, das fast vollkommen verlassen da lag. Zwei Männer waren zu sehen, die etwas herumräumten und bei denen es sich offensichtlich um die Eigentümer handelte. Ich fragte sie nach etwas zu Essen, wobei ich wieder nur auf unseren Zettel zurückgreifen konnte. Doch die Beiden willigten ein. Ich weiß nicht warum, denn eigentlich gab es dafür keine Anzeichen, aber trotzdem hatte ich ein etwas ungutes Gefühl und war mir nicht sicher, ob sie wirklich verstanden hatten, dass wir ohne Geld reisten. Vorsichtshalber ging ich noch einmal zum jüngeren der beiden und zeigte ihm mein Handy, auf dessen Bildschirm unser Google-Übersetzer folgenden Satz geschrieben hatte: „Wir reisen komplett ohne Geld um die Welt und können unser Essen daher nicht bezahlen. Ist es trotzdem in Ordnung?“

Der Mann nickte und versicherte mir, dass es überhaupt kein Problem sei. Beruhigt setzte ich mich wieder an den Tisch und wir warteten auf unser Essen. Es gab Pommes mit Käse, Paprika Wurst, kleinen Minifischen und einem gemischten Salat. Alles war frittiert worden, außer natürlich der Salat. Es lag zwar wie ein Stein im Magen, aber vom Geschmack konnte man nicht meckern.

Dann jedoch wurde die Sache komisch. Als wir uns verabschieden und bedanken wollten, schaute uns der Mann nur grimmig an und sagte nichts. Nach einem Moment des Schweigens machte er jene Geste mit der rechten Hand, die international anerkannt ist, um damit Geld zu symbolisieren. Zunächst verstand ich es nicht, weil ich überzeugt war, dass wir zuvor alles geregelt hatten, doch der Mann widerholte nur immer und immer wieder die gleiche Geste. Also schloss ich mich seiner Taktik an und widerholte noch einmal den Satz auf dem Handy. Nun sagte er überhaupt nichts mehr und reagierte auch auf keinen unserer Kommunikationsversuche.

„Keine Ahnung, was los ist!“ sagte ich an Heiko gewandt, dem es ähnlich ging. Da wir hier nicht weiterkamen, wiederholten wir noch einmal unsere Dankes- und Grußformel und verließen das Restaurant.

Am Eingang holte uns der Mann wieder ein und verlangte noch einmal Geld von uns. Dieses Mal sprach er sogar ein bisschen Englisch.

„Es tut uns leid!“ sagte ich, „aber wir haben von vornherein gesagt, dass wir um eine Spende bitten, die wir nicht bezahlen können. Wenn das nicht in Ihrem Sinne war, dann hätten sie einfach Nein sagen müssen!“

Einen Moment lang kam der Gedanke in mir auf, dass er mich vielleicht wirklich nicht verstanden hatte und dass auch der Satz, den ich beim zweiten Mal vorzeigte, nicht aussagekräftig genug gewesen war. War es am Ende doch unsere Schuld gewesen?

Dann aber fiel mir auf, dass das ganze Verhalten des Mannes in sich nicht schlüssig war. Er hatte nach dem Lesen genickt, hatte OK gesagt und mir dann in der Küche gezeigt, was er noch übrig hatte, um uns eine Kleinigkeit daraus zu zaubern. Hätte er nicht gewusst, dass wir kein Geld hatten, dann hätte er mir in diesem Moment auch einen Preis dazu gesagt. Doch das hatte er nicht. Er wollte, dass wir ein schlechtes Gewissen bekamen und hoffte, uns dadurch übers Ohr hauen zu können. In der Diskussion auf seiner Einfahrt wurde er dann sogar so dreist, dass er unser Smartphone als Bezahlung für sein Essen verlangte. Ich schaute ihn an und traute meinen Ohren nicht. „Wirklich? Ein Smartphone für rund 100€ als Bezahlung für ein Essen im Wert von gerade einmal 5€?“

Heiko hatte einen besseren Deal im Angebot. Er packte unsere Vorratstüte mit Obst aus und legte dem Mann so viele Äpfel und Birnen auf den Tisch, dass der Gegenwert für seine verbrauchten Zutaten wieder ausgeglichen war.

„Hier!“ sagte er, „dass muss reichen!“

Dann verließen wir das Tal, ohne uns noch einmal umzuschauen.

Das wirklich krasse bei der Geschichte war jedoch, dass wir uns am Ende sogar noch um die Äpfel betrogen fühlten. Ich weiß nicht, ob ihr dieses Gefühl kennt, wenn man auf einem türkischen oder tschechischen Markt mit einem Händler feilscht, den Preis um mehr als die Hälfte senkt, glaubt einen guten Deal gemacht zu haben und keine zwei Minuten später der Überzeugung ist, komplett übers Ohr gehauen worden zu sein. Dieses Gefühl hatten wir nun auch.

Um das Dorf zu erreichen, bei dem wir heute rasten wollten, mussten wir über einige kleine Nebenstraßen in ein weiteres Tal wandern. Es war der einzige Streckenabschnitt in diesem Gebirge, bei dem ich Nebenstraßen gefunden hatte, die zumindest auf dem Satellitenbild aussahen, als könnten sie wirklich existieren. In natura erwiesen sie sich jedoch als äußerst unpraktisch, den sie bestanden komplett aus Felsbrocken, die man nebeneinander gereiht hatte. Jeder von euch kennt Kopfsteinpflaster und weiß, wie unbequem es ist auf ihnen zu laufen oder gar fahrradzufahren. Stellt euch so ein Kopfsteinpflaster nun einmal mit richtigen Felsbrocken vor, die alle unterschiedliche Größen und Formen haben und die auch in sich schon uneben sind. Während wir über diesen Zustand einer Straße wanderten, verging keine Minute in der wir nicht darüber grübelten, wieso man derartige Straßen überhaupt baute. Sie waren doch für niemanden praktisch. Zu Fuß verstauchte man sich die Knöchel, mit dem Fahrrad war es vollkommen unmöglich, ein Auto musste kämpfen um durchzukommen und für eine Pferdekutsche war es die reinste Hölle. Nicht einmal ein Pferd oder ein Esel ging gern über eine solche Straße. Die einzigen, denen sie vielleicht gefallen würde, waren Steinböcke und Bergziegen aber für die war sie wahrscheinlich wieder zu unspektakulär. Hätte man den Boden an dieser Stelle einfach so gelassen, wie er war, wäre das Durchkommen einfacher gewesen. Umso mehr waren wir fasziniert, als wir wirklich kurz hintereinander von einem Eselkarren und einem normalen PKW überholt wurden.

Spruch des Tages: I´m an Alien, I´m a German Man in Albania. (Sehr frei nach Sting)

 

Höhenmeter: 380 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 12.563,27 km

Wetter: sonnig

Etappenziel: Atelier eines Brautkleid-Herstellers, 88837 Petilia Policastro, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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