Tierbekanntschaften - Was dir deine Krafttiere mitteilen wollen

von Franz Bujor
28.03.2018 06:49 Uhr

12.10.2017

Von Rehen, Füchsen, Papageien und Hobbits

Heute war wieder ein Tag der besonderen Begegnungen. Gleich in der Früh querten wir ein großes Militärgelände, das wir gestern nicht hatten durchqueren können, da es aufgrund einer Übung vollständig gesperrt gewesen war. Nun war es wieder freigegeben und außer uns war es menschenleer. Das wussten offenbar auch die Rehe, denn überall sonst herrschte hier in Frankreich gerade Jagdsaison. Bereits in den letzten Tagen hatten wir schon erstaunlich oft Rehe gesehen, was sicher auch kein Zufall war. Doch hier auf diesem geschützten von der Jagd ausgenommenen Gelände waren es gleich hunderte, die sich tummelten. Sie tollten über die weiten Wiesen und hatten nicht eine Spur von Angst. Als sie uns sahen, blickten sie kurz zu uns herüber, identifizierten und als ungefährlich und hüpften munter weiter. Es lag so viel Leichtigkeit und Eleganz in ihren Bewegungen, dass Heiko und ich fast ein bisschen neidisch wurden.

Die Botschaft des Rehs

In Anbetracht der Menge und Nähe in denen uns die Rehe begegneten, wollten wir dann doch einmal nachschauen, was sie denn für eine Botschaft für uns hatten. Einiges wussten wir bereits über das Reh, doch es schien, als wäre wieder einiges an neuen Informationen dabei. So galt das Reh in der europäischen Mythologie und in unseren alten Märchen, Sagen und Legenden in der Regel als eine geheimnisvolle Verführerin. Das beispielsweise war uns neu! Und doch war es auch naheliegend, denn gerade durch seine schüchterne Art löst es in Männern einen Beschützerinstinkt aus, der sie herbeilockt. Den Erzählungen nach, kann das Reh dabei tief in das Herz und in die Seele blicken und so Wünsche und Sehnsüchte erkennen, die nicht einmal der Mensch selbst richtig versteht. Als hilfreiches Wesen nutzt das Reh diese Fähigkeit jedoch nicht zum Negativen. Viel mehr führt es einen an Orte, an denen eine tiefe Wandlung möglich ist, die man sich zwar irgendwo innerlich ersehnt hat, die man aber selbst noch nicht greifen oder definieren kann.

Rehe liegen entspannt an ihrem Ruheplatz

Rehe liegen entspannt an ihrem Ruheplatz

Die Botschaft geht aber noch weiter, denn gleichzeitig warnt das Reh auch vor etwas, das einem sehr nahe geht und von dem man noch nicht genau sagen kann, ob es einem wohlgesonnen ist oder nicht. Hier sollte man eine intuitive Entscheidung treffen und nicht länger mit dem Kopf versuchen, die Situation zu analysieren. Vertraut einfach auf eure innere Rehstimme, denn sie wird instinktiv die richtige Entscheidung für euch treffen.

Ein verspieltes Reh im Rapsfeld – ein gern genommener Gesprächspartner!

Ein verspieltes Reh im Rapsfeld – ein gern genommener Gesprächspartner!

„Das ist ja mal eine hilfreiche Beschreibung!“ meinte ich daraufhin trocken, „Ich bin ja jetzt schon verwirrt von den viele Gehirnstimmen in meinem Kopf, wie soll ich denn da jetzt noch die Rehstimme heraushören?“

“Du kannst ja mal versuchen, sie ausrufen zu lassen“, meinte Heiko scherzhaft.

„Du meinst so in etwa wie: Rehstimme, bitte zur Information! Rehstimme Bitte!“

Rehe im Wald

Rehe im Wald

Leider hat auch dies noch nicht so richtig funktionieren wollen, aber was nicht ist kann ja noch werden. Tendenziell würde ich sagen, dass es dabei um das Thema mit dem Selbst-Annehmen und dem Versagen geht, das mich gerade beschäftigt.

Die Botschaft des Fuchses

Etwas später begegneten wir einem Fuchs, der gleich zweimal direkt vor uns auf der Straße und dann quer über das Feld lief. Beim zweiten Mal kam er zurück und rannte direkt in seinen Bau, der sich nur wenige Meter vor uns in der Wegböschung befand. Noch nie zuvor habe ich einen Fuchs so lange und genau beim Laufen beobachten können. Er war wirklich wie ein Pfeil und bis auf wenige Sprünge, bei denen er Hindernisse überwinden musste, vollführte er eine gleitende Bewegung, durch die er fast mit seiner Umgebung verschmolz.

Neugierig schaut uns der Fuchs an.

Neugierig schaut uns der Fuchs an.

Die besondere Fähigkeit des Fuchses ist das Tricksen, Tarnen und Täuschen. Auch ihm geht es darum, die tieferliegende Wahrheit hinter einer oberflächlichen und verwirrenden Fassade zu entdecken. Ob sich auch dies wieder auf die Symptomatiken bezieht? Also darauf, zu erkennen, dass das, was offensichtlich schmerzhaft und negativ erscheint, eigentlich ein Bote für Heilung und Entwicklung ist. Gleichzeitig geht es auch darum, selbst zum Trickser zu werden und die Grenzen der Realität aufzuweichen, sodass man die alten Muster schließlich doch noch abstreifen kann.

Die Kirche unseres kleinen Übernachtungsdorfes

Die Kirche unseres kleinen Übernachtungsdorfes

Zu Gast im Hobbithaus

Am Mittag trafen wir den Bürgermeister eines kleinen Dorfes, der uns zu sich nach Hause einlud. Er war ein kleiner, weißhaariger Mann, der von seiner ganzen Art ein bisschen an einen Hobbit erinnerte. Seine Frau war Halbvietnamesin, hatte die gleiche Größe und passte auch sonst in jeder Hinsicht zu ihrem Mann. Die beiden lebten etwas außerhalb des Ortes in einem verwinkelten, alten Bauernhaus, dessen Türstöcke ungefähr auf der Höhe unsere Knie lagen. Es war voll gestellt mit lauter Erinnerungen, Artefakten und Mitbringseln aus aller Welt und doch wirkte es gemütlicher und wohnlicher als nahezu alle Häuser, die wir in letzter Zeit gesehen hatten. Oftmals gab es keine Türen, sondern nur Vorhänge, die Heizung funktionierte nicht, weshalb ausschließlich mit den Kaminen geheizt wurde und man musste permanent Obacht geben, sich nicht den Kopf zu stoßen. Kurz es war wirklich wie in einem Hobbithaus. Außer uns und unseren Gastgebern lebten hier zudem noch ein Papagei, der sprechen konnte, ein Hund, der ewig schlief und zwei Katzen, von denen die eine offensichtlich in meinem Zimmer wohnte.

schnell fliegender Bläuling

schnell fliegender Bläuling

Leider mussten Christian und seine Frau am Nachmittag arbeiten, weshalb wir noch einmal ins Rathaus zurückkehrten, wo wir uns im Bürgermeisterbüro niederließen. Es dauerte keine halbe Stunde, bis Heiko meinte: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals in so einem Büro gearbeitet haben soll! Es ist ja unmöglich, sich hier zu konzentrieren!“

Kleine, alte Steinkirche

Kleine, alte Steinkirche

Es stimmte. Dort lief der Kopierer, hier bereiteten drei Frauen die Weihnachtsdeko vor, da wurde umgebaut und permanent stiefelte jemand herein, der irgendetwas wollte. Es war nichts Großartiges oder übertriebenes, nur ein ganz normales Mehrpersonenbüro mit normalem Betrieb. Und doch war es kaum auszuhalten. Heiko fackelte daher nicht lange und wechselte seinen Arbeitsplatz nach draußen auf den Spielplatz, wo er sich regensicher unter ein Spielhäuschen setzte. Der Bereich war kaum 70 Zentimeter hoch und das einzige, an das man sich anlehnen konnte war eine scharfkantige Eisenplanke, die sich in den Rücken bohrte, aber es war trotzdem noch immer angenehmer hier, als im Büro.

Ich schaffte es zunächst noch, die Störungen auszublenden, spürte jedoch, dass ich immer müder und kraftloser wurde. Je mehr ich in den Halbdämmerzustand abglitt, desto lauter und bedrohlicher wurden die Stimmen und Störungen um mich herum. Schließlich musste auch ich raus und suchte mir einen Platz an einer Bushaltestelle, bis wir schließlich zurück ins Hobbithaus konnten.

Spruch des Tages: Folge der Rehstimme!

Höhenmeter 90m / 310m / 75m / 250m

Tagesetappe: 14km / 14km / 13km 17km

Gesamtstrecke: 26.737,27km

Wetter: herbstlich, kalt, bewölkt, nass, neblig, ungemütlich

Etappenziel 1: Jesuiten-Kloster, Trier, Deutschland

Etappenziel 2: Versammlungshaus der Ortsgemeinde, Kordel, Deutschland

Etappenziel 3: Hotel „Altes Pfarrhaus“ , Auw an der Kyll, Deutdchland

Etappenziel 4: Bürgerhaus der Stadt, Bittburg / Erdorf, Deutschland

14.11.2016

Bei den Gesprächen mit Eduard und Frida erfuhren wir viele neue und interessante, teilweise auch sehr bestürzende Dinge über Russland und seine Geschichte. Eduard Leben war sehr stark von dem Regime geprägt, das zu seiner Jugend in Russland herrschte und auch heute auf seine Art noch immer herrscht. Damals gab es in Russland genau das System, auf das wir uns nun ebenfalls wieder mit großer Begeisterung zubewegen. Es war ein System der totalen Überwachung, bei dem es keine Privatsphäre und auch keine Meinungsfreiheit gab. Natürlich nicht, weil man den Menschen etwas Böses wollte, keines Wegs! Nein, nur zu ihrem Schutz, denn man weiß ja nie, wo sich ein Staatsfeind versteckt, der allen anderen das schöne, sichere Leben kaputt machen will. Jeder könnte schließlich ein Verbrecher oder Verräter sein, so wie heute auch jeder ein Terrorist sein könnte. Um das Volk also zu schützen musste man es überwachen und stets kontrollieren, dass alles seine Richtigkeit hatte. Die Stasi hatte ihre Augen und Ohren überall und das nicht nur in Form von Abhörgeräten und Kameras, sondern vor allem auch durch versteckte Mitarbeiter, die entweder eingeschüchtert wurden oder die man von der Wichtigkeit der Sache überzeugen konnte. Jeder Fremde konnte also ein geheimer Spitzel der Stasi sein, aber auch jeder Freund, jeder Verwandte und jeder Kollege. Selbst Menschen, die man seit der Kindheit kannte, konnte man nicht trauen, da man nie wusste, ob und wann es der Stasi gelang, irgendjemanden umzudrehen. Die Regierung hatte letztlich also Recht behalten. Man konnte wirklich niemandem trauen und musste extrem vorsichtig sein. Nur war das Monster, von dem diese Gefahr ausging kein Feind im Außen, sondern der eigene Staat selbst.

 

Solange man eine systemtreue Marionette war und stets alles tat was man tun sollte, ohne etwas zu hinterfragen, zu kommentieren oder sich gegen irgendetwas aufzulehnen, solange war es kein Problem. Problematisch wurde es dann, wenn man einen Fehler beging oder das Regime in irgendeiner Weise ankreidete und wenn es nur durch eine scherzhafte Anekdote war. Genau diesen Fehler hatte Eduards Vater begangen und das ausgerechnet in dem Jahr, in dem seine Mutter mit ihm schwanger war. Die Folge war das, was man bei uns mit sanften Worten als „Übertriebene Härte“ bezeichnen würde. Obwohl er nichts getan hatte, als ein kurzes scherzhaftes Kommentar abzugeben, an einer Stelle, an der jemand mithören konnte, der nicht hätte mithören sollen, wurde er zu 25 Jahren Haft verurteilt. Haft bedeutete in diesem Fall jedoch nicht Gefängnisstrafe, so wie wir sie uns vorstellen. Es bedeutete, dass man in ein sibirisches Gefangenenlager abtransportiert wurde. Dass dies kein Zuckerschlecken war ist allgemein bekannt, doch im Allgemeinen ist uns nicht bewusst, dass diese Lager genauso schlimm waren wie die Konzentrationslager im dritten Reich. Eduards Vater hatte Glück, denn er wurde bereits nach 10 Jahren wieder entlassen und konnte als gebrochener Mann zu seiner Familie zurückkehren.

 

Dies war das erste Mal, das Eduard seinen Vater zu Gesicht bekam und mit ihm sprechen konnte. Später erfuhr er von ihm auch einige Details über das Leben im Gefangenenlager. Die Lager befanden sich mitten in der sibirischen Wildnis, also an einem Ort, an dem die Gefahr, das jemand entkommen konnte, gegen Null ging. Die Gefangenen wurden mit 200 Mann in Baracken zusammengepfercht, die eigentlich für maximal 20 Personen ausgelegt waren, sie mussten bis zur vollkommenen Erschöpfung arbeiten, bekamen nur wenig zum Essen und hatten keinerlei medizinische Versorgung. Selbst wenn es einer von ihnen aus dem Lager herausschaffte, hatte er kaum eine Chance, unter diesen Umständen die Kälte in der Freiheit zu überleben. Anders als bei den Nazis war hier in diesen Lagern eine bewusste Massentötung durch Gaskammern einfach nicht nötig. Es war nicht so, dass sie nicht gewünscht war oder dass man hier humaner mit den Menschen umging. Nein, man brauchte einfach keine Gaskammern, weil die Gefangenen ganz von alleine starben. Das was in Auschwitz das Giftgas war, war hier die Kälte. Jeden Monat kam ein Viehtransporter im Lager an, dessen Wagons mit rund 1000 neuen Insassen befüllt waren. Trotzdem stieg die Zahl der Gefangenen niemals an. Diese 1000 Neuankömmlinge füllten lediglich die Lücken wieder auf, die innerhalb der letzten 30 Tage entstanden waren. Jeden Morgen mussten die Gefangenen zur Sichtung, also gewissermaßen zur Inventur antreten.

Jeder der nicht erschien, war höchst wahrscheinlich in der Nacht gestorben. Die Wachmänner durchsuchten dann die Zimmer und schliffen die Leichen an den Beinen hinaus in den Hof. Dort wurden sie splitternackt ausgezogen und dann auf einen großen Wagen geschichtet. Man legte sie stets so hin, dass die Köpfe jeweils links und rechts vom Wagen herunterschauten. Dann fuhr der Wagen aus dem Lager heraus in einen Zwischenbereich, der sich zwischen dem inneren und dem äußeren Zaun befand. Hier hielt er noch einmal an und es kam zu einer Prozedur, die mir noch immer eine Gänsehaut über den Rücken jagt, wenn ich daran denke. Die Wachposten konnten sich ja nicht sicher sein, ob die Leichen, die sie hinaus schliffen auch wirklich tot waren, oder ob sie nur so taten, weil sie hofften, vielleicht fliehen zu können. Die erste Maßnahme um diesen Fluchtweg zu verbauen war es, ihnen die Kleider zu nehmen, damit sie so schnell wie möglich erfroren. Die zweite folgte nun und zwar zur Abschreckung vor den Augen aller Gefangenen. Einer der obersten Befehlshaber ging mit einem schweren Prügel, der mit einem Hammer vergleichbar war auf den Wagen zu und schlug damit jeder Leiche einzeln den Kopf ein. Selbst wenn ein Gefangener alles andere überlebt hätte und sich wirklich nur tot stellte, das überlebte er auf keinen Fall.

Jeden Nachmittag musste ein Teil der Gefangenen ein großes Loch in den Schnee graben. Dieser lag meistens rund fünf Meter hoch, so dass man genügend Platz hatte, ohne in den gefrorenen Boden graben zu müssen. In dieses Loch wurden dann die Leichen gekippt. Das war alles. Es wurde nicht einmal wieder zugescharrt. Oftmals konnte Eduards Vater beobachten, wie die Tiere, die um das Lager herum lebten, einige der Leichen wieder aus ihren kalten Gräbern zerrten und an ihnen herum knabberten. Wirklich schlimm wurde es aber erst gegen Ende des Frühlings, denn dann begann der Schnee zu schmelzen und gab den Blick auf die unzähligen Leichenberge frei, die sich wie ein Wall aus Menschenleibern um das Lager herum auftürmten. All dies ist letztlich nicht anders vor allem aber nicht weniger grausam als das, was unter dem Nazi-Regime geschah und doch empfinden wir das eine als größtes Verbrechen der gesamten Menschheitsgeschichte, während wir dem anderen kaum Beachtung schenken. Ist das nicht seltsam?

Eduards Großvater erlitt ein ähnliches Schicksal, welches er jedoch nicht überlebte. Er was der Pfarrer in einer kleinen Gemeinde und wurde abtransportiert, als der Staat die Kirche und jede Form des Glaubens verbot. Nach seiner Rückkehr lebte er einige Zeit wieder bei seiner Familie, wollte und konnte seinen Glauben und seine Berufung aber nicht vollkommen aufgeben und so wurde er schließlich ein zweites Mal verhaftet. Dieses Mal kehrte er nicht zurück. Eduard selbst lernte seinen Großvater nie kennen, doch die tiefe Verbindung zum Glauben und die Gewissheit, für seine Überzeugungen einstehen zu wollen und zu müssen, egal was es auch für Konsequenzen hatte, die hatte er von ihm übernommen. Nachdem er eine Tischlerlehre gemacht hatte, studierte auch er Theologie und wurde Pfarrer. Das Stalin-Regime war nun bereits nicht mehr so aktiv, wie zuvor und die Strafen dafür, dass man seinen Glauben lebte, waren nicht mehr ganz so hoch. Doch auch Eduard bekam die Konsequenzen zu spüren. Während seiner Militärzeit arbeitete er in einer Baueinheit, da er keine Waffe bedienen wollte. Die Adventualische Kirche feiert den Samstag als heiligen Feiertag und verbietet ihren Mitgliedern hier das Arbeiten. Um das zu achten bat er seine vorgesetzten, von Freitag nach Sonnenuntergang bis Sonntag zum Sonnenaufgang vom Dienst befreit zu werden. Eine Weile ging dies gut, aber dann kamen einige andere Diensthabende dahinter, die mit der Lösung nicht so einverstanden waren. Er wurde nicht bestraft und er blieb auch weiterhin vom Dienst befreit, aber er musste in der Zeit, in der die anderen arbeiteten draußen in der Kälte stehen und auf sie warten. Als er anschließend zurück in die Kaserne kam, war er so ausgekühlt, dass er bis zum nächsten Morgen nicht mehr warm wurde. Es war bei weitem nicht so schlimm, wie das, was seine Vorfahren im Lager durchmachen mussten, aber er hatte nun eine Idee davon, was er heißt, kurz vor dem Erfrierungstod zu sein.

Einige Jahre später zerfiel die Sowjetunion und Usbekistan machte sich vom Rest Russlands unabhängig. Für einen Moment sah es so aus, als würde sich damit alles zum Guten wenden doch dann stellte sich heraus, dass die neue usbekische Regierung sofort in ein anderes Extrem umschlug. Von einem Tag auf den anderen wurden alle Russen aus höheren Posten entlassen und russisch wurde als Sprache vollkommen aus dem Programm entfernt. Zu den höheren Posten zählten auch alle Lehrer, die nun durch usbekische Kräfte ersetzt wurden. Das Problem war nur, dass es so gut wie keine ausgebildeten usbekischen Lehrer gab. Die Kinder gingen nun also zur Schule, wurden dort aber nicht mehr unterrichtet. Da aber auch die meisten Professoren Russen waren, gab es nun auch keine Ausbildung für Lehrer mehr, wodurch sich die Lage in absehbarer Zeit nicht verbessern konnte. Dies war für Eduard und Frida der Punkt gewesen, an dem sie beschlossen hatten ihre Heimat zu verlassen und nach Deutschland zu ziehen. Ihre Vorväter waren ohnehin aus Deutschland nach Russland ausgewandert und sie besaßen noch immer die Deutsche Staatsbürgerschaft. So waren sie schließlich zum Bodensee gelangt, wo sie bis heute wohnen. Nach einem ausgedehnten und sehr interessanten Frühstücksgespräch machten wir uns wieder auf die Beine und wanderten weiter am Ufer des Bodensees entlang. Die ersten 6km legten wir in Deutschland zurück, dann erreichten wir die österreichische Grenze, mit der auch wir unsere Heimat wieder einmal hinter uns ließen. Ein wenig sonderbar fühlte es sich schon an, aber es war auch ein gutes Gefühl, nun wieder die weite Welt vor uns zu haben.

In Bregens bekamen wir sofort und vollkommen unkomplex ein Zimmer im Kolpinghaus, was es uns ermöglichte, uns ganz in Ruhe die Stadt anzusehen. Dabei wurden wir dann allerdings auf die härteste Prüfung dieser Woche gestellt. Bregens hat ein Thermalbad mit einer kompletten Saunalandschaft und wir hatten den gesamten Nachmittag Zeit, um dies zu nutzen. Das Wetter war perfekt, denn es war nun so kalt, dass einem sogar der Atem in der Nase einfror. Voller Vorfreude stürmten wir auf die Eingangshalle zu und in Gedanken sahen wir uns schon schwitzend in der Sauna sitzen. Dann aber kam die Ernüchterung: „Montags geschlossen!“ Verdammt! Wieso mussten wir gerade an einem Montag hier ankommen? Es war nun bereits die dritte Therme in diesem Winter auf die wir uns gefreut hatten und die uns letztlich doch nichts nützte. Irgendetwas wollte offenbar verhindern, dass wir in die Sauna gingen. Sicher hatte es einen guten Grund und wahrscheinlich war es auch wirklich keine gute Idee, bei diesem Wetter in die Sauna und anschließend in die Berge zu gehen. Aber es fiel uns dennoch schwer, es zu akzeptieren.

Spruch des Tages: Die Höchste Form menschlicher Intelligenz ist zu beobachten ohne zu bewerten. (Krishnamurti)

Höhenmeter: 90 m Tagesetappe: 21 km Gesamtstrecke: 19.246,27 km Wetter: Teils Sonnig, teils bewölkt bei 15°C

Etappenziel: Gemeindesaal der reformierten Kirche, 8872 Weesen, Schweiz

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13.11.2016

Im Moment fühlt sich unsere Reise immer wieder fast wie ein Pauschalurlaub an. „14 Tage Rundreise zu den Sehenswürdigkeiten in Deutschlands Süden“ könnte man es nennen und man müsste an der Reiseroute nichts verändern. Klar ist es touristisch und daher oft auch ein bisschen nervig oder anstrengend, dafür ist es aber auch absolut sehenswert und man kann sehr gut nachvollziehen, warum dieser Jakobsweg ausgerechnet hier entlang gelegt wurde. Heute hatten wir dabei eine der wahrscheinlich schönsten Streckenabschnitte. Der Weg von Friedrichshafen nach Lindau führte immer mehr oder minder direkt am Ufer des Bodensees entlang. Der Nebel, der gestern das ganz Tal verschleiert hatte, so dass man den Eindruck bekam, der See sei ein Meer, dessen anderes Ufer weit hinter dem Horizont verborgen lag, hatte sich heute verzogen.

Dadurch wurde der Blick auf die Alpen frei, die bis weit ins Tal hinunter von einer dicken Schneeschicht überzogen waren. Der Anblick weckte gemischte Gefühle in uns. Auf der einen Seite sah es wunderschön und malerisch aus und es weckte eine tiefe Lust in mir, im Schnee zu spielen und mit den Füßen durch die weiße Wunderwelt zu stapfen. Auf der anderen Seite machte der Gedanke, dass wir eine Alpenüberquerung vor uns hatten aber auch reichlich Pippi in den Augen. Das was wir sahen waren gerade einmal die letzten Ausläufer der Alpen, die niedrigsten Berge also, die das Gebirge zu bieten hatte und von hier aus blickten wir auch noch auf Hänge, die einen Großteil des Tages Sonne abbekamen. Wenn diese schon so sehr mit Schnee bedeckt waren, was würde uns dann erst im Zentralmassiv erwarten? War es überhaupt möglich, die Alpen um diese Jahreszeit zu Fuß und mit Pilgerwagen zu durchqueren? Es war sicher nicht die schlauste Idee, die wir je hatten, aber gerade deshalb war es auch so reizvoll. Die Berge flößten uns einen mächtigen Respekt ein, aber sie hatten auch eine immense Anziehungskraft, die uns wie magisch in ihren Bann zog.

Lindau selbst war nett, aber nicht so überragend und spektakulär, wie wir es in Erinnerung hatten. Das besondere an der kleinen Stadt war vor allem ihre Lage. Wäre die Stadt irgendwo anders auf dem Festland gelegen, würde sie kein Mensch auch nur mit dem Hintern anschauen. Aber als Inselstadt hatte sie natürlich ihren Reiz. Etwas bestürzt mussten wir jedoch feststellen, dass auch hier die Altstadt über eine stark befahrene Hauptstraße mit dem Festland verbunden war. Genau so, wie es in Süditalien der Fall gewesen war. Damals waren wir schockiert darüber, dass die Italiener so wenig Respekt vor ihren eigenen Kulturgütern hatten, dass sie eine so schöne Stadt mit so viel hässlichem und lautem Verkehr verschandelten. Wie um alles in der Welt konnten sie das nur tun? Jetzt wurde uns klar, dass wir in dieser Beziehung keinen Deut besser waren. Wir Menschen mögen einfach keine ruhigen, schönen Orte. Darin unterscheiden wir uns alle nicht.

Als wir uns Deutschland zum Überwintern ausgewählt hatten, war eine unserer Hauptmotivationen das sichere System mit den Unterkünften bei der Kirche. Wir waren uns einfach sicher, dass in Deutschland jeder oder zumindest fast jeder Pfarrer einen Pilger für eine Nacht aufnehmen würde. Wenn wir nun noch einmal zurück blickten, mussten wir jedoch feststellen, dass die Quote dieses mal relativ erbärmlich war. In den letzten zwei Wochen hatten wir nur ein wenige Male bei der Kirche übernachtet. In den meisten Fällen war ein Pfarrer nicht einmal auffindbar gewesen und in vielen anderen hatte er uns abgewiesen. So erging es uns auch heute und wieder war die Begründung, dass der Aufwand zu hoch, die Räume dafür ungeeignet und die Unsicherheit, dass wir versteckte Schwerverbrecher sein könnten, zu groß war. Das dicht gestrickte, soziale und humanitäre Netzwerk, auf das wir so stolz waren, ließ also doch eher zu wünschen übrig. Auch unsere Pfarrer waren durchaus bereit, einen Wanderer, der sich auf einer Glaubensreise befand, in der Kälte und im Regen stehen zu lassen. In Italien hatten wir dies oftmals unfassbar gefunden und dabei muss man sagen, dass es dort wenigstens noch warm genug war, um notfalls zelten zu können. Hier fielen die Temperaturen nachts teilweise bereits deutlich unter den Gefrierpunkt und doch schickten uns die Pfarrer vollkommen ungerührt fort. Das einzige Kommentar heute lautete: „Ihr werdet schon irgendwas finden!“ Damit schloss er die Tür, auf der ein großes Plakat mit der Aufschrift: „Unsere Identität: Barmherzigkeit!“ klebte. Das nenne ich mal Ironie!

Natürlich hatte der Pfarrer Recht und es dauerte keine 20 Minuten, bis wir einen warmen Platz fanden, doch davon konnte er ja eigentlich nicht ausgehen. In diesem Fall war es ein russisches Pärchen, das der Gemeinde der Adventskirche angehörte. Diese hatte ihr Gemeindehaus nur wenige Meter von der evangelischen Kirche entfernt, was uns direkt zum Klingeln einlud. Anders als der Pfarrer zuvor war der Mann, der uns hier öffnete ein offener und herzlicher Zeitgenosse. Beide Männer hatten eines gemeinsam: Es wäre vollkommen egal gewesen, wer an ihrer Tür klingelte, sie hätten immer genau gleich reagiert. Der Pfarrer hätte jeden abgewiesen und dieser Mann hätte jedem geholfen. Der erste Impuls war es, uns in den Räumen der Kirchengemeinde unterzubringen, doch die hatte man einige Jahre zuvor abgerissen. Es gab nur noch einen Gebetsraum im Erdgeschoss, der sich als Schlafraum anbot. Dafür aber brauchten wir die Einverständniserklärung des Gemeindevorstandes. „Wie immer!“ kommentierte der Mann trocken, nachdem er versucht hatte, die Verantwortlichen telefonisch zu erreichen, „Wenn man einen Chef anrufen will, ist er nie erreichbar, das ist wohl überall auf der Welt und bei jedem Chef das gleiche!“

Er hatte jedoch sofort eine Alternativlösung parat und lud uns zu sich in die Wohnung in ein Gästezimmer ein. Seine Frau war sogar schon dabei, es vorzubereiten. Wieder einmal waren wir fasziniert davon, wie unterschiedlich wir Menschen waren. Für den einen war es zu viel, einen leeren Jugendgemeinderaum bereit zu stellen, weil wir ja etwas kaputt machen könnten, die anderen luden uns in ihre Wohnung ein, ohne uns zuvor auch nur gesehen zu haben und ohne irgendetwas über uns zu wissen. „Es ist doch schade, wie viel man sich selbst kaputt macht, wenn man nicht offen ist!“ meinte unsere Gastgeberin später beim Essen. Sie erzählten uns dabei von einer Geschichte, die sie vor vielen Jahren in Russland erlebt hatten. Damals hatten sie in einem kleinen Dorf im heutigen Usbekistan gelebt. Eines Tages war eine der Nonnen in die Gemeinde gekommen und hatte einen vollkommen verwahrlosten Mann mitgebracht.

Er hatte einen verkrüppelten Arm, trug zerrissene Kleider, war halb verhungert und stank erbärmlich. Die Nonne erklärte, dass sie diesen Mann auf der Straße gefunden habe, er sei Obdachlos und würde den Winter ohne Hilfe sicher nicht überleben, weshalb sie fragte, ob irgendjemand bereit war, dem Mann für eine Weile Unterschlupf zu gewähren. Eduard und Frida, so hießen unsere Gastgeber, waren die Einzigen, die ja sagten und so zog der Mann für einen guten Monat zu ihnen. Sie päppelten ihn wieder auf, besorgten ihm neue Kleider, aßen gemeinsam und führten viele interessante Gespräche mit ihm. Eines Tages jedoch wühlte einer der Nachbarn, dem der Fremde nicht geheuer war, in dessen Vergangenheit herum, und fand heraus, dass er ein professioneller Taschendieb war. So jemand durfte sich hier im Ort natürlich nicht aufhalten! Eduard hingegen nahm die Information auf, ohne darüber zu urteilen und sprach den Gast auf das Thema an. Dieser erzählte offen und ehrlich von seiner Vergangenheit und seiner diebischen Karriere. Gerade der verkrüppelte Arm war dabei stets sein bestes Werkzeug gewesen, denn niemand vermutete, dass er damit in der Lage war, heimlich in eine Tasche zu greifen. Am Ende waren es zwei Punkte, die Eduard ihm klar und deutlich mitteilte: „Solange du in unserem Haus wohnst, bist du ein Teil unserer Familie und wir werden nicht zulassen, dass dich jemand aufgrund deiner Vergangenheit angreift oder dir Schwierigkeiten bereitet. Solltest du aber je auf die Idee kommen, irgendetwas von uns zu stehlen, werde ich dich höchst persönlich vom Hof jagen und glaub mir, dass wird kein Vergnügen!“

Der Mann entgegnete beruhigend: „Da brauchst du dir keine Sorgen machen! Unter uns Taschendieben gibt es einen Ehrenkodex, gegen den wir nicht verstoßen. Dazu gehört auch, dass wir niemals die Menschen beklauen, bei denen wir leben oder die uns auf irgendeine Weise etwas gutes tun. Wenn ein Dieb dagegen verstößt und die anderen bekommen das mit, dann wird er von ihnen dafür bestraft und das bedeutet in der Regel, dass man sein Leben verliert. Glaub mir, mein Leben ist zwar beschissen, aber es ist mir trotzdem lieb genug, dass ich keine Lust habe, mich umbringen zu lassen. Selbst wenn ich es wollte, was ich definitiv nicht will, würde ich allein deswegen niemals etwas von dir stehlen.“ Der Mann wohnte noch mehrere Tage bei Eduard und seiner Frau, bis der Bürgermeister kam und ihm drohte, die Polizei zu rufen, wenn der er den Dieb nicht verjagen würde. Eduard stand weiter für den Gast ein, berichtete ihm aber von der drohenden Gefahr einer Verhaftung. Dennoch entschied er sich dafür zu bleiben, was letztlich keine besonders gute Idee war. Wenige Tage später kam die Polizei wirklich und holte den Mann ab. Die Beamten zeigten Eduard eine lange Liste mit verschiedensten Verbrechen, die dem Gast vorgeworfen wurden. Ob er diese wirklich begangen hatte oder nicht, konnte er nicht sagen, doch letztlich musste er sich der Staatsgewalt beugen. Was später aus dem Mann wurde, erfuhr er leider nie.

Eduard selbst hatte seit drei Jahren starke Probleme mit seinen Muskeln, die ihm fast am ganzen Körper so stark schmerzten, dass er teilweise weder stehen, noch liegen, noch sitzen konnte. Es war inzwischen wieder deutlich besser geworden, unter anderem dank der intensiven Massagearbeit seiner Frau. Dennoch hatte er noch immer keine Ahnung, woher diese Schmerzen kamen, denn die Ärzte konnten ihm hierüber keine Auskunft geben. Grund genug also, um ein längeres Anamnese-Gespräch zu führen und am Ende konnten wir tatsächlich eine längere Liste mit Therapieformen und Heilungsansätzen zusammenstellen. Seine Frau hatte also Recht gehabt. Man weiß nie, was man sich selbst wegnimmt, wenn man sich verschließt.

Spruch des Tages: Jeder, der vor deiner Tür steht, könnte ein Geschenk des Himmels sein

Höhenmeter: 45 m Tagesetappe: 19 km Gesamtstrecke: 19.225,27 km Wetter: Dauerregen von morgens bis Abends Etappenziel: Praxisraum im evangelischen Pfarrhaus, Walenstadt, Schweiz

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Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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