Tag 697: Mit Waffen spielt man nicht

von Heiko Gärtner
01.12.2015 16:49 Uhr

Als ich schließlich alles erledigt hatte, war es schon kurz nach vier Uhr morgens. Ich legte mich hin und obwohl ich hundemüde war, konnte ich nicht gleich einschlafen. Meine Füße waren kalt und irgendwie war ich wohl noch zu sehr aufgewühlt. Dementsprechend wurde die Nacht für mich nicht ganz so erholsam, wie ich gehofft hatte, aber gelohnt hatte sie sich trotzdem. Ich schaffte fast alles, was ich hatte erledigen wollen und Heiko fühlte sich am Morgen wieder deutlich besser. Sein Magen war noch immer etwas empfindlich, aber ansonsten ging es ihm wieder gut.

Der Tag wurde brütend heiß, genau wie der letzte, nur dass wir es dieses Mal mitbekamen. Schatten gab es wenig und da man die Hitze noch mehr spürte, wenn man stehen blieb, wanderten wir weiter und weiter. Das was wir in den letzten Tagen nicht gewandert waren, holten wir nun an einem einzigen Tag nach. Schließlich erreichten wir dadurch sogar das Ende der Flachebene und gelangten in die Berge, die die Grenze zwischen dem Kosovo und Mazedonien markierten.

In einem kleinen Dorf kamen wir an so etwas ähnliches wie eine Einkaufsstraße. Dort fragten wir nach Wasser und etwas Nahrung, wobei wir unter anderem zwei Feldverpflegungspakete des albanischen Militärs geschenkt bekamen.

Als wir schließlich den Pass erreichten, suchten wir uns nach einem Schlafplatz um. Zum ersten Mal in diesem Land waren wir an einer Bar vorbei gekommen, in der auch Alkohol getrunken wurde und einige der Gäste hatten ausgesehen, als wollten sie noch länger Party machen. Daher brauchten wir einen Platz, der wieder deutlich geschützter war und bei dem wir uns sicher sein konnten, nicht von nächtlichen Trunkenbolden überrannt zu werden.

Gerade als wir glaubten, einen geeigneten Platz gefunden zu haben, stolperten wir über eine Picknickgesellschaft. Es war eine Familie mit drei oder vier Männern, ihren Frauen und einigen Kindern.

„Mirëdita!“ rief einer der Männer und als er merkte, dass wir Deutsch und Englisch sprachen lud er uns ein, am Picknick teilzunehmen. Wir bekamen wieder das pfannkuchenartige Gebäck und dazu einige gegrillte Hähnchenschenkel, sowie eingelegte Peperoni. Eine der Frauen sprach ebenfalls Englisch und nachdem wir uns eine Weile über unsere Reise und alles mögliche unterhalten haben, fiel das Gesprächsthema auf die Situation in Syrien und auf den Flüchtlingsstrom, der nach Europa kam. Schon einige Male hatten wir von Einheimischen hier zulande gehört, dass die Flüchtlingssituation problematisch sei. Wir hatten bislang jedoch nie verstanden warum, denn der Kosovo war ja eigentlich nicht davon betroffen. Dieses Mal verstanden wir es jedoch. Seit dem Kosovokrieg lebten noch immer viele Kosovoalbaner in Deutschland, weil ihr Asylrecht noch immer bestand hatte. Nun, da die Flüchtlinge aus Syrien in die Bundesrepublik kamen, wurden alle alten Asylanträge noch einmal geprüft um herauszufinden, ob sie überhaupt noch benötigt wurden. Um Platz für die neuen brauchte, mussten die alten also größtenteils wieder ausreisen, was ja an sich auch nicht verwerflich war, da der sich Konflikt im Kosovo ja bereits vor Jahren wieder beruhigt hatte. Das Asylrecht war ursprünglich dafür gedacht, Menschen in einer akuten Notsituation in ihrem Land Zuflucht zu gewähren. Doch für die Kosovoalbaner stellte sich die Situation etwas anders da. Für sie war Deutschland eine Möglichkeit, aus dem hiesigen System auszubrechen und ihre Familien mit finanziellen Mitteln zu versorgen, die sie sonst nie aufbringen würden. Darüber, dass diese Möglichkeit nun plötzlich wegfiel, waren sie natürlich überhaupt nicht begeistert.

Auch das Gespräch mit dem Mann, der uns eingeladen hatte, war auf seine Art und Weise einzigartig und interessant. Er war Polizist und obwohl er zurzeit nicht im Dienst war, trug er dennoch seine Waffe bei sich. Es war eine Glock und als Heiko ihn darauf ansprach holte er sie hervor und präsentierte sie stolz.

Heiko kannte sich durch seinen Jagdschein, den er vor einigen Jahren als Zulassungsvoraussetzung für seine Ausbildung zum Nationalparkranger machen musste, ein bisschen mit Waffen aus und konnte den Mann daher einige technische Details fragen, von denen ich nichts verstand. Begeistert vom Interesse des Fremden drückte der Polizist Heiko die Knarre in die Hand und ließ ihn ein wenig damit herumspielen.

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„Im Magazin sind 14 Patronen, plus eine im Lauf. Man kann also fünfzehnt Schuss auf ein Mal abfeuern, bevor man nachladen muss“, erklärte der Polizist und gab Heiko daraufhin auch noch das Magazin.

„Keine Angst!“ fügte er hinzu, als er meinen leicht irritierten Blick bemerkte, „Sie ist nicht geladen.“

„Darf ich auch mal?“ fragte ich, denn langsam hatte mich die Neugier gepackt. Noch nie zuvor hatte ich eine echte Pistole in der Hand gehabt.

„Klar!“ antwortete der Mann und reichte mir die Knarre. „Mein Sohn spielt auch immer damit!“

Ich wog sie ein bisschen in der Hand. Sie war recht schwer, aber auch wieder nicht so schwer, wie ich vermutet hätte. An sich war es nichts Besonderes, aber ein komisches Gefühl machte es dennoch. Rein theoretisch konnte ich nun einen Menschen töten, in dem ich nun nur noch meinen Zeigefinger bewegte. Irgendwie machte mich der Gedanke etwas nervös. War sie wirklich ungeladen?

„Vorsicht!“ rief der Polizist, als ich den oberen Teil der Waffe zurück schob, so wie die Cops es im Fernsehen immer machen, wenn sie sich auf einen Schussvorbereiten. Erschrocken wich ich zurück und nahm die Finger von der Waffe.

„Nein, nein, es passiert nichts!“ beruhigte er mich, „du musst nur aufpassen, dass du dir nicht die Finger klemmst, denn du durchlädst. Schau hier!“

Er deutete auf eine Stelle am Schieber und demonstrierte, wie leicht es war, die Haut der eigenen Finger von der Waffe einsaugen zu lassen. Es sei ihm schon einige Male passiert und tue wirklich weh, erklärte er dabei. Dann steckte er die Pistole wieder ein und wir wechselten das Thema.

Unter anderem sprachen wir auch über die Wasserqualität und dem vielen Müll hierzulande. Dies sei ein riesiges Problem, pflichteten uns alle Anwesenden bei. Die Leute hätten einfach kein Gefühl für Sauberkeit und würden leider überall ihren Müll liegen lassen. Es sei traurig, aber man könne es leider nicht ändern. Zum Glück jedoch war es hier oben in den Bergen noch relativ sauber, deswegen könne man hier auch das Wasser noch ohne Bedenken trinken.

Keine fünf Minuten später lösten wir die Picknickrunde auf und verabschiedeten uns. Die anderen packten alles zusammen, was noch verwertbar war und ließen den Müll, den sie durch ihr Picknick verursacht hatten einfach achtlos zurück. Wir konnten es nicht fassen.

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Nachdem wir unser Zelt schließlich an einem sicheren Ort aufgebaut hatten, machten wir uns noch einmal an eine Reparatur unserer Wagen. Es sollte keine große Sache werden, vielleicht ein paar Minuten, nur um die Bremsen zu reparieren, bevor es morgen dann hinunter ins Tal ging. Doch so leicht es sich zunächst angehört hatte, so komplex gestaltete sich schließlich alles. Meine Steckachsen waren angerostet, weil unsere Distanzscheiben nicht so Rostfrei waren, wie sie es hätten sein sollen. Das Ergebnis war, dass sie sich nicht mehr aus der Achse lösen wollten und wir die komplette Bremsanlage abbauen mussten, bevor wir die Reifen demontieren konnten. Anschließend verbrachte Heiko über eine Stunde damit, die Reifen von den Steckachsen zu trennen, während ich mich um die Erneuerung der Bremsscheiben kümmerte. Fast schon sah es so aus, als würde es nicht funktionieren. Ich traute mich kaum, mir auszumalen, was das für meinen Wagen bedeutet hätte, doch schließlich machte es Plopp und die Achse war wieder frei. Nur dämmerte es nun bereits, so dass wir nicht mehr die Möglichkeit hatten, meinen Wagen auch wieder zusammenzubauen. Wir mussten ihn liegen lassen und warten bis es am Morgen wieder hell werden würde. Auch zum Kochen war es nun etwas zu spät. Gut also das wir heute schon einiges gegessen hatten und dass man uns gerade an diesem Tag mit einem Militäressen versorgt hatte. Dieses war, wenn man der Verpackung glauben schenkte, innerhalb von Sekunden vollkommen unkomplex zubereitet, so dass es jeder Depp konnte. Genau richtig fürs Militär also. Dummerweise verstanden wir einen Teil der Anleitung nicht und stellten uns daher noch etwas deppiger an, als es von den Entwicklern dieser Notnahrung erwartet worden war. Am Ende erhielten wir ein lauwarmes Fertiggericht, mit dem man sogar die Müllhunde hätte vertreiben können. Spannend war es trotzdem, vor allem um einmal festzustellen, was von Seiten des Militärs unter sinnvoller Powernahrung für Soldaten verstanden wurde. Das Päckchen bestand zu gut 60% auf Verpackungsmaterial, Plastikbesteck und Frischtüchern. Der Rest teilte sich in eine Portion Chili-Con-Carne, ein Päckchen Erdnussbutter, verschiedene Sorten von Keksen und Kräckern, ein Pulver für ein Süßgetränk und eine Portion mit Vitamin-Präparaten in Pulverform auf. Bis auf die Erdnussbutter entsprach alles dem Ruf, der dem Militäressen vorauseilte. Um das Essen zu erwärmen, musste man einen kleinen Schluck Wasser in eine Tüte mit einer Chemikalie gießen, die daraufhin anfing zu reagieren und alles um sie herum erwärmte. Dann kam die Tüte mit dem Essen hinein und man wartete, bis es eine Temperatur von lauem Urin erreicht hatte. Guten Appetit!

 

 

Spruch des Tages: Mit Waffen spielt man nicht! Oder doch?

 

Höhenmeter: 450 m

Tagesetappe: 9 km

Gesamtstrecke: 12.435,27 km

Wetter: sonnig und bewölkt im Wechsel

Etappenziel: Altes Pfarrhaus, 87060 Caloveto, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Durch den Terror, den Heikos Magen-Darm-Trakt veranstaltete, wurden wir etwas vorsichtiger, was das Trinkwasser anbelangte. Die Einheimischen mochten das Wasser aus den Leitungen ja trinken, doch für uns war es vielleicht nicht so hundert prozentig geeignet. Immerhin kam es aus Wasserspeichern, die ebenso mit Müll umgeben waren, wie alles andere auch. Doch der Versuch, das Leitungswasser zu umgehen, stellte mich vor eine neue Herausforderung, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so besonders klingt, die aber doch größer wurde, als ich dachte. Ich musste Läden finden, in denen man Flaschenwasser bekam. Ideal war es natürlich, es geschenkt zu bekommen, doch da es im Umkreis von fünf Kilometern in der Regel gerade einmal einen einzigen kleinen Verkaufsstand gab, der überhaupt Wasser im Angebot hatte, konnte ich das Risiko abgelehnt zu werden kaum eingehen. Noch wenige Tage zuvor hätte ich jeden ausgelacht, wenn er mir gesagt hätte, dass Wasser einmal deutlich schwieriger zu bekommen sei, als Essen und dass wir dafür mehr Geld ausgeben werden, als wird insgesamt im Balkan für unsere Nahrung gebraucht hatten.

Wie sich herausstellte war das Wasser aber nicht unser einziges Problem. Heiko war noch immer schlecht und die permanente Hitze, sowie die kurzen, unruhigen Nächte machten wenig Hoffnung darauf, dass er sich richtig regenerieren würde, wenn wir einfach so weiter machten. Irgendwie mussten wir es schaffen, einmal einen Ruhetag einzulegen, der wirklich Entspannung brachte und nicht nur ein Ausharren in Hitze und Müllgestank. Wir brauchten ein Hotel oder etwas vergleichbares um wieder einmal zu uns zu kommen, um uns duschen, waschen und ausruhen zu können und um wieder einmal in einem richtigen Bett zu schlafen. Die Frage war nur: Wo konnten wir so einen Ort finden?

Die Erfahrung der letzten Tage hatte gezeigt, dass wenn es überhaupt eine Chance auf einen Indoorschlafplatz gab, wir diese an einer der Hauptstraßen finden würden. Etwa fünf Kilometer von unserem Standort entfernt mussten wir ohnehin eine überqueren, also beschlossen wir, dort unser Glück zu versuchen.

Wir hatten sogar noch etwas mehr Glück, als wir zuvor erwartet hätten. Denn das erste Hotel auf unserem Weg lag sogar bereits kurz vor der Hauptstraße und es war so weit davon entfernt dass man den Verkehrslärm hier noch nicht hörte.

Leider war der Chef des Hotels nicht anwesend, weshalb man uns keinen Schlafplatz gegen eine Werbepartnerschaft anbieten konnte. Doch das Gespräch mit dem Hotelier war trotzdem sehr interessant und aufschlussreich. Denn wir befanden uns nicht einfach bei einem gewöhnlichen Hotel, in das man zum Urlaubmachen fuhr. Wir befanden uns in einem Etablissement, das aus einem ganz bestimmten Grund gestaffelte Preise für unterschiedliche Aufenthaltszeiten hatte. Man konnte ein Zimmer für ein paar Euro für eine einzige Stunde mieten, für etwas mehr Geld für drei Stunden, für Fünf Stunden für eine ganze Nacht oder auch für volle vierundzwanzig Stunden. Je nachdem, wie durchhaltevermögend man gerade war und wie viel Zeit und Lust man mitbrachte.

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In klaren Worten: Wir waren hier in einem Stundenhotel gelandet, das verliebten Paaren die Möglichkeit bot, sich abseits ihrer Großfamilien zu treffen, um einen Moment wirklich ungestört zu sein. Dies erklärte dann auch, wie es zu der enormen Kinderflut kommen konnte, die uns bereits zuvor aufgefallen war.

Mit einer Werbepartnerschaft hätten wir hier also ohnehin schlechte Karten gehabt, denn die Hotelbetreiber waren nicht im Geringsten auf ausländische Gäste angewiesen. Dennoch konnten wir den Herren vom Empfang zu einem Deal überreden, durch den wir ein Zimmer den ganzen Tag nutzen durften, aber nur den Preis für 12 Stunden zahlen mussten.

Nachdem das geschäftliche Geregelt war, führte uns der Mann zu unserer Suite. Das Hotel bestand nicht aus einem einzelnen Gebäude sondern aus lauter kleinen Bungalows, die in einem kleinen Park nebeneinander angeordnet waren. Um sie betreten zu können gab es keine Türen, sondern Garagentore, hinter denen sich zunächst eine Garage und dann der Eingang zum Zimmer befanden. Diskretion wurde hier also wirklich groß geschrieben. Man kam an, fuhr mit seinem Auto direkt in die Garage und verschwand dann in seinem Zimmer. Auf diese Weise konnte man sich weder durch ein parkendes Auto verraten, das vielleicht von einem Passanten gesehen wurde, noch musste man zu erkennen geben, mit wem man das Hotel betrat. Für uns war es natürlich auch von Vorteil, denn wir konnten unsere Wagen ganz bequem in der Garage abstellen und hatten gleich alle sicher verstaut.

Das Zimmer selbst bestand aus einem kleinen Vorraum, einem Bad und einem Schlafzimmer mit einem riesigen Bett darin. Der ganze Raum wurde nur durch eine Art Sternenhimmel aus LEDs beleuchtet und war daher fast vollkommen dunkel. Das war auch gut so, denn so konnte man als wildes Liebespaar einfach ins Bett stürmen und musste sich keine Gedanken über die Schimmelflecken, den abgeblätterten Putz und die vielen anderen Blessuren machen, die das Zimmer zierten. Wichtig dabei war nur, dass man so sehr in Leidenschaft aufging, dass man außer der eigenen Lust und dem Körper des anderen überhaupt nichts mehr spürte. Denn sonst wurde man unweigerlich von dem Mückenschwarm abgelenkt, der bereits in der Dunkelheit auf einen lauerte.

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Heiko und ich waren jedoch eher untypische Gäste für dieses Etablissement und betrachteten uns den Raum in Ruhe. Dabei fielen uns nicht nur die kleineren und größeren Macken sondern auch die ersten Mücken auf. Sofort holten wir eine Taschenlampe und eine zusammengerollte Zeitung und machten uns auf die Jagd. Allein im Badezimmer erschlugen wir mindestens vierhundert kleine Biester und fast noch einmal genauso viele im Schlafzimmer. Wenn man hier wirklich als Paar hereingestürmt kam und sich sofort übereinander hermachte, musste man am Ende vollkommen blutleer sein. Klar kamen die meisten hier her, um einen Stich zu landen oder zu ergattern, aber so war das sicher nicht gemeint.

Nachdem die Mückenplage beseitigt war, konnten wir uns an die eigentliche Arbeit machen. Heiko legte sich erst einmal hin, denn er musste sich ja schließlich auskurieren. Ich kümmerte mich in der Zwischenzeit um unsere Wäsche. Als ich damit fertig war, waren meine Hände aufgequollen wie bei einer Wasserleiche. Literweise war eine dunkelbraune bis schwarze Pampe aus unserer Kleidung in den Abfluss geflossen und ich hatte fast eine ganze Seife verbraucht. Jetzt benötigte ich nur noch einen Platz, um die nassen Sachen zum Trocknen aufzuhängen. In unserem Zimmer war es zu kühl, also nahm ich alles mit nach draußen und suchte dort nach einem geeigneten Platz.

Dummerweise dachte ich in diesem Moment nur über die Wäsche nach, nicht aber darüber, wo ich mich gerade befand. So lief ich ein wenig in unserem Hotelpark herum und fand dabei zwar keine Wäscheleine, dafür aber einige offene Fenster hinter denen es ganz ordentlich zur Sache ging. Vor dem ersten hingen Gardienen, sodass ich nur einige lustvolle Laute vernahm, aber nichts sehen konnte. Schnell huschte ich davon und landete dabei direkt vor dem nächsten Fenster. Dieses Mal waren die Vorhänge zurückgezogen und ich starrte mitten in das Gesicht einer dicken Frau, die von meiner Anwesenheit ebenso überfordert war, wie ich von ihrer. Glücklicherweise trug ich einen riesigen Berg an nassen Kleidern auf den Armen, hinter denen ich mich verstecken konnte. Sie hingegen trug überhaupt keine Kleider und war eigentlich auch nicht in der Stimmung, sich großartig zu verstecken. Ehe der Mann, der unter der korpulenten Dame lag auch noch Wind von meiner Anwesenheit bekam, machte ich mich aus dem Staub und zog mich wieder in den ungefährlichen Teil der Hotelanlage zurück. Eine Frage pochte mir dabei jedoch durch den Kopf, die einfach nicht verschwinden wollte: „Wie konnte diese Paar dort bei offenem Fenster und ohne Vorhänge vögeln, wenn es hier so viele Mücken gab?

Zu meinem Glück hatte das Hotel einen relativ hohen Außenzaun, der eine ganz hervorragende Wäscheleine abgab. Da ich nicht riskieren wollte, noch einmal in irgendein Rückfenster zu geraten, hielt ich mich dabei an den Eingang und verzierte den Zaun direkt neben der Rezeption.

Der komplette restliche Tag ging dann für die übrigen Nachhohlarbeiten drauf. Insgesamt musste ich 18 Berichte einstellen, von denen ich fast alle zuvor noch einmal korrekturlesen wollte. Dann suchte ich die weitere Strecke für unsere Wanderung heraus und schrieb dutzende von Mails an Sponsoren, Verlage und alle, die in letzter Zeit sonst noch von uns vernachlässigt wurden. Heiko arbeitete aus dem Bett heraus und kümmerte sich derweil um die Fotos und weitere Dinge, die liegen geblieben waren. Zwischendurch gönnte ich mir einmal eine Pause, um nach Essen zu fragen und um nach der Wäsche zu sehen. So vergingen die Stunden und der Tag wurde zur Nacht, ohne dass ich es recht bemerkte. Gegen 23:00 legte sich Heiko zur Ruhe. Er war vollkommen erschöpft und sein Bauch spielte noch immer verrückt, wenngleich er sich schon ein bisschen erholt hatte. Um vor dem Einschlafen noch einmal wirklich runter zu kommen und sich entspannen zu können, ließ er sich von seinem Computer eine geführte Meditation zum Stressabbau und zur Blockadenlösung vorspielen. Nach etwa der Hälfte der Zeit hörte ich ihn zunächst leise, dann immer lauter schnarchen. Ich selbst war in meine Arbeit vertieft und bekam die Meditation nur leise im Hintergrund mit.

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„HERZLICH WILLKOMMEN ZU MEINEM VORTRAG!“ schrie plötzlich eine Stimme auf mich ein, so dass ich zusammenzuckte und fast vom Stuhl gefallen wäre. Was war den jetzt los?

Ich brauchte eine Sekunde, bis ich begriff, dass die Stimme nicht von draußen, sondern von Heikos Computer kam und zur nächsten Audiodatei gehörte. Die Meditation war vorbei und Heiko hatte offenbar nicht darauf geachtet, dass der Player danach automatisch stoppte. Schnell sprang ich auf und klappte den Computer zu, damit die Stimme wieder verstummte. Heiko sollte ja schlafen und nicht gleich wieder aufgeweckt werden.

Einige Minuten herrschte Stille, abgesehen von Heikos schnarchen. Dann setzten die Schnarcher zwei mal auf, Heiko zuckte zusammen und war plötzlich wieder wach: „Hey!“ rief er empört, „wieso hast du denn einfach meine Medi ausgemacht?“

Ich grinste nur und ehe ich etwas sagen konnte, war er bereits wieder eingeschlafen.

 

 

Spruch des Tages: Das Hotel für gewisse Stunden

 

Höhenmeter: 380 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 12.426,27 km

Wetter: bewölkt und kühl

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 87060 Cropalati, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Meine Nacht wurde wieder einmal besonders unruhig. Ich konnte zunächst stundenlang nicht einschlafen und wälzte mich anschließend im Schlaf hin und her. Auch meine Träume drehten sich um Unruhe und um schwierige Situationen. Ich träumte unter anderem, dass mein Wagen auseinander fiel, mir die Reifen abbrachen und ich irgendwie versuchte, alles zu kitten und trotzdem weiter zu kommen, auch wenn ich riesige Angst davon hatte, das alles schief gehen würde. Irgendetwas machte mich nervös, hektisch und unausgeglichen. Die Frage war nur: Was?

Hatte es vielleicht damit zu tun, dass sich nun bereits die Berichte von fast einem Monat angestaut hatten, die ich alle irgendwie nachholen wollte, damit jedoch kaum voran kam? Ich spürte jedenfalls einen permanenten Zeitdruck in mir und hatte das Gefühl, immer mehr schaffen zu wollen, als ich schaffen konnte. Allein zum Einstellen würde ich nun schon einen ganzen Tag brauchen und bald musste ich auch schon wieder eine neue Strecke heraussuchen. Sobald ich morgens aufstand hoffte ich darauf, dass wir möglichst bald ankamen, damit ich so viel und so effektiv schreiben konnte, wie nur möglich. Ich war also wieder einmal in meiner alten Stressschleife angekommen und lebte nur noch in der Zukunft. Das Wandern rückte für mich in den Hintergrund und ich konnte mich kaum noch auf spontane Gegebenheiten einlassen. Alles wollte ich so schnell wie möglich abhandeln. Angefangen beim vorankommen über das Zeltaufbauen bis hin zum Fragen nach Essen und Wasser. Doch das klappte natürlich nicht, denn je größer meine Hektik wurde, desto mehr sorgte ich unbewusst dafür, dass mich alles ausbremste. So war es dann wohl auch zum Malheur mit meinem vollgelaufenen Wagen vor drei Tagen gekommen und so hatte ich sicher auch die Sache mit dem Hund und dem gefressenen Essen angezogen. Je mehr ich in Hektik verfiel, desto mehr zeigte mir das Universum, dass ich dadurch keinen Schritt schneller wurde. Ich konnte mich also auch einfach entspannen. Doch obwohl ich das wusste, wollte es mir nicht gelingen. Stattdessen stiegen nur die Angst davor, dass mir noch mehr dazwischenkam und die Sorge, niemals wieder auf einen Nulllevel in Sachen Tagesberichte zu kommen.

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Auch heute durften wir wieder durch eine weite, schöne Landschaft laufen, die leider komplett mit Müll übersäht war. Der Hund, den wir gestern kennengelernt hatten, war nicht der einzige, der von diesem Müll lebte. Er hatte viele Kollegen, die es ihm gleich machten und teilweise schienen sie sich zu wahren Müllhalden-Gangs zusammengerottet zu haben.

Auf unserem Weg durch die kleinen Dörfer fiel uns auf, dass es in diesem Land unverhältnismäßig viele Kinder geben musste. Es gab zum Teil nur wenig Häuser, aber selbst die kleinsten Dörfer hatten riesige Schulen, die immer voll mit Kindern waren. Gleichzeitig spielten aber auch immer Kinder auf den Straßen. Zunächst konnten wir uns das nicht erklären, doch dann kamen wir zu dem Schluss, dass es hier Schichtunterricht geben musste. Weil die Schulgebäude nicht ausreichten, hatten immer einige Kinder vormittags und andere am Nachmittag Unterricht. Wenn man beides zusammen nahm, dann kam man auch eine Menge an Kindern, die wir uns kaum mehr vorstellen konnten.

Je weiter wir in Richtung Osten und Süden kamen, desto mehr wandelte sich das Bild von einer ländlichen Agrarregion zu einer Ansammlung von Schwerindustrie. Das Land wurde immer wieder von einigen großen Straßen durchzogen, an denen sich alles angesammelt hatte, was zu einer modernen Zivilisation dazu gehörte. Dazwischen gab es hingegen nahezu nichts, das einer Infrastruktur gleichkam. Dummerweise führte diese Art der Verteilung dazu, dass wir fast nichts von dem nutzen konnten, was uns das Land bot, denn immer wenn wir an einen Laden, ein Restaurant oder eine Imbissbude kamen, war es so ungemütlich, dass wir nicht stehenbleiben wollten. Die einzige Ausnahme bildete heute ein italienisches Restaurant, in dem wir zwei Burger geschenkt bekamen. Der Besitzer erzählte uns, dass er eine weile in Italien gelebt hatte. Langsam zeichnete sich da eine gewisse Regelmäßigkeit ab. Fast jeder hier hatte eine gewisse Zeit seines Lebens im Ausland verbracht und diese Zeit hatte sie sowohl von der Mentalität als auch von ihrem Berufsfeld her stark geprägt. Wenn man ein italienisches Restaurant fand, dann gehörte es eigentlich immer jemandem, der in Italien gelebt hatte. Die Besitzer von Schlossereien, Handwerksbetrieben oder Autowerkstätten hatten hingegen meist eine Weile in Deutschland, Österreich oder der Schweiz gelebt.

Kurz vor einem kleinen Dorf errichteten wir unser Zelt dieses Mal an einem Waldrand. Einen Ort zu finden, an dem es vollkommen still war, war unmöglich, denn in dem flachen Land hörte man jede Straße viele Kilometer weit. Aber es war schon mal ein Platz, an dem es deutlich ruhiger war, als an den beiden vorherigen.

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Meine Tour durch den Ort bestätigte dann noch einmal mein Gefühl vom morgen. Am ersten Haus wurde ich komplett abgewiesen, was hier zulande selten vorkam. Die zweite Familie nahm mich hingegen etwas zu freundlich auf. Ein alter Mann mit nur einem Auge lud mich ein, auf der Terrasse mit ihm Platz zu nehmen, während seine Tochter und seine Frau mir etwas zu Essen zubereiten wollten. So jedenfalls verstand ich es, doch aus dem kurzen gemeinsamen Teetrinken wurde dann ein beisammensitzen von über einer Stunde. Die Kinder kamen und spielten auf der Terrasse, der Schwiegersohn unterhielt sich mit mir und alle setzten alles daran, dass ich mich wohl fühlte. Sogar eine Nachbarin kam vorbei, die ein bisschen Deutsch sprach und daher einige Zeilen übersetzen konnte. Alles war so nett, dass ich es nicht übers Herz brachte, die Sache abzukürzen und wieder zu gehen. Doch innerlich saß ich wie auf heißen Kohlen und diese machten die Hummeln langsam unruhig und nervös, die durch meinen Bauch schwirrten. Immer wieder schaute ich auf die Uhr und versuchte dann, mich irgendwie verständlich zu machen um zu sagen, dass ich nicht so viel Zeit hatte. Doch es war vergebens. Schließlich sah ich es ein und gab meinen inneren und ohnehin vollkommen nutzlosen Widerstand auf. Ich war nicht ohne Grund in diese Familie geraten. Am Morgen hatte ich mich noch gefragt, warum ich so unruhig und nervös war. Jetzt wusste ich es ohne jeden Zweifel. Und wenn ich es selbst nicht schaffte, gelassen u werden, dann musste mich das Leben eben dazu zwingen. Als ich nach rund eineinhalb Stunden wieder ging, ging ich entspannt und langsam. Es war nun eh schon egal, ob ich mich noch beeilte. Viel schaffte ich an diesem Tag nicht mehr, aber das war vielleicht auch gar nicht nötig.

Auch in Heiko wütete etwas, wenngleich es sich auf eine vollkommen andere Art und Weise zeigte, wie bei mir. Sein Magen spielte verrückt, ihm wurde schlecht und er bekam heftigen Durchfall. Lag es am Wasser? Oder vielleicht an dem Burger vom Italiener, der nicht ganz so kräftig durchgebraten war, wie es vielleicht gut für ihn gewesen wäre? Oder hatte es mit der unerbittlichen Hitze zu tun, die nun jeden Tag auf uns hereinprasselte?

Um halb sieben in der Früh war Heiko bereits so schlecht, dass er nicht mehr liegen konnte. Da ich auch bereits wach war und mich nur noch dösenderweise hin und her wälzte, beschlossen wir aufzubrechen um so zumindest der heftigen Mittagssonne aus dem Weg zu gehen.

Es war eine ganze Weile her, seit wir das letzte Mal zu so früher Stunde unterwegs gewesen waren. Die Morgensonne strich sanft über die Felder und ließ einen leichten Dunst aufsteigen, der sich weiter hinten mit dem Smog und der Luftverschmutzung der großen Industriestadt vermischte. Es war gleichzeitig ein idyllisches und vollkommen abartiges Bild, das sich da vor uns abzeichnete. Mit Worten ist es kaum zu beschreiben.

So früh wie wir starteten, kamen wir auch an unserem Ziel an. In der Hoffnung, dass die Sonne so weiterwandern würde, wie wir es berechnet hatten, bauten wir unser Zelt hinter ein paar Büschen auf. Leider lag unsere Berechnung ziemlich daneben und so verfehlte uns der Schatten der Büsche fast den ganzen Tag lang. Für Heikos Zustand war das nicht gerade förderlich, jedenfalls fühlte es sich nicht so an, denn zu seinem permanenten Schlechtigkeitsgefühl kamen nun auch noch Schweißattacken hinzu. Er versuchte dennoch, es sich so kühl und angenehm wie möglich zu machen und schaffte es sogar, einige Stunden Schlaf zu finden. Ich selbst suchte in der Zwischenzeit nach einem Platz zum Arbeiten und traf dabei einen netten jungen Mann, der recht gut englisch sprach und mich zu sich nach hause einlud, wo ich sowohl Strom als auch Internet bekam um zumindest schon einmal drei Tagesberichte einstellen zu können.

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Eigentlich hatten wir gehofft, eine Tropfsteinhöhle besuchen zu können, die hier ganz in der Nähe sein sollte und die genauso vielversprechend klang, wie die, die wir damals in Bosnien besucht hatten. Doch so wie es Heiko nun ging, erschien uns diese Idee bei weitem nicht mehr so sinnvoll zu sein. Vielleicht war es morgen ja wieder etwas besser!

Aber nein! Die Nacht wurde sogar noch schlimmer als die letzte. Heiko musste immer wieder aus dem Zelt sprinten, weil sein Durchfall so stark geworden war, dass er ihn fast nicht mehr aufhalten konnte. So heiß, wie der Tag gewesen war, so kalt wurde nun die Nacht und so kam er jedes Mal vollkommen ausgekühlt zurück. Wenn er dann warm genug war, um wieder einschlafen zu können, musste er fast schon wieder für den nächsten Schub nach draußen.

Auch ich konnte kaum schlafen und wurde von einer neuen, noch stärkeren Unruheattacke geplagt. Was war nur los, dass ich mich selbst so kirre machte?

Wieder beendeten wir die Nacht in aller Herrgottsfrühe und wanderten in der Kühle des Morgens über die Felder. Weit kamen wir nicht, denn Heiko war kurz davor, richtig schlapp zu machen. Nach ein paar Kilometern stellten wir unser Zelt zwischen zwei Maisfeldern auf und richteten es uns halbwegs gemütlich ein. Immerhin hatte ich nun genügend Zeit, um mit meinen Berichten weiterzukommen, weshalb ja zumindest die Unruhe von mir langsam einmal abfallen müsste. Doch so richtig wollte es auch heute noch nicht klappen.

 

 

Spruch des Tages: Auch Weltreisende fühlen sich einmal unwohl

 

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 12.410,27 km

Wetter: regen ohne Ende

Etappenziel: Zeltplatz in einem Olivenhain, kurz hinter 87067 Rossano Stazione, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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