Tag 647: Hotelterror – Teil 1

von Heiko Gärtner
11.10.2015 00:22 Uhr

Gerade als wir unsere Zelte abbauten, kam unsere Gastgeberin noch einmal vorbei, um sich von uns zu verabschieden.

„Ihr habt einiges vor heute!“ meinte sie im Gehen, „der Weg nach Jabuka führt fast vollständig bergauf!“

Damit hatte sie nicht übertrieben. Der Weg schraubte sich immer weiter den Berg hinauf, wurde immer steiler und schien niemals ein Ende zu nehmen. Paulina hatten wir schon bald wieder aus den Augen verloren, doch an dieser Straße konnten wir nicht auf sie warten. Es gab einfach zu viel Verkehr und außerdem war uns klar, dass wir uns selbst kaum noch würden aufrappeln können, wenn wir erst einmal eine längere Pause eingelegt hatten.

Die Anstrengung wurde jedoch wieder einmal mit einer grandiosen Aussicht belohnt, zum einen auf die wunderschöne Landschaft zu unterer Rechten und zum anderen auf die sonderbaren Gewohnheiten der Menschen zu unserer Linken. Das Highlight des Tages in dieser Richtung war eine Feuerstelle die nicht aus brennendem Holz sondern aus brennenden Autoreifen und Plastikfolien bestand. Sie stank vier Kilometer gegen den Wind und die Rauchsäule die davon aufstieg sah auch nicht gerade gesund aus. Bis hierhin war es noch nicht weiter ungewöhnlich, doch bei dem Feuer handelte es sich nicht um eine Müllverbrennung, wie wir zunächst vermutete hatten, sondern um ein Grillfeuer. Heiko machte erst noch einen dummen Witz von Wegen „Schau mal, die brutzeln da bestimmt ihre Würstchen drauf!“ Aber dann blieb ihm das Lachen im Hals stecken als er erkannte, dass wirklich ein Grillrost über den Flammen aufgestellt worden war und dass der Hausher, der gleich neben dem Feuer in einem Liegestuhl saß, feinsäuberlich seine Cevapcici darauf verteilt hatte. Und da machen wir uns Sorgen über die Weichmacher in unseren Einkaufstüten…

Als wir den Gipfel der Anhöhe erreicht hatten, leuchtete uns bereits eine Klosterkirche entgegen, die wir als Treffpunkt mit Paulina und auch als potentiellen Schlafplatz erwählten. Heiko malte auf die kleine Tafel vorne an seinem Wagen zwei Strichmännchen, eine Kirche und einen Pfeil und wir stellten die Wagen so ab, dass sie auf jeden Fall gesehen werden mussten, wenn man die Straße hinauf kam. Dann machten wir erst einmal ein Picknick im Schatten eines Blechcontainers, den jemand elegant neben der Orthodoxen Kirche platziert hatte.

Die Nonne, die in dem kleinen Kloster lebte war nicht allzu hilfsbereit. Männern sei das übernachten im Kloster leider nicht gestattet und auch das Zelten auf dem gesamten Klostergelände sei verboten.

„Kein Problem!“ sagte ich, „Dann suchen wir uns irgendwo einen anderen Platz und nur Paulina schläft im Kloster! Darüber wird sie sich sicher riesig freuen!“

Doch auch das war nicht recht, denn jetzt, da die Nonne mitbekommen hatte, dass ihr Geschlechter-Argument leider nicht zog, fiel ihr plötzlich ein, dass es überhaupt niemandem gestattet war, im Kloster zu übernachten. Auch keiner Frau und wenn sie sich noch so sehr den Berg hinauf gequält hatte. Außerdem riet sie uns vom Zelten im Allgemeinen ab, da die Polizei damit sicher nicht einverstanden war. Warum diese jetzt etwas dagegen haben sollte, wo es ihr die letzten Wochen vollkommen egal war, wusste sie auch nicht. Die Frage führte aber dazu, dass sie das Gespräch beendete, weil es ihr langsam unangenehm wurde, nach Ausreden zu suchen, die keinerlei Bestand hatten. Sie wollte eben einfach nicht und das war ja auch in Ordnung. Dafür wollte der Besitzer des kleinen Hotels auf der anderen Straßenseite. Er gab uns zwei Zimmer und damit die Möglichkeit, uns nach langer Zeit wieder einmal zu duschen, unsere Kleidung zu waschen und einige Berichte einzustellen. Hätten wir jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, was wir für einen Preis für diesen Luxus zahlen mussten, dann hätten wir dankend verzichtet und stattdessen lieber im Wald geschlafen. Denn das die Sache mit der Polizei gelogen war, merkten wir spätestens in dem Moment, als der einzige Polizist des Ortes völlig begeistert auf uns zu kam und uns auf einen Raki und einen Kaffee einladen wollte.

Seit wir das Plateau erreicht hatten, waren nun schon fast zwei Stunden vergangen und Paulina war noch immer nicht aufgetaucht. Wo steckte sie nur? So weit war der Weg doch gar nicht gewesen und selbst, wenn sie ihn mit halber Geschwindigkeit gegangen war, musste sie doch längst hier sein. War am Ende doch etwas passiert? Bevor wir die Einladung des Polizisten dankend ablehnten, erzählte er uns noch, dass er weiter unten am Berg eine Frau mit dem gleichen Wagen gesehen hatte, wie wir ihn hatten. So schlimm konnte es also nicht um sie stehen.

Als Paulina schließlich auftauchte, hatten wir bereits unser Zimmer bezogen. Kaum hatten wir sie erblickt, wurde sie auch schon von dem Polizisten entdeckt, der kein schlechter Kerl zu sein schien, aber auch nicht gerade ein sympathischer Zeitgenosse war. Auch Paulina wollte er gleich auf einen Raki einladen und sie war bereits kurz davor, ja zu sagen. Nicht, weil sie es wirklich wollte, sondern weil sie zu schüchtern, zu unsicher und zu fertig war um abzulehnen. Auch wenn es vielleicht eine harmlose Situation war, war dies bereits der erste Vorbote für das, was in der Nacht noch kommen sollte.

Gegen 20:00Uhr begann im Restaurant unseres Hotels eine Party. Man hörte laute Stimmen, die wild durcheinander riefen, stritten, sangen und grölten. Gläser klapperten, Füße stampften, Hände klatschten und alles wurde übertönt von einer lauten, basslastigen Balkan-Musik die aus den viel zu kleinen und daher maßlos übersteuerten Boxen drangen. Wir waren eine Etage über dem Geschehen doch es fühlte sich an, als hätten wir es und direkt unter dem Party-Tisch bequem gemacht.

Zunächst machten wir uns noch keine Gedanken. Es war Montag und morgen war kein Feiertag, deswegen dürfte es ja eigentlich nicht allzu lange dauern. Außerdem hatten wir eh noch genug zu tun, so dass an Schlafen nicht zu denken war, auch dann nicht, wenn es ruhig gewesen wäre.

Doch die Party hörte nicht auf. In Paulinas Zimmer war es etwas ruhiger, doch in unserem konnte man nicht einmal Fernsehschauen, weil man den Ton nicht verstand. Bis ich mit dem Einstellen und dem Raussuchen der neuen Strecke fertig war, war es kurz vor zwei. Bis jetzt ließ ich mir die Sache eingehen, doch nun wollte ich wirklich schlafen. Heiko hatte sich bereits zu Paulina ins Zimmer gelegt, doch auch da fanden die beiden keine Ruhe. Einige Male legte ich meinen Laptop beiseite, versuchte trotz des Lärms zu schlafen und scheiterte kläglich. Dann holte ich ihn wieder hervor und versuchte wenigstens an irgendetwas zu arbeiten, doch die Kombination aus Müdigkeit und Lärm führte einfach nicht dazu, dass ich produktiv wurde. Also löschte ich das Licht erneut und der Kreislauf begann von vorne.

Der Zeiger näherte sich der Drei und wanderte schließlich drüber hinaus, ohne dass sich etwas änderte. Um halb vier verlor ich dann die Geduld. Es konnte doch nicht angehen, dass man als Gast hier so terrorisiert wurde. Klar waren wir kostenlose Gäste, aber wir waren ja nicht die einzigen im Haus. Neben uns war eine Familie mit zwei kleinen Kindern eingezogen und die hatten sicher für die Übernachtung bezahlt. Und auch wenn wir nicht zahlten, dann gab dies den Besitzern des Hotels trotzdem nicht das Recht, uns so auf den Ohren herumzutanzen. Der Mann hatte schließlich Englisch gesprochen, wenngleich auch nicht besonders gut. Er hätte also am Nachmittag locker darauf hinweisen können, dass die Nacht aufgrund einer geplanten Party in diesem Hotel nicht an Schlaf zu denken wäre. Dann hätten wir die Einladung einfach abgelehnt.

„Es reicht!“ sagte ich mir, sprang aus dem Bett, zog meine Hose an und ging auf die Tür zu. Wenn hier sonst keiner für Ruhe sorgte, dann musste ich es eben selber machen. Doch genau in diesem Moment hörte die Musik auf und man hörte nur noch das Grölen, Lallen und Rufen. War vielleicht doch endlich Feierabend? Nein! Keine zwei Minuten begann die Musik von neuen, lauter als je zuvor. Dieses Mal wurde es mit endgültig zu viel. Ich riss die Tür auf und stapfte wutschnaubend die Treppe hinunter. Alle Türen, die den Restaurantbereich mit dem Hotelbereich verbanden, standen sperrangelweit offen, so dass der Partylärm durch nichts gebremst wurde. Als ich den Saal betrat fand ich entgegen meiner Erwartung jedoch keine feiernde, ausgelassene Meute vor. Der Raum war leer, bis auf einen einzigen Tisch, an dem vier Männer saßen. Die Tischplatte war unter den Bierflaschen, den dreckigen Raki-Gläsern und den Essenszeiten kaum mehr zu erkennen. Dazwischen lagen umgekippte Kaffeetassen, Servierten und allerlei anderes Zeug, das ich auf die Schnelle nicht identifizieren konnte. Auch der Boden um den Tisch herum war komplett vermüllt. Das war keine Party. Das war ein armseliges und mitleiderweckendes Saufgelage von Menschen, die weder Selbstachtung noch einen Sinn in ihrem Leben hatten. Jedenfalls war dies der Eindruck der sich mir aufdrängte.

Als mich die Trunkenbolde sahen, prosteten und jubelten sie mir zu, in der Hoffnung einen neuen Kumpanen gefunden zu haben. Doch ich hatte keine Lust auf irgendwelche Spielchen. Wütend und zielsicher ging ich auf den Hotelchef zu, der am Kopf des Tisches saß und sofort schuldbewusst aufsprang, als er mich sah. Er war ein armes, kleines Würstchen, dass sich vollkommen klar darüber war, wie daneben sein kleines Saufgelage war. Doch er hatte nicht den Mumm und auch nicht die Durchsetzungskraft um seine Freunde hinauszuwerfen. Sie machten, was sie wollten und duldeten ihn auf der Party hauptsächlich deshalb, weil er mit soff, die Schnauze hielt und die Räume zur Verfügung stellte.

„Wie lange wollt ihr den Scheiß hier noch abziehen?“ fragte ich dass Männchen wütend.

„Wie bitte?“ fragte er ängstlich.

„Eure Party! Wie lange soll das hier noch gehen?“ wiederholte ich meine Frage. „Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber du hast Gäste! Es ist gleich vier Uhr, wir müssen morgen 30km weit wandern und kriegen kein Auge zu. Wie stellst du dir das vor? Du musst deinen Gästen doch mitteilen, wenn du vor hast, so einen Radau zu machen!“

„Keine Ahnung!“ sagte er bloß, während sein Kumpel einen Raki für mich einschenkte und mit einen Stuhl anbot. Ich ignorierte beides.

„Was heißt ‚keine Ahnung‘?“ fragte ich scharf.

„Es dauert eben so lange es dauert!“ verteidigte er sich, „Die Leute gehen, wenn sie gehen! Setz dich und trink was mit!“

„Du spinnst doch!“ sagte ich nun noch wütender als zuvor, drehte mich um und ging wieder nach oben.

Hinter mir hörte ich noch das Gelächter und die herablassenden Kommentare, die auf meine Kosten gemacht wurden. Die Musik lief bereits wieder, noch ehe ich auch nur die Tür erreicht hatte.

„Toll gemacht, Tobi!“ dachte ich mir beim Hinaufsteigen der Treppe, „Denen hast du es ja wirklich gezeigt!“ So viel also zum Thema Durchsetzungsfähigkeit. Der Hotelchef mochte ein Schlappschwanz sein, aber ich war definitiv auch nicht besser.

Wieder legte ich mich in mein Bett und starrte an die Decke. Durch das Fenster fielen langsam die ersten Lichtstrahlen herein. Das konnte ja heiter werden!

Doch was war das? Ging da nicht wirklich die Musik aus? Eine Weile hörte man es noch grölen und rufen, dann wurde es stiller und schließlich war es wirklich ruhig. Ob meine Beschwerdeaktion letztlich doch Früchte getragen hatte oder ob sie einfach keinen Bock mehr hatten und ohnehin aufhören wollten weiß ich nicht. Aber es ist ja auch egal. Wichtig ist, dass es leise war und dass wir nun endlich zumindest noch ein kleines Bisschen Schlaf finden konnten.

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages: Nicht einmal in einem Hotel hat man seine Ruhe!

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 11.535,27 km

Wetter: morgens und abends bewölkt, dazwischen überwiegend sonnig

Etappenziel: Zeltplatz neben der Kirche, kurz vor 44100 Melissopetra, Griechenland

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Am Morgen wurden wir von einem Bellen direkt neben unserem Zelt geweckt. Als ich nach draußen blickte, sah ich eine kleine, magere Hündin, die ganz offensichtlich schon etwas zu sehr geprügelt wurde in ihrem Leben. Ich versuchte sie zu überreden, den Mund zu halten, doch sie bellte einfach weiter, so lange, bis ich sie schließlich packte und am Kopf festhielt. Es war kein starker Griff und auch nichts, was die Hundedame hätte verletzen können, doch kaum hatten meine Finger sie berührt, verwandelte sich ihr angriffslustiges Kläffen in ein herzzerreißendes Weinen und Wimmern.

„Ist ja gut!“ sagte ich ihr, „Ich tu dir doch nichts! Jetzt krieg dich wieder ein!“

Aufgeregt lief sie vor unserem Zelt umher und stolperte dabei über eine der Abspannschnuren. Für einen Vierbeiner war das eine wirklich erstaunliche Leistung, denn er hatte ja noch drei Beine zum ausbalancieren, wenn er mit einem hängen blieb. Doch diese Dame schaffte es, sich wirklich vollkommen auf die Schnauze zu legen. Doch das störte sie nicht weiter. Sie rappelte sich auf und lief nur noch hektischer herum, wobei sie fast gegen unsere Zeltwand gerannt wäre.

Von unserem Essen am Vorabend hatten wir noch einige Fleischreste über, die ich der Hündin zum schnuppern reichte und dann in hohem Bogen davon warf. In Deutschland wäre jeder Hund sofort aufgesprungen und hinter dem fliegenden Objekt her gerannt um es zurückzubringen oder sich als Trophäe gleich selbst einzuverleiben. Doch dieser Hund hier wusste leider nicht das geringste mit meiner Aktion anzufangen. Er schaute nur wehmütig dem Fleisch hinterher und begann dann wieder zu wimmern. Also nahm ich ein zweites und reichte es ihr, dieses mal jedoch, ohne es wegzuwerfen. Sie fraß es komplett, inclusive Knochen, was wahrscheinlich noch weniger sinnvoll war, als die Aktion von zuvor. Schließlich führte ich die ängstliche Dame über die Wiese zu dem zweiten Stück Fleisch, doch gerade als sie es erspäht hatte, fiel ihr ein, dass sie eigentlich gar nicht hier sein durfte und verschwand.

Von unserer kleinen Wiese neben dem Friedhof aus ging es hinunter auf die Straße und dann erneut an einem kilometerlangen Staubecken entlang. Kaum hatten wir den Platz verlassen war auch unsere junge Hündin wieder da und begleitete uns für die nächsten Kilometer. Sie lief dabei vollkommen unkoordiniert über die Straße und rannte so ziemlich vor jedes Auto, dass sie finden konnte. Einige Male konnten wir dabei gar nicht richtig hinschauen, weil wir befürchteten, dass sie sich nun wirklich umbringen würde. Wie hatte sie es bloß geschafft, so lange zu überleben. Sie musste mindestens drei Jahre als sein, was für einen Hund schon ein beachtliches Alter war. Zumindest für einen, der so zur Selbstvernichtung neigte, wie dieser hier.

Einige Kilometer weiter kamen wir an eine riesige Müllhalde. Überall schwelten die Brände vor sich hin mit denen die Abfälle „recycelt“ wurden. Es stank bestialisch und irgendwie machte es kein gutes Gefühl, dass diese Halde direkt neben dem Staubecken angelegt worden war, das neben der Stromgewinnung auch als Trinkwasser-Reserveur diente. Zunächst dachten wir, dass uns die Hündin vor allem deshalb begleitet hatte, weil sie zu ihren Kammeraden wollte, die hier auf der Müllhalde lebten. Doch sie hatte nicht mehr als einen müden Blick für sie übrig und trabte dann weiter neben uns her. Erst als es anstrengend wurde, weil er nun steiler den Berg hinauf ging, war sie plötzlich verschwunden. Der Weg in die Freiheit hatte wohl zunächst verlockend ausgesehen, aber in Anbetracht der Energie, die sie dafür aufbringen musste, war sie dann doch lieber zu ihren Peinigern und in ihren Zwinger zurückgekehrt.

Das Ende des Stausees markierte auch das Ende unserer Straße. Hier mündete sie auf die große Hauptstraße, die direkt vom Kokin Brod nach Prijepolje führte und auf der sich auch Paulina irgendwo befinden musste. Meinem Plan nach müssten wir nun hier an dieser Kreuzung irgendwo einen Schlafplatz finden, damit wir dann morgen die letzten 10km nach Prijepolje laufen konnten, um uns dort mit Paulina zu treffen. Dummerweise war mir nicht klar gewesen, wie ekelhaft diese Straße war. An dem Ort, an dem wir uns von Paulina verabschiedet hatten war sie auch schon nicht schön gewesen, doch hier hatte sich das Tal wieder zu einem engen Canyon verjüngt und die Felswände warfen den Autolärm zurück wie bei einem Ping-Pong-Spiel. Der Ort selbst bestand nur aus einigen wenigen Häusern, die direkt in den Hang gebaut waren und zwei kleinen Hotel-Restaurants, die unmittelbar neben der Fahrbahn lagen. Beide sagten uns ab und auch mit Zeltplätzen sah es hier mau aus. Wir hatten die Wahl, ob wir entweder 300 Höhenmeter aufsteigen und dann hinter einer Weggabelung auf einer Schräge schlafen wollte, die so schief war, dass wir einen Klettergurt gebraucht hätten um nachts nicht in den Fluss zu rutschen, oder ob wir uns direkt neben die Straße flachten und akzeptierten, dass wir keine Sekunde Ruhe abbekommen würden. Beides klang nicht gerade erstrebenswert und dementsprechend miserabel war auch unsere Stimmung. Wir beschlossen daher, Paulina eine SMS zu schreiben und sie zu fragen, ob sie nicht vielleicht doch schon so weit war, dass wir durchgehen und uns bereits einen Tag früher treffen konnten. Ihre Antwort lautete etwa folgendermaßen: „Oh, ich habe noch nicht mit euch gerechnet! Aber möglich wäre es vielleicht. Ich bin ca. 10km vor Prijepolje“

Gerade als wir oben auf dem Berg standen um noch einmal auszukundschaften, ob es nicht doch eine Schlafmöglichkeit gab, erblickte Heiko unten im Tal auf einem Parkplatz eine Gestalt, die einen Wagen hinter sich herzog, der verdächtig nach einem Pilgerwagen aussah.

„Hey!“ rief er, „da ist sie ja!“

„Wo?“ fragte ich und schaute mich suchend um.

„Nicht da!“ korrigierte Heiko, „Du schaust auf den falschen Parkplatz! Da!“

Ich folgte seinem ausgestreckten Finger und dieses Mal fiel mein Blick wirklich auf eine Person, bei der es sich ganz eindeutig um Paulina handelte.

Schnell liefen wir zurück ins Tal und zu dem Parkplatz auf dem wir Paulina gesehen hatten. Sie selbst war verschwunden, doch ihr Wagen stand neben einem Auto.

Heiko erblickte sie als erstes. Sie saß in einem Stuhl vor dem Hotel, das uns als zweites abgelehnt hatte und spielte in ihrem Handy. Außer dem Display nahm sie nichts um sich herum wahr. Auch nicht Heiko, der nun nur noch einen knappen Meter vor ihr stand.

Die Begrüßung fiel relativ kurz aus und wurde sofort von einem neuaufkommenden Konflikt überschattet. Denn das erste, was Heiko an Paulina auffiel war, dass sie sich geschminkt hatte. Das ist unter normalen Umständen natürlich nicht verwerflich, doch in diesem Moment war Heiko deswegen entsetzt und aufgebracht. Warum?

Zum einen hatte sie sich in der ganzen Zeit, in der sie hier war so gut wie nie geschminkt. Sie hatte einfach nicht das Gefühl, dass es zum Zeltleben passte und hatte es nicht als nötig empfunden, wo es doch nicht einmal eine Dusche gab. Die einzigen Ausnahmen, die sie bislang gemacht hatte, waren die beiden Hotelnächte in Sarajevo und in Serbien gewesen. Für sie kam schminken also nur dann in Frage, wenn sie einen Spiegel und ein Badezimmer zur Verfügung hatte. Wenn das aber hin und wieder der Fall war, dann nutzte sie es, ohne sich deswegen großartige Gedanken zu machen.

Heiko war dieses Muster in diesem Augenblick jedoch nicht bewusst gewesen und so sah die Situation für ihn vollkommen anders aus. Für ihn wirkte es, als hätte sie es in der ganzen Zeit, die sie nun zusammen waren nie als nötig empfunden, sich chic zu machen. Doch kaum war er einmal zwei Tage nicht da, putzte sie sich heraus. Das war doch nicht fair, oder? Der Eindruck wurde noch verstärkt, da Paulina ja kurz zuvor die SMS geschrieben hatte, in der sie extra noch einmal betonte, dass sie heute noch nicht mit uns gerechnet hatte. Sollte das also heißen, dass sie sich nicht geschminkt hätte, wenn sie erwartet hätte, Heiko und mich heute wieder zu sehen? Wahrscheinlich nicht, aber in dem Moment wirkte es so.

Der Hauptgrund für Heikos ärger war jedoch ein anderer. Bevor wir uns getrennt haben, haben wir viel über Ausstrahlung und Magnetismus gesprochen, vor allem darüber, wie gefährlich es sein konnte, in einem Land wie diesem mit der Aura eines Opferlamms herumzulaufen. Vor ihrer Abreise aus Deutschland hatte Paulina ihren Pilgerwagen von der 15 jährigen Tochter einer Freundin bunt ansprayen lassen. Sie wollte damit Freude, Leichtigkeit und Verspieltheit ausdrücken, übersah dabei jedoch, dass sie auch noch eine vollkommen andere Botschaft vermittelte. Die Wagengestaltung war das Werk einer fünfzehnjährigen und dass sah man ihm auch an. Es war nicht der Wagen einer starken, selbstbewussten Frau, die Anmut und Erhabenheit aussendete, der man aber nicht dumm zu kommen brauchte, wenn man seine Genitalien mochte. es war der Wagen eines naiven, leichtgläubigen und beeinflussbaren Mädchens, das man mit einer Tafel Schokolade in seinen unauffälligen Van mit den getönten Scheiben locken konnte, wenn man es wollte. Dies allein machte das Wandern ohne Begleitung bereits riskant. Doch lange der Wagen jedoch von einer unauffälligen grauen Maus gezogen wurde, die keinerlei sexuelle Reize nach außen sendete, war das Risiko einigermaßen kalkulierbar. Durch die Schminke jedoch verdeutlichte Paulina nun auch noch, dass sie eine sexuell attraktive Frau war, für die sich ein kurzer Zwischenstopp im Wald durchaus lohnen würde. Natürlich war es nur ein Detail und der Unterschied, den es machte war vielleicht nicht besonders groß. Aber es machte einen Unterschied und es erhöhte unnötig das Risiko, dass sie eigentlich so gering wie möglich halten wollte. Niemand würde auf die Idee kommen, in einer solchen Situation ein Schulmädchenkostüm mit langen weißen Söckchen, einem kurzen karierten Rock, einer passenden Bluse und den typischen Zöpfen zu tragen. Zumindest nicht dann, wenn er nicht ganz bewusst vergewaltigt werden will. Klar machte das Schminken nur ein Bruchteil von dem aus, was so eine Schuluniform für Fantasien wecken würde, aber es ging in die gleiche Richtung. Heiko konnte nicht verstehen, wie sie auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit, sich selbst in eine Gefahrensituation zu bringen, erhöhte, einfach nur deshalb, weil sie sich keine Gedanken darüber machte.

Paulina wiederum konnte nicht verstehen, warum Heiko gleich zu beginn des Wiedersehens so mürrisch war und ihr Vorwürfe wegen ihres Eyeliners machte. Für sie war seine Reaktion eine Abwertung und sie fasste sie als Geste der mangelnden Zuneigung und Wertschätzung für sie auf. Beide waren zudem, genau wie auch ich aufgrund der wirklich unangenehmen Verkehrssituation ohnehin schon gereizt und so wurde unser wiedersehen eher ein Zusammenprall als ein freudige Begegnung.

Um der Verkehrshölle zu entfliehen beschlossen wir, das ausstehende Gespräch über unsere gemeinsame oder auch nicht gemeinsame Zukunft zu vertagen und uns erst einmal einen ruhigen Platz zu suchen. Das war jedoch leichter gesagt als getan, denn die Hauptstraße verlief weiterhin im Canyon, ohne dass es dazu eine sinnvolle Alternative gab. Nach zehn Kilometern erreichten wir Prijepolje, was uns jedoch auch nicht weiter half, denn sie Stadt wirkte sogar noch grässlicher als die Hauptstraße selbst. Also wanderten wir weiter und weiter. Paulina ließ sich immer wieder zurück fallen. Zum Teil, weil sie erschöpft war, da dieser Tag der bislang längste Wandertag auf ihrer hiesigen Reise wurde, zum Teil aber auch, weil sie noch immer in der Wolke der schlechten Laune feststeckte, den die Schminkgeschichte ausgelöst hatte. Dies wiederum führte noch einmal zu einer Steigerung der schlechten Laune, da wir gerne so schnell wie möglich aus der Lärmhölle verschwinden wollten, aber immer wieder gezwungen waren, an der Hauptstraße auf Paulina zu warten. Gleichzeitig zog sich der Himmel immer weiter zu und hinter den Bergen begann es bereits zu donnern. Nicht mehr lange und es brach ein heftiges Gewitter über uns herein. Wir konnten es uns also nicht leisten großartig zu trödeln und Heiko und ich konnten nicht verstehen, wieso das Gewittergrummeln in Paulina keine Absicht auslöste. Natürlich konnten wir nachvollziehen, dass sie erschöpft war, uns ging es ja nicht viel anders. Aber auch wenn man körperlich ausgepowert war musste man doch trotzdem erkennen, dass eine Gefahr auf uns zukam der wir entgehen sollten. Wenn uns das Gewitter erreichte, bevor wir unsere Zelte aufgebaut hatten, dann käme zur Erschöpfung noch vollkommenes Durchnässtsein und Frieren hinzu, was die Situation sicher nicht besser machte.

Kurz: Die Situation war alles andere als Ideal. Um vielleicht doch noch das Beste daraus zu machen fragten wir einen Jungen, der auf einem LKW voller Melonen saß, ob er uns nicht eine abgeben würde. Bis Paulina kam, dauerte es eh noch und da konnten wir die Zeit auch sinnvoll nutzen. Der Junge sprach Englisch und erklärte uns, dass er leider nicht der Chef sei, weshalb er uns nichts geben konnte, obwohl er es gerne getan hätte. Wenn die Kasse am Ende nicht stimmte, dann wurde ihm die Differenz vom Gehalt abgezogen und er bekam so schon nur 8€ am Tag. Als wir das erfuhren hätten wir ihm am liebsten selbst irgendetwas angeboten. Wie hielt er das nur aus, den ganzen Tag an dieser ekelhaften Straße im Lärm und in den Abgasen zu sitzen, hin und wieder eine Melone zu verkaufen und am Ende gerade einmal 8€ für den ganzen Tag zu bekommen. Allein die Zigaretten, die er gemeinsam mit seinem Kumpel rauchte, um den Tag irgendwie zu überstehen, mussten schon mehr kosten, als er überhaupt verdiente. Noch mehr Achtung hatten wir jedoch vor dem Kumpel, der seine Freizeit freiwillig in dem Laster verbrachte ohne etwas dafür zu bekommen, nur weil er seinem Freund Gesellschaft leisten wollte. Als Paulina kam verabschiedeten wir uns, wobei ich gerade noch die Frage einwarf, wie lange wir der Straße noch folgen mussten, um nach Jabuka zu gelangen. Fast hätte ich gar nichts gesagt, weil ich sicher war, dass es noch einige Kilometer sein mussten, doch zu meiner Überraschung meinte der Junge, dass wir schon direkt an der Kreuzung standen. Ohne ihn wären wir also auch noch einen gewaltigen Umweg gelaufen.

Auch nach der Abzweigung wurde die Verkehrslage nicht viel angenehmer. Dafür ging es nun aber auch noch steil bergauf.

„Wartet mal!“ rief Paulina von hinten, „Ich gehe zurück! Ich habe mich dafür entschieden, nicht weiter mit euch mitzugehen!“

„Moment!“ sagte Heiko überrascht und irritiert von dieser Aussage. „Was ist denn eigentlich los?“

„Ich pack das nicht und habe auch keinen Bock mehr! Ich habe mich wirklich auf unser Wiedersehen gefreut und dann werde ich gleich als erstes blöd angemacht, dass die Stimmung gleich wieder im Keller ist. Ich finde das unmöglich! So kann man einfach nicht zusammenleben! Außerdem rennen wir jetzt die ganze Zeit hier herum, ich bin vollkommen kaputt und will einfach nicht mehr laufen! Ich habe keine Ahnung wie weit ihr noch gehen wollt und wohin uns das alles führt. Aber dieser Berg hier ist nichts mehr für mich! Ich gehe zurück nach Prijepolje und suche mir da ein Hotel!“

Für einen Moment sah es so aus, als wäre die gemeinsame Zeit mit Paulina damit wirklich beendet. Einen Augenblick lang waren wir soweit, ihren Wunsch einfach abzusegnen und ohne sie unsere Wege zu gehen. Doch dann fiel uns auf, dass an der ganzen Situation wieder etwas nicht passte. Sie hatte sich nicht dafür entschieden umzudrehen, weil sie dies für eine gute Idee hielt, sondern weil es eine Trotzreaktion auf die Anstrengung und die brodelnde Stimmung war. Es war keine Herzensentscheidung sondern eine Wutentscheidung, eine Kurzschlussreaktion, die sowohl sie als auch wir wahrscheinlich bereuen würden, wenn wir sie einfach so mitten auf der Straße über´s Knie brachen. Also beschlossen wir, die Sache noch einmal zu bereden und in ruhe zu überdenken. Wir hatten gehofft, dass wir das an einem ruhigeren und friedlicheren Ort und ohne drohenden Gewittersturm im Rücken machen konnten, doch offensichtlich war das so nicht vorgesehen. Heiko erklärte Paulina, warum er sich gleich bei der ersten Begegnung so aufgeregt hatte. Es war nicht geschehen, weil er sie nicht mochte, sie nicht da haben wollte oder weil es seine Absicht war, sie zu verletzen oder runter zu machen. Er hatte so reagiert, weil er sie mochte, weil sie ihm wichtig war und weil er Angst um sie hatte, wenn sie das Risiko einer Vergewaltigung durch unüberlegtes Handeln künstlich in die Höhe steigen ließ.

Es war natürlich nicht hilfreich gewesen, sie deshalb anzumaulen aber die gesamte Situation mit der Lautstärke hatte ihn bereits zuvor so sehr gereizt, dass nur noch ein kleiner Auslöser nötig war, damit er in Resonanz ging. Eine ganze Weile war sich Paulina unsicher, dann aber sah sie es ebenso, dass sie nicht mit frohem Herzen sondern aus Wut und Trotz gegangen wäre. Wir beschlossen, den ungemütlichen Platz auf der Straße zu verlassen und uns irgendwo in der Nähe einen Zeltplatz zu suchen. Rund eineinhalb Kilometer weiter kamen wir in ein kleines Dorf, an dessen Ende uns eine Familie erlaubte, auf ihrer Obstwiese zu zelten. Die Tochter erzählte uns, dass sie Journalistin bei einem kleinen regionalen Fernsehsender in Prijepolje war und bat uns um ein kurzes Interview. Dafür wurden wir auf ein reichhaltiges und gutes Abendessen eingeladen und bekamen sogar noch einige Paar Socken vom Cousin der Journalistin geschenkt. Spannend war, dass es sich bei dem Fernsehsender um einen Frauenrechtssender handelte, der es sich zur Hauptaufgabe gemacht hatte, die Position der Frauen in Serbien etwas mehr zu stärken. Sicher ist es auch wieder kein Zufall, dass uns ausgerechnet heute eine Frau begegnet, die etwas gegen die Bevormundung und Unterdrückung der Frauen in Serbien unternehmen will.

Spruch des Tages: Die Herde ist wieder zusammen

Höhenmeter: 710 m

Tagesetappe: 46 km

Gesamtstrecke: 11.517,27 km

Wetter: Regen, Sonne, Nebel, Wind, Hagel, Sturm: Die ganze Palette. Abends heftiger Dauerregen

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, kurz vor Leskovik, Albanien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Fortsetzung von Tag 644:

Ein ähnliches Prinzip begegnete uns auch immer wieder bei unseren Kinderkursen. Einmal bekamen wir ein Programm, bei dem wir für eine Woche eine Jugendgruppe betreuen sollten, die bereits von allen aufgegeben wurde. Die Jugendlichen galten als gesellschaftlich nicht mehr integrierbar und lebten in einem Betreuungsheim, bei dem sie rund um die Uhr überwacht wurden. Die beiden Heilerziehungspflegerinnen, die den Kurs bei uns buchten, baten uns darum, ein möglichst hartes Programm für die Jugendlichen zu gestalten, da sie selbst mit ihrem Latein am Ende waren. Wir entschieden uns dafür, das Programm so zu Strukturieren, dass die Jugendlichen klar erkennen konnten, dass jede Handlung eine Konsequenz nach sich zieht. Denn genau das war ihr Problem. Sie hatten in der Vergangenheit erfahren, dass sie sich alles erlauben konnten, ohne das je eine ernstzunehmende Konsequenz folgte. In der Gesellschaft funktioniert das relativ gut, weshalb wir das Konzept der Strafe erfunden haben, wenn jemand nicht richtig ‚funktioniert’. Wir bewerten eine Handlung als schlecht oder böse und überlegen uns dann eine Strafe dafür, mit der der Schuldige seinen Fehltritt wieder ‚gutmachen‘ kann. Die Natur hingegen kommt ohne derartige Strafen aus, weil jede Handlung eine direkte Konsequenz hat, an der jedes Wesen einschätzen kann, ob sein Verhalten zielführend war oder nicht. Wenn ein Fuchs beispielsweise keine Lust hat, auf die Jagd zu gehen, dann hat er am Abend nichts zu essen. Das ist keine Strafe, weil die Natur sagt, dass Faulheit etwas böses oder schlechtes ist, es ist nur die logische Konsequenz daraus, dass er sich nichts zum Essen besorgt hat. In der Gesellschaft und vor allem in einem so gut funktionierenden Sozialstaat wie Deutschland gibt es diese Konsequenz nicht. Ihr könnt es gerne einmal ausprobieren, wenn ihr testen wollt, ob das so ist oder nicht. Geht einfach nicht mehr zur Arbeit und kauft auch nichts mehr ein, sondern bleibt morgens auf eurem Bett sitzen und rührt euch nicht mehr. Es wird nicht lange dauern, bis sich jemand sorgen um euch macht und euch fragt, was nicht mit euch stimmt. Wenn ihr dann einfach erklärt, dass ihr keine Lust mehr auf euren Alltag habt, dann werden erstaunliche Dinge passieren. Wahrscheinlich wird jemand kommen und sich um euch kümmern. Ihr verliert vielleicht euren Job, bekommt aber stattdessen Arbeitslosengeld. Und wenn ihr euch weiterhin weigert, euch um eure Ernährung zu kümmern, dann wird wahrscheinlich am Ende sogar jemand kommen, der euch in die Psychiatrie einweist, wo ihr künstlich ernährt werdet. Was aber definitiv nicht passieren wird ist, dass man euch einfach verhungern lässt. Es sei denn natürlich, ihr schafft es, euch vor anderen Menschen zu verstecken, so dass niemand etwas mitbekommt. Doch wenn ihr ein nur einigermaßen funktionierendes soziales Netz um euch herum aufgebaut habt, dass wird das schwerer sein, als einfach etwas zu essen.

Dieses System ist zwar ganz angenehm, führt aber auch dazu, dass wir jede Menge Lebensweisen und Strategien entwickeln können, die überhaupt nicht hilfreich sind. In der Natur würde niemand auf die Idee kommen, seinem Clan aus reiner Langeweile bewusst zu schaden. Es käme auch niemand auf die Idee, seine Sinne mit bewusstseinsverändernden Drogen einzutrüben, so dass er unaufmerksam und angreifbar wird. Und niemand würde sich selbst verletzen oder versuchen, so schwach wie möglich auszusehen, damit er Aufmerksamkeit von anderen bekommt. All das wäre höchst wahrscheinlich tödlich und daher für kein Wesen besonders erstrebenswert. Unser Konzept bei dem Kurs war es daher, den Jugendlichen auf verschiedene Weise vor Augen zu führen, dass sie mit ihrem destruktiven Verhalten in erster Linie sich selbst schadeten. Dazu gehörte in unserem Kurs auch, dass die Gruppe sich durch ihre Beteiligung am Programm ihr Essen verdienen musste. Je intensiver ihre Mitarbeit den Tag über war, desto größer viel am Abend das Abendessen aus.

Der Großteil der Gruppe stieg auf das Programm relativ gut ein, doch zwei der Jugendlichen zogen es vor, sich aus der Affäre zu ziehen. Sie wussten, dass sie es waren, die die Gruppe am stärksten nach unten zogen und sie hatten an diesem Tag bereits so viel Mist gebaut, dass das Abendessen sehr spartanisch ausfallen würde. Doch anstatt etwas zu unternehmen um die Lage zu verbessern, verschwanden sie heimlich und liefen die fünf Kilometer bis in den nächsten Ort, um sich dort je einen Döner, eine große Pommes und ein paar Sandwiches zu kaufen. Bis hier hin war es schon recht dreist, doch die Härte an diesem Ausbruch war, dass sie mit den belegten Broten zurückkamen und sich dann neben ihre Kameraden auf einen Holzstapel setzten, ihr Essen in sich hinein schlichteten und sich dann noch jeder eine Zigarette ansteckten. Darüber, dass wir diese Aktion nicht einfach so im Raum stehen lassen konnten, herrschte unter den Erziehen und uns Trainern Einigkeit.

Nach einer kurzen Beratungsphase entwickelten wir folgenden Plan. Die beiden Kandidaten, nennen wir sie einmal Luise und Bob, sollten die Nacht im Wald verbringen. Und zwar ohne jegliche Schlafausrüstung. Damit sie bei dieser Aktion nicht aus versehen umkamen, was leicht hätte passieren können, sollte Johannes, unser damaliger Praktikant die Kids begleiten. Das Problem daran war jedoch, dass Johannes wirklich gut war, wenn es darum ging, jemandem seine Grenzen aufzuzeigen, wenn er ihm auf die Nerven ging. Die Gefahr, dass er die beiden im Wald erschlagen würde, war also noch höher, als die Gefahr dass sie sich aus versehen selbst umbrachten. Also entschieden wir uns dafür, dass ich das Trio ebenfalls begleiten sollte, um auf Johannes aufzupassen.

Gemeinsam mit der ganzen Gruppe gingen wir bei Einbruch der Dämmerung in den Wald und achteten dabei darauf, dass wir so oft kreuz und quer durch die Brombeersträucher gingen, dass sich wirklich niemand den Weg merken konnte. Schließlich kamen wir an eine Lichtung. Hier teilten wir die Gruppe auf und verteilten verschiedene Aufgaben, die alle dazu dienten, ein kleines Lager mit einer Feuerstelle einzurichten. Erst dann eröffneten wir den Jugendlichen, dass alle außer Luise und Bob wieder zu unserem Seminarhaus zurückkehren würden und dass die letzten beiden durch ihre nachmittägliche Aktion den Preis gewonnen hatten, ihre Nacht mit Johannes und mir im Schutz der Bäume zu verbringen. Lustiger Weise hätte man das sogar wirklich als Preis auffassen können, denn die Erfahrung einer Übernachtung im Wald hatten wir auch in unserem Programm und sie war vor allem bei Jugendlichen im gleichen Alter besonders beliebt. Diese beiden sahen das jedoch nicht so. Sie fluchten und zeterten, drohten mit ihren Eltern, mit Anwälten und mit allem, was ihnen sonst noch einfiel. Am Ende aber fügten sie sich in ihr Schicksal, hauptsächlich deshalb, weil ihre Eltern am Telefon bestätigt hatten, dass sie mit dieser Maßname vollkommen einverstanden waren.

Nachdem die Gruppe weg war, dauerte es eine ganze Weile, bis sich die Stimmung der Kids wieder einigermaßen abgekühlt hatte. Zunächst wollten sie einfach abhauen und sich den Weg alleine durch den Wald zurück zum Seminarhaus suchen. Das konnte doch nicht so schwer sein!

„Tut, was ihr nicht lassen könnt!“ meinte ich nur kühl, „Ihr müsst aber bedenken, dass ihr keine Ahnung habt, wo ihr euch befindet. Es kann natürlich sein, dass ihr es zurück zum Seminarhaus schafft, aber eure Chancen stehen nicht besonders gut. Wenn es nicht klappt, dann seit ihr irgendwo ganz alleine im Dunkeln, ohne Schutzunterstand und ohne Feuer.“

Kurz darauf hörte man die Gruppe unten im Tal fluchen, die sich bereits verfranzt hatte. In Anbetracht dessen, dass die Erzieherinnen eine Lampe hatten und außerdem den Weg zurück kannten, machte das für einen Alleingang nicht viel Hoffnung. Nachdem das also geklärt war, wurde der Abend sogar erst einmal ganz nett. Die beiden entdeckten, dass es durchaus ganz abenteuerlich sein konnte, unter freiem Himmel am Lagerfeuer zu sitzen. Schließlich aber wurde es spät und damit Zeit um schlafen zu gehen. Johannes und ich hatten natürlich unsere Schlafsäcke dabei, denn es war ja kein Lehrprogramm für uns. Die anderen beiden sollten sich auf eine Feuerschicht einigen, so dass die wärmenden Flammen nicht erloschen.

Luise war der Meinung, dass sie in so einem Wald, der voller Krabbelviecher war, eh nicht schlafen könne, also konnte sie sich auch um das Feuer kümmern. Bob hingegen legte sich hin und deckte sich mit seiner Jacke zu. Dummerweise überschätzte Luise ihre Angst vor Ungeziefer und schlief noch weitaus schneller ein, als Bob. Es dauerte also nicht lange, bis das Feuer auf eine kleine Glut heruntergebrannt war. Die anderen Gruppenmitglieder hatten genügend Holz gesammelt und aufgeschichtet, so dass man nur hätte nach hinten greifen und die Flammen füttern müssen. Doch Bob war der Meinung, dass jemand diese Aufgabe übernehmen würde, wenn er nur lange genug quengelte und abwartete. Es war die gleiche Strategie, die er auch sonst immer anwandte. Je mehr er anderen mit seinen Problemen auf den Geist ging, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anderes sie für ihn löste. Doch in dieser Nacht funktionierte die Technik nicht. Das Feuer wurde immer kleiner und kleiner und schließlich war es ganz aus. Johannes und mir war warm, weil wir einen Schlafsack hatten und Luise schlief wie ein Stein. Es war also niemand da, der Bob aus der Klemme befreien konnte. Als er das endlich einsah, war er bereits am Zittern.

„Kannst du mir nicht doch irgendwie helfen?“ fragte er, „Hast du nicht wenigstens ein Feuerzeug für mich?“

Das klang zumindest nach einer Initiative. Also nahm ich doch eine Hand aus meinem Schlafsack und reichte ihm ein Feuerzeug.

„Hast du auch Spiritus oder wenigstens Papier dazu?“

„Nein!“ sagte ich wahrheitsgemäß.

„Ja verfickt was soll ich dann mit dem scheiß Feuerzeug!?!“ schrie er wütend und warf das Feuerzeug wieder zurück auf meine Tasche.

Wieder dauerte es eine halbe Stunde, bis er bereit war, einen zweiten Versuch zu starten. Diesmal fühlte ich mit der Hand über die Feuerstelle und stellte fest, dass sie noch immer leicht warm war.

„Wenn du pustest, dann müsstest du die Glut eigentlich wieder entfachen können!“ sagte ich ihm und er begann dieses Mal sich wirklich um ein Feuer zu bemühen. Keine 10 Minuten später brannte es lichterloh und er freute sich wie ein Schnitzel.

„Machst du das eigentlich immer so?“ fragte ich.

„Was meinst du denn?“ antwortete er unsicher.

„Na, dass du dir selbst ganz bewusst so viel Leid wie möglich zufügst, weil du glaubst dass dann jemand anderes kommt und deine Probleme für dich löst.“

Dies war der Moment, an dem er zum ersten Mal selbst verstand, was er da eigentlich machte. Er erzählte mir, dass diese Taktik bei seiner Mutter immer bestens funktionierte und dass er nie gemerkt hatte, wie irrsinnig sie eigentlich war. Jetzt im Nachhinein wurde ihm klar, wie wichtig, diese kurze Phase des Unwohlseins und des Frierens war, damit er sich selbst besser verstehen konnte. Er brauchte den Leidensdruck um ins Handeln zu kommen. Hätte ich Mitleid mit ihm gehabt und das Feuer für ihn entfacht, hätte ich ihm vielleicht für einen kurzen Moment geholfen. Doch ich hätte damit eine Lektion verhindert, die vielleicht die wichtigste in der ganzen Woche für ihn war.

Natürlich dauerte es nicht lange, bis das Feuer erneut heruntergebrannt war und sofort kehrte auch das alte Muster zurück. Er sah, dass die Flammen kleiner wurden, wartete ab in der Hoffnung ich würde mich darum kümmern und stellte fest, dass er noch immer auf sich alleine gestellt war. Doch dieses Mal dauerte es bei weitem nicht mehr so lange, bis ihm klar wurde, dass er der einzige war, der ein Frieren verhindern würde.

Am nächste Morgen machten wir uns wieder auf den Heimweg. Jetzt war es Luise, die ihr Aha-Erlebnis hatte. Denn sie war es am Abend gewesen, die am liebsten sofort abhauen wollte. Nun erkannte sie, dass sie alleine und im Dunkeln niemals zurückgefunden hätte. Nicht einmal jetzt im Hellen war sie sich sicher, wohin wir gehen sollten.

Als wir das Seminarhaus erreichten, kam uns eine der Pädagoginnen bereits entgegen gerannt.

„Hallo!“ rief sie vollkommen aus dem Häuschen, „da seit ihr ja endlich! Ich habe mir solche Sorgen um euch gemacht. Hier, ich habe euch jedem ein Red-Bull gekauft, als Belohnung, dass ihr die Nacht so gut überstanden habt und wenn ihr wollt, dann dürft ihr jetzt jeder eine Zigarette rauchen!“

Diese Begrüßung, die der reine Ausdruck ihres Mitleides war, machte in nur zwei Minuten alles zunichte, was die beiden in der Nacht gelernt hatten. Die Frau konnte es einfach nicht ertragen, dass ihre Schützlinge eine schwere Zeit durchmachen mussten und verhätschelte sie so sehr, dass sie sofort wieder in ihre alten Muster fielen. Anstatt die Erkenntnisse der letzten Ereignisse präsent zu halten, spürten sie sofort, dass sie außerhalb des Waldes einfach viel besser dran waren, wenn sie wieder ihre alte Leidenstour abzogen.

Und genau dies ist es, was ich mit dem Schaden meine, den Mitleid anrichtet. Wir können es nicht ertragen, einen anderen leiden zu sehen und versuchen daher, die Situation zu beenden, auch wenn sie noch so hilfreich ist. In unseren Kursen haben wir mit der Zeit sehr gut gelernt, damit umzugehen und waren irgendwann so dickhäutig, dass wir es sehr gut annehmen konnten, wenn sich die Teilnehmer das Leben so schwer wie nur irgend möglich machten. Bei Paulina ist es jedoch etwas anderes. Auch ihr gegenüber halten wir uns mit Mitleid zurück und wir lassen sie jede Lektion lernen, die sie lernen muss, genauso wie Heiko auch mich stets in alle Fallen laufen ließ und noch immer laufen lässt. Aber es fällt uns schon etwas schwerer hart zu bleiben, als bei einem Teilnehmer. Vor allem auch deshalb, weil wir seit sie bei uns eingetroffen ist, so viele mitleidige Kommentare von Menschen bekommen haben, die es nicht mit ansehen können, dass Paulina auf so intensive und teilweise auch harte und leidvolle Weise lernt, wirklich ins Leben zu kommen und für sich selbst zu sorgen. Das war auch bei meinen ersten Schritten so, als ich angefangen habe, über mich selbst und meine Lektionen zu berichten. Doch da habe ich über mich selbst geschrieben und konnte daher leichter damit umgehen.

Aber wie hart es manchmal auch wirken mag, im Nachhinein stellt sich stets heraus, dass es wichtig war, dem Bauchgefühl zu vertrauen und nicht dem Mitleid.

Erst später wurde uns bewusst, wie viel wir dennoch aus Mitleid machten, ohne es selbst zu merken. Immer wieder hatten wir dass Gefühl, dass wir für sie Verantwortlich waren und dass wir sie beschützen mussten. Wenn wir es nicht schafften, ihr dabei zu helfen, wirklich ins Leben zu kommen, dann würde es die Schöpfung tun, da waren wir uns sicher. Doch das würde bedeuten, dass sie wirklich harte Spiegelpartner vorgesetzt bekam. So wie sie zurzeit verstrickt war, brauchte sie wahrscheinlich ein wirklich einschneidendes Erlebnis, um aufwachen zu können. Das wollten wir verhindern. Zum Teil deshalb, weil sie uns wirklich am Herzen lag. Zum Teil aber auch, weil es uns Leid tat, mit anzusehen, dass sie sich ganz bewusst den schwersten und härtesten Weg zum Lernen aussuchte.

 

Spruch des Tages: Mitleiden führt nur zu noch mehr Leid.

Höhenmeter: 310 m

Tagesetappe: 20 km

Gesamtstrecke: 11.471,27 km

Wetter: teils sonnig, teils bewölkt, nachts bitterkalt

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, kurz hinter Erseka, Albanien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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