Tag 968: Holzhaus-Tester

von Heiko Gärtner
08.09.2016 00:33 Uhr

12.08.2016

Das Gefühl von Urlaub wurde immer größer. Ungarn war definitiv nicht unser spektakulärstes Reiseland und auch nicht das spannendste, aber wir genossen es, einfach nur gemütlich und entspannt durch die Felder zu wandern, in Ruhe irgendwo anzukommen und zu wissen, dass wir einen Platz bekommen würden. Dieses Mal wurden wir sogar von Privatleuten eingeladen, da weder die Pfarrer noch der Bürgermeister im Ort waren. Vom Rahtaus aus, schickte man uns zur zwei Kilometer entfernten Kirche. Dort trafen wir dann keinen Geistlichen, sondern eine Frau, die eine Näherei leitete und die gerade mit ihrem Sohn telefonierte. Der Sohn sprach fließend Englisch und lud uns ein, in einer kleinen Gästewohnung zu übernachten, die sich auf dem Grundstück eines zweiten Firmengebäudes befand. Dieses lag lustigerweise direkt neben dem Rathaus, so dass wir die gesamte Strecke noch einmal zurück mussten. Dort erwartete uns dann ein kleines Holzhaus. Die Mutter unseres Gastgebers gab uns außerdem ein wenig Geld, um ein paar Würstchen zu kaufen und drückte uns außerdem eine von den besagten Tupperboxen mit dem Kantinenessen der Schule in die Hand. Es war exakt die gleiche Suppe, die wir bereits am Vortag im Nachbarsdorf erhalten hatten. Die Schulen kochten hier also nicht selbst, sondern wurden ebenfalls von einer Großküche versorgt. Im Grunde aß also das komplette Land immer die gleiche Mittagsplatte.

In den letzten Wochen hatte sich Heiko immer wieder intensive Gedanken darüber gemacht, wie ein mögliches Begleitfahrzeug aussehen könnte, wenn wir in schwierigere Länder kommen. Dabei hatte er auch an eine Variante gedacht, die dem Haus ähnelte, in dem wir heute nächtigten. Dementsprechend genau prüfte er die Vor- und Nachteile und kam zu dem Schluss, dass es so noch nicht funktionierte. Die Wände waren dünn und nicht schallisoliert, so dass stets das Gefühl hatte, die Autos würden mitten durchs Wohnzimmer fahren. Eine Holzkonstruktion war nicht verkehrt, aber es musste definitiv besser isoliert werden.

Ich für meinen Teil hatte heute wieder einmal genug mit den Nachwirkungen der Brennesseltherapie zu tun, denn heute hatte es endlich geklappt, einen geeigneten Platz dafür zu finden. Es waren genau 30 Minuten gewesen, die ich mit den Brennesseln verbracht hatte und durch die Länge der Zeit hatte sich auch noch einmal das Gefühl dazu verändert. Zuvor hatte ich es immer nur einfach durchstehen wollen und mir stets im Kopf gesagt: "Gleich ist es vorbei, gleich ist es vorbei!" Dieses Mal war die Zeit so lang, dass ich das Gefühl hatte, dass es niemals vorbei sein würde und so musste ich zum ersten Mal den Ist-Zustand akzeptieren. Dadurch wurde es letztlich sogar erträglicher. Direkt vor der Sanktion bekam ich Besuch von einer Gottesanbeterin, die sich erst auf meinen Arm und dann auf meinen Kopf setzte.

Spruch des Tages: Das ist noch nicht die Ideallösung!

Höhenmeter: 800 m Tagesetappe: 26 km Gesamtstrecke: 17.542,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Private Pension, Skrzydlna, Polen

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11.08.2016

Nach einer kurzen und schmerzlosen Verabschiedung vom Pfarrer machten wir uns wieder auf die Socken. Das Wandern hier war ein Traum und nach der langen Zeit der Extreme fühlte es sich hier wirklich wie Urlaub an. Dabei war gerade Ungarn das Land gewesen, vor dem wir am meisten Respekt gehabt haben, nachdem was man uns alles darüber erzählt hat. Nicht über die Leute und das Land an sich, denn beides hatte einen ziemlich guten Ruf. Aber was die politische Lage anbelangte, wurde in letzter Zeit durchaus ein sehr negatives Bild über den kleinen Agrarstaat verbreitet. Davon war für uns jedoch nicht das geringste spürbar. Das einzige, was mir persönlich an diesem Tag etwas Sorgen bereitete war, dass wir wieder einmal keinen geschützen Platz für die Sanktionen finden konnten. Damit addierte sich dann noch ein weiterer Tag hinzu und langsam machte ich mir ernsthafte Sorgen, ob ich es überhaupt noch aushalten würde.

Für heute bekamen wir unsere Unterkunft vom Rathaus. Auch hier trafen wir auf freunliche und hilfsbereite Menschen, wenngleich alles ein bisschen Bürokratischer und damit auch langwieriger war, als bei den Pfarrern. Im Sekretariat des Rathauses führte ich zunächst ein gepräch mit drei Damen, von denen eine Deutsch, eine Englisch und eine Italienisch sprach, was für die Verständigung recht verwirrend war. Dann bekamen wir ein Mittagessen in der Kantine der Schule und anschließend einen Platz in der Umkleidekabine des Fußballvereins. Beides erinnerte uns irgendwie an Italien. In der Kantine gab es eine fade Nudelsuppe und in der Kabine war es in etwa so laut wie auf der Straße. Guter italienischer Standart also. Spannend war jedoch, dass die Schule selbst geschlossen hatte, weil gerade Ferien waren. Die Kantine kochte jedoch weiterhin, da es in Ungarn ein Programm gibt, dass dieses Essen fördert. So wie wir es verstanden haben, steht es den Kindern auch in den Ferien zu und die Familien können es dann abholen und zu hause essen. Schon oft hatten wir Menschen gesehen, die mit kleinen Tupperboxen durch die Straßen liefen und wir hatten uns stets nach dem Grund gefragt. Nun hatten wir die Antwort.

Spruch des Tages: Kantinenfraß für alle!

Höhenmeter: 350 m Tagesetappe: 16 km Gesamtstrecke: 17.516,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Kleine Gästewohnung in der Schule, Tymbark, Polen

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10.08.2016

In einer Arbeitspause, während die Computer mit dem kopieren der Dateien beschäftigt waren, testeten wir noch einmal mein Sanktionskonto aus und mit erschrecken stellte ich fest, dass sich schon wieder eine immense Summe angesammelt hatte. Dieses Mal jedoch, hatte ich überhaupt keinen großen Scheiß gebaut und für einen Moment konnte ich mir nicht erklären, wie es dazu kam. Dann aber wurden mir die unendlich vielen Kleinigkeiten bewusst, die mir ununterbrochen passierten. Als wir noch einmal genauer nachtesteten, kam heraus, dass ich pro Tag rund 50 Mal gegen mein Herz verstieß. Es ging nicht darum, dass mir hin und wieder ein Missgeschickt passierte, sondern darum dass ich diese Pannen unterbewusst willentlich provozierte, weil ich noch immer das Muster in mir trug, mich dadurch an meiner Mutter rächen zu wollen. Es war noch immer die gleiche Trotzrebellion, die ich mir schon in meiner Jugend angewöhnt hatte. Obwohl ich den Kontakt zu meiner Mutter vollkommen abgebrochen hatte und sie als Person keinen Einfluss mehr auf mich hatte, hatte sich daruch für mich also noch immer nichts verändert. Es ging nicht um meine Mutter an sich, sondern um die Personifizierung, die ich von ihr noch immer in meinem Kopf präsent hatte. Vom Verstand her hatte ich kapiert, dass ich für alles in meinem Leben selbst verantwortlich war, doch ein anderer Teil in mir gab ihr noch immer an allem die Schuld, was ich als nicht ideal ansah. Ich hatte noch immer Wut auf sie und glaubte noch immer, eine offene Rechnung mit ihr zu haben. Solange ich meinen Frieden nicht geschlossen und wirklich verstanden hatte, dass ich und nicht sie für mein Leben verantwortlich war, konnte ich dieses alte Rebellenverhalten nicht lösen und arbeitete weiter Tag für Tag gegen mich.

In der Früh fühlte ich mich nach der kurzen Nacht wie gerädert. Auch Heiko ging es nicht viel besser, da er zwar früher ins Bett gegangen ist, jedoch kaum schlafen konnte, weil er sich ständig den Hals verbog und die Zehen an der viel zu kurzen Bettkannte anschlug. Die ersten Kinder waren bereits wieder bei ihrem Ferienprogramm eingetroffen und wir nahmen uns noch einen Moment Zeit, uns die anlage etwas genauer anzuschauen. Sie war wirklich liebevoll un schön gemacht und wurde nicht nur von den Kindern gut angenommen. Auch die Tiere schienen sich hier wohl zu fühlen, denn Heiko entdeckte mehrere Erdmännchen, die uns neugirig aus ihren Höhlen heraus anschauten. Unser erstes Etappenziel an diesem Tag war die Poststation, bei der wir nun das Paket mit dem kaputten Computer wieder abgaben. Dieses gestaltete sich etwas schwieriger als das Abholen am Vortag und insgesamt brauchten wir genauso viel Zeit wie in Italien, aber im Endeffekt hatten wir Erfolg. Nachdem wir die Stadt hinter uns gelassen hatten, kamen wir wieder auf einen kleinen Feldweg, der uns weiter nach Norden führte. Hier trafen wir einen Rennradfahrer, der gerade seine Runden drehte und sich einen Moment Zeit nahm, um mit uns zu quatschen. Spannend war, dass er zwar fast täglich die gleiche Runde fuhr, dabei aber nie die Abzeigung bemerkt hatte, die wir nun in die nächste Ortschaft nehmen mussten. So viele Vorteile ein Fahrrad auch haben mochte, es war damit definitiv leichter, alles mögliche zu übersehen. Hinter der Abzweigung überquerten wir eine Autobahn und kamen dann noch einmal in ein abgelegenes Waldstück, wo wir uns eigentlich den Sanktionen zuwenden wollten. Gerade als ich die Brennesseln erntete, kam jedoch ein alkoholisierter Mann auf mich zu, der in einer Hütte lebte, die wir für verlassen gehalten hatten. Er war so neugierig, dass wir nun unmöglich eine Brennessel-Therapie machen konnten, denn auch wenn sie heilsam und wichtig war, sah sie für einen Außenstehenden doch immer etwas seltsam aus und man konnte nicht erwarten, dass er meine Gefühlsausbrüche dabei verstehen und richtig deuten konnte.

Nach diesem Waldstück kamen wir in einen Ort. Eigentlich hatte ich anhand der Karte befürchtet, dass der erste Feldweg ein wenig problematisch werden würde und dass wir mit Erreichen der Ortschaft wieder auf sicheren Straßen unterwegs waren. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Der Feldweg war astrein asphaltiert, aber hier im Ort gab es nur Sandstraßen, die kaum passierbar waren. Wie die Menschen damit zurecht kamen, blieb uns ein Rätsel. Erst zwei Ortschaften weiter kamen wir wieder auf gewöhnliche Straßen und hier gab es nun auch eine Kirche. Der dazugehörige Pfarrer sprach weder deutsch noch englisch, war aber die Unkompliziertheit in Person. Ein Blick auf unsereren Erklärungszettel reichte ihm aus und er führte uns in einen Gemeinderaum, brachte uns etwas zum Essen und das Passwort für das Internet und überließ uns dann wieder uns selbst.

Spruch des Tages: Wenn es doch nur immer so schön unkompliziert wäre!

Höhenmeter: 1100 m Tagesetappe: 33 km Gesamtstrecke: 17.500,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Zeltplatz im Wald, kurz hinter Raszówka, Polen

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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