Halbzeit bis Santiago

von Franz Bujor
23.03.2014 00:35 Uhr

„Wir sind Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela und reisen ohne Geld“ Mit diesem Satz beeindruckt man in dieser Gegend überhaupt niemanden mehr. Wenn man hofft, dass die Menschen positiv auf einen Reagieren muss man wenigstens noch hinzufügen, dass man anschließend weiter nach Fatima, Rom und Israel pilgern will und dass man dabei ist, ein Projekt zum Schutz von Regenwäldern zu organisieren. Die Tatsache, dass man nach Santiago will ruft meist nicht mehr als ein müdes Lächeln hervor. Man hat fast den Eindruck, als wären es von hier nur noch ein paar Kilometer bis zur heiligen Pilgerstadt, die jeder Kurzurlauber rückwärts und auf einem Bein hüpfend zurücklegt. Doch ein Blick auf die Europakarte verrät, dass wir gerade einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt haben.

Den halben Jakobsweg haben wir nun hinter uns.

Den halben Jakobsweg haben wir nun hinter uns.

Heute Vormittag gab es dann aber doch eine lustige Situation, die unser geknicktes Pilger-Ego wieder ein bisschen aufpolierte. Ein Mann auf einem Motorrad hielt neben uns und fragte, ob wir nicht die beiden Männer sind, die ohne Geld um die Welt wandern. Er habe von uns im Radio gehört und war ganz begeistert und jetzt hier zu treffen! Danke Claire-Lise! So wie uns der Mann begegnete, muss der Bericht echt gut gewesen sein. Im Laufe des Tages trafen wir noch öfter auf Menschen, die uns aus dem Auto heraus oder vom Fahrrad herab wissend und vielsagend anlächelten, uns grüßten oder die Daumen hoben. Der Mann mit dem Motorrad lud uns sogar auf einen Kaffee ein. Eigentlich wollten wir ihn ablehnen, weil wir das Gefühl hatten, endlich wieder einmal vorrankommen zu müssen. Doch wir wussten leider nicht, was „Danke, das ist wirklich sehr nett, aber wir sind noch fast nichts gelaufen und haben gerade einen Kaffee zum Frühstück getrunken“ auf Französisch heißt und so sagten wir nach einigem Zögern einfach ja. Er fuhr uns voraus und nach wenigen Metern erreichten wir sein Haus, wo er uns bereits mit zwei Kaffeetassen entgegen kam. Es war wie ein kurzer Boxenstopp. Wir tranken den Kaffee im Garten, erzählten woher wir kamen und wo wir übernachtet hatten, verabschiedeten uns und gingen weiter. Die Verständigung war nicht einfach und ich erzählte mal wieder mit einer epochalen Mischung aus Französisch, Deutsch, Englisch und Spanisch, wobei ich am Ende selbst nicht mehr wusste, was welche Sprache war. Heiko konzentrierte sich derweil auf die Mimik und Körpersprache um herauszufinden, was unser Gastgeber und seine Frau uns wohl mitteilen wollten.

fahrbahnverengung

Mitunter wird es ganz schön Eng auf dem Jakobsweg.

Stimmungstechnisch war die kleine Pause absolut großartig gewesen. Wir hatten kurz zuvor wieder einen kleinen Durchhänger gehabt und nun waren wir wieder bestens gelaunt. Dafür fingen unsere Körper an, gegen die Überdosis an Kaffee zu rebellieren. Meinem Magen ging es zuvor schon nicht gut, doch jetzt rumorte er, als wollte er sich einmal komplett in meinem Bauch herumdrehen und sein Innerstes nach außen krempeln. Heiko ging es nicht besser. Sein Kreislauf tanzte Tango und unsere Köpfe drehten sich wie bei einem Kettenkarussell. „Wir sollten wirklich die Finger von dem Zeug lassen!“ meinte Heiko nach einer Weile. „Das ist einfach nichts für uns. Vor allem nicht drei Tassen an einem Tag!“

Was wir auch taten, das komische Gefühl im Bauch blieb den ganzen Tag und auch jetzt fühlt es sich noch immer komisch an. Keine Ahnung ob es nur am Kaffee lag, oder auch noch an etwas anderem.

Fluss mit Bäumen

Dafür wandert man aber immer wieder durch wunderschöne Natur.

Als wir gerade einmal keinen Berg hinaufkeuchen mussten und somit genügend Atem zum Sprechen hatten, kamen wir noch einmal auf das Radiointerview zurück. „Es ist schon spannend, dass die ganzen Medien überall gleich aufgebaut sind!“ begann Heiko, „

Erinnerst du dich noch an unsere Interviews über die Obdachlosentour?“

Damals waren wir bei den größten Radiosendern in Deutschland zu besuch gewesen und hatten festgestellt, dass sie fast komplett mit Praktikanten und Auszubildenden geführt wurden. Natürlich gab es Chef´s, Vorgesetzte und Moderatoren, die ein normales Gehalt bekamen, aber die Interviews, die Recherchen und alles im Hintergrund wurde von Praktikanten erledigt. Das System war ebenso teuflisch wie genial. Wenn man im Bereich der Medien irgendwie aufsteigen wollte und keine guten Kontakte hatte, dann musste man unten einsteigen. Ein Praktikumsplatz bei einem großen Sender brachte die Hoffnung mit sich, vielleicht die richtigen Kontakte zu knüpfen um in das System einzusteigen und mit etwas Glück ganz groß rauszukommen. Diese Hoffnung hatten viele und somit waren die Praktikumsplätze beliebt. Eine Bezahlung zu erwarten wäre blanker Hohn gewesen, denn es gab ja genügend andere, die sich ihre Chance nicht durch eine ablehnende Haltung gegenüber der Sklaventreiberei verbauen wollten. Wenn das Praktikum vorüber war, standen die meisten dort wo sie angefangen hatten und konnten sich mit etwas Glück bei einem anderen Sender auf eine kleine Stelle bewerben. Immerhin hatten sie ja jetzt Erfahrung und einige gute Reverenzen. Doch warum sollte man einen Menschen mit guten Reverenzen und Erfahrung einstellen, der vielleicht sogar noch eine eigene Meinung hatte, wenn man auch unerfahrene Praktikanten für umsonst haben konnte. Im Fernsehen war es nicht viel anders, vielleicht sogar noch schlimmer. Natürlich gab es Ausnahmen, diejenigen, die den Durchbruch geschafft haben, doch für die meisten kamen mit dieser hoffnungsvollen Taktik keinen Schritt weiter. Von dem was wir von Claire-Lise und ihren Kolleginnen erfahren hatten, war es hier in Frankreich nicht viel anders.

Feuerwanzen am Baum

Und begegnet großen und kleinen faszinierenden Wesen.

Und noch etwas fiel uns im Zusammenhang mit Radio heute besonders deutlich auf. In der Früh wurden wir von unserer Gastgeberin zurück nach Aixe-sur-Vienne gefahren und hörten dabei zum ersten Mal seit langem wieder Radio. Französisches Radio natürlich. Fast die ganze Strecke über kam Werbung und da wir sie nicht verstanden, hörten wir nur auf den Rhythmus und die Melodik. Ist euch je aufgefallen, wie stressig das Gerede ist? Die Sprecher versuchen immer, so viele Informationen wie möglich in kürzester Zeit unterzubringen und überschlagen sich dabei fast mit ihren Worten. Wenn man wirklich einmal darauf achtet, reichen ein paar Minuten um sich wie ein gehetztes Reh zu fühlen.

Auf dem weiteren Weg erzählte mir Heiko noch einige Details über Fußreflexzonenmassage, von denen er gestern gelesen hatte, während ich mich nach einem Schlafplatz umgeschaut hatte. „Mir tut doch seit ein paar Tagen der rechte große Zeh ständig weh, dass ich meine er wolle abfallen!“ begann er, „Ich habe jetzt einmal nachgeschaut, ob ich nicht herausfinden kann, was es damit auf sich hat. Es war echt spannend. Unser ganzer Körper hat ja überall Reflexzonen, also Bereiche, die über Nervenbahnen mit anderen verbunden sind. Der Bereich, der mir am Fuß solche Schmerzen bereitet, ist direkt mit dem Schulterbereich verbunden. Und es stimmt, ich habe die Fußschmerzen genau zur gleichen Zeit bekommen, wo ich mir den Nacken und die Schultern so verspannt habe. Auch die tun mir noch immer weh!“

Nahaufnahme einer Eidechse.

Nahaufnahme einer Eidechse.

„Also manchmal ist unser Körper echt eklig!“ sagte ich sarkastisch, „Da hat man Schmerzen in einem Bereich und schon denkt er sich: ‚Na wenn es hier eh schon Weh tut, dann produziere ich doch am besten gleich auch noch ein paar Schmerzen an einer ganz anderen Stelle! Es könnte ja sein, dass er die ersten gar nicht richtig wahrnimmt!’“

„Ja, so ungefähr ist es!“ gab Heiko zurück. „Ich habe übrigens noch etwas anderes spannendes Herausgefunden. Unsere Füße tragen ja ständig unseren ganzen Körper. Ich weiß, dass hast du vielleicht auch schon bemerkt. Aber wenn man vom Gewicht eines Mannes mit unserer Statur ausgeht und die Belastungen zusammenzählt, die sich auf die Füße übertragen, dann ist jeder unserer Füße bei einer Wanderung von nur 2km einer Belastung von 250 Tonnen ausgesetzt. Bei einem Schnitt von 20 Kilometern muten wir unseren Füßen also täglich eine Tragleistung von 2.500 Tonnen Gewicht zu. Das ist mal ne ordentliche Leistung! Ich denke, unsere Schlappen haben ein dickes ‚Danke’ dafür verdient!“

„Das haben sie wirklich!“ stimmte ich beeindruckt zu.

„Und dann habe ich noch etwas herausgefunden!“ fuhr Heiko fort, „Was meinst du, wer die Fußreflexzonen entdeckt hat?“

„Keine Ahnung!“ gab ich zu, „irgendein Arzt oder Forscher wahrscheinlich.“

Pilger im Spiegel.

... und häufig bekommt man als Pilger einen Spiegel vorgehalten.

„Das hatte ich auch gedacht, und tatsächlich schreibt sich die Schulmedizin die Entdeckung der Reflexzonen auch dick auf die Fahne. Aber ursprünglich waren es die Maya, die das Wissen darüber herausgefunden haben. Es ist also wieder einmal deutlich älter als wir glauben. Ich denke langsam, dass diese Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Medizin  und Alternativ- oder Naturmedizin absolut künstlich ist. Es hat nichts damit zu tun, was moderne Wissenschaftler herausgefunden haben oder was aus den Traditionen alter Kulturen stammt. Es geht nur darum, was sich gut verkaufen lässt und was nicht.“

Am Nachmittag begann es wieder einmal leicht zu regnen. Nicht schlimm und nichts im Vergleich zu dem, was wir im Februar erlebt hatten, aber doch genug, dass es ungemütlich wurde. Da wir uns eh nicht besonders wohl fühlten, beschlossen wir nach einem Schlafplatz Ausschau zu halten. In Flavignac wurden wir jedoch abgewiesen, da die kleine, städtische Pilgerabsteige zehn Euro kostete. Eine Alternative, wie einen Versammlungsraum oder ähnliches wollte man uns auch nicht zur Verfügung stellen und so zogen wir noch einmal weiter bis nach Les Cars. Auch hier war es zunächst deprimierend. Es gäbe lediglich ein Hotel im Ort, aber wir können doch einfach die vier Kilometer zurück nach Flavignac gehen, denn dort gäbe es eine Pilgerherberge. Ich weiß nicht, wie oft ich heute Nachmittag „Danke, ich weiß, wir waren bereits da, aber ohne Geld ist es nicht möglich, dort zu übernachten“ gesagt habe. Daraufhin kam meist die Antwort, dass wir es im nächsten Ort versuchen sollten, der sei ja lediglich 9,5km entfernt. Alle Antworten waren richtig und die Menschen meinten es ja gut, aber am Ende war ich doch etwas frustriert. Mir war noch immer schlecht und da meine Sommerschuhe langsam den Geist aufgaben, hatte ich die dicken Wanderschuhe angezogen, von denen ich bereits eine Blase bekommen hatte. 9,5 Kilometer klangen da einfach nicht attraktiv.

Altar der Kirche von Flavignac.

Altar der Kirche von Flavignac.

Als ich die Hoffnung bereits aufgeben wollte, kam ich auf die Idee, wirklich einmal im Hotel „Le Simone“ nachzufragen. Ich rechnete mir zwar keine allzu hohen Chancen aus, aber wer nichts wagt kann nichts gewinnen. Und tatsächlich! Der junge und sehr freundliche Mann an der Theke überlegte einen Moment und gab uns dann seine Zustimmung. Wir bekamen ein Doppelzimmer mit Dusche, genau so, wie wir es uns am Nachmittag gewünscht hatten. Nur Internet gab es nicht, weswegen ihr den Bericht erst jetzt lesen könnt.

Spruch des Tages: Wer hat´s erfunden? Die Maya!

 

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 1633,97 km

 

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare