Hingabe und Vertrauen lernen

von Heiko Gärtner
12.11.2014 16:11 Uhr

Die Frau, die wir am Abend trafen, nannte es „bizarr“ und die Beschreibung passt wahrscheinlich gar nicht schlecht. Es war wieder einer dieser Tage, die man mit dem Verstand kaum erfassen kann. Zu viele Zufälle, als das es Zufälle hätten sein können.

Doch ich beginne lieber am Anfang.

Gestern Abend kuschelten wir uns nach einem großartigen Thai-Curry-Gericht mit Kokosmilch, Nüssen, Bambussprossen, Topinambur und Pfifferlingen in unsere Adelsbetten. Das Zimmer war recht kalt, was kein Wunder war, bei einer Deckenhöhe, die einen Schwindelig werden ließ. So hüllten wir uns tief in die Schlafsäcke und machten uns einen heißen Tee.

„Wir haben eine Nachricht von Darrel bekommen!“ rief ich, als ich meinen Facebook-Account abrief. Kurz zuvor hatte ich den Medizinmann, bei dem wir in Österreich für ein Jahr hatten lernen dürfen, wegen seines Heilungszentrums in Neuseeland angeschrieben. Wir hatten die Idee, es durch unsere Reise mit Sponsorengeldern zu unterstützen und ich hatte Darrel gefragt, was er davon hielt. Doch es war nicht die Antwort auf diese Frage, die spannend war, sondern die kurze Nachricht, die er anschließend geschrieben hatte:

„Mir kam da gerade noch so eine Idee. Es könnte vielleicht hilfreich sein, wenn ihr euch das Wort „Vertrauen“ auf die Unterseite eures linken und das Wort „Hingabe“ auf die Unterseite eures rechten Fußes schreibt. Nehmt die Worte als kraftvolle, heilige Symbole auf denen ihr lauft. Ladet die Spirits, die Helfern und die Hütern der Geisteswelt, in eure Füße und dann in euren ganzen Körper zu fließen. Geht extasisch und erlaubt eurem Körper zu wandeln.“ (Er hat an dieser Stelle das englische Wort „to move“ geschrieben, was sowohl bewegen als auch wandeln heißt.)

Am Ende schrieb er: „Nur so eine Idee! Schlaft gut!“

„Na wenn das mal nicht typisch Coyote-Teaching ist!“ rief Heiko mit einem Grinsen. „’Nur so eine Idee!’ Er ist ja lustig!“

So ganz verstanden wir die Übung zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch uns war klar, dass die fixe „Idee“ des Heilers mehr als nur eine Idee war. Wie wichtig es sein würde realisierten wir jedoch erst heute. Dennoch machte ich mich sofort daran meine Fußsohlen mit einem Kugelschreiber zu tätowieren. Der Kugelschreiber kitzelte und es fühlte sich komisch an. Bei sich selbst war es jedoch nicht halb so lustig, wie die Füße eines anderen zu beschriften. Heiko hatte sich so tief in seinen Schlafsack gekuschelt, dass er unter keinen Umständen darauf hervorkriechen wollte. Also öffnete er nur das Fußende und streckte mir seine frisch geduschten Pranken entgegen. Habt ihr mal ausprobiert, wie es sich anfühlt, wenn einem jemand etwas mit einem Kugelschreiber auf die Fußsohlen malt? Auskitzeln ist ein Dreck dagegen! Heiko kringelte sich und lachte so sehr, dass ihm fast die Luft wegblieb.

In der Nacht spukten uns die Worte von Darrel immer wieder im Kopf herum. Es war so einfach, so simpel und wirkte doch so, als würde ein wichtiger Schlüssel darin liegen.

Vertrauen

Hingabe

Am Morgen wachte ich mich einem schmerzhaften Gefühl im Zahn auf, das sich bis in den Hals und bis in mein rechtes Ohr zog. Bereits seit ein paar Tagen tat mir der rechte hintere Backenzahn etwas weh. Immer mal stärker und mal schwächer. Zunächst dachte ich, dass es daher kam, dass ich nachts immer so kräftig auf die Zähne beiße. Dann hielt ich es für Halsschmerzen und schließlich kam ich auf die Idee, dass es vielleicht der Weisheitszahn sein könnte, der sich durch meinen Kiefer bohrt und versucht, ein richtiger Zahn zu werden. Doch so stark wie heute morgen war es noch nicht gewesen. Ich versuchte es mit etwas Tee zu beruhigen, dann mit einer Öltinktur, die wir vor langem einmal von einer Heilpraktikerin mit auf den Weg bekommen hatten. Es half ein bisschen, aber nicht wirklich.

Als Heiko kurz darauf neben mir erwachte, klagte er über Rückenschmerzen, Verspannungen am ganzen Körper und einen dicken Schädel. Seine Nebenhöhlen waren dicht und seine Lymphe schufteten auf Hochtouren. Meinen ging es übrigens nicht viel besser. Die rechte Lymphdrüse unter dem Kinn war geschwollen und schmerzte bei jeder Berührung. War dies vielleicht die Ursache für die Zahnschmerzen? Oder war der Weisheitszahn die Ursache für die Schwellung.

Wir waren schon so ein Invalidentrupp! Zwei Heiler auf dem Weg um die Welt und keiner von beiden kommt auch nur aus dem Bett.

Unten warteten bereits David und Sundara mit dem Frühstück auf uns. Es gab Obstsalat und einen Brei aus Eichel-Mehl. Beides war sehr lecker, wenngleich jeder Bissen schmerzte. Als Heiko von seinem scherzenden Bein berichtete, waren die beiden sofort dabei, nach einer Lösung zu suchen. Ärzte waren in dieser Region mehr als nur spärlich und bei den meisten musste man sich Wochen vorher anmelden. Der einzig wirklich gute hatte seine Praxis in Narbone und das lag überhaupt nicht auf unserem Weg. Dafür hatte Sundara jedoch eine Tafel mit Akupunkturpunkten die einiges an Aufschluss bot. Die Meridiane, die durch Heikos Bein führten, verbanden alle Punkte miteinander, die er auf geistiger, seelischer und körperlicher Ebene gerade behandelte. Es war also kein Wunder, dass hier Schmerzen auftauchten.

Vor dem Gehen gab es dann noch ein paar Eichelkekse und ein Abschiedsfoto. Dann brachen wir auf.

Erst später stellten wir fest, dass unsere Eichel-Kekse überhaupt nicht aus Eichelmehl bestanden. Sie waren aus Hafer, ebenso wie unser Frühstücksbrei. Es hatte sich um ein reines Missverständnis gehandelt, das auf Deutsch nie hätte passieren können. Die Worte Eicheln und Hafer klangen nicht gerade ähnlich. Im Englischen war das etwas anderes. Hier lagen oak und oat schon sehr nah beieinander, vor allem, wenn man noch einen schottischen Akzent mit einberechnen musste und wenn einem das Wort oak sehr geläufig, das Wort oat aber absolut unbekannt war. Wir hatten also aus einem Sprachfehler heraus doch wieder unser Gebot gebrochen, auf Getreideprodukte zu verzichten. Die erklärte vielleicht auch, warum wir beide sofort wieder verstopfte Naren hatten. Auch das letzte Mal, als wir in einer Suppe aus versehen ein paar Nudeln erwischt hatten, hatte sich unser Körper sofort mit einem heftigen Schnupfen gewehrt. Es ist schon spannend, wie sensibel der Körper wird, wenn man ihn erst einmal entwöhnt hat.

Meine Zahnschmerzen wurden mit jedem Schritt besser, Heikos Bein dafür immer schlechter. Dafür brauchten wir eine Lösung! Das half alles nichts. So konnte es nicht weitergehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es etwas schlimmes war, war zwar gering, aber wir mussten das Risiko doch irgendwie ausschließen. Es konnte ja nicht sein, dass Heiko irgendwann auf einem Bein hüpfen musste. Was würden da die Leute sagen?

Die Vögel flogen in riesigen Schwärmen über unseren Köpfen dahin. Sie wirkten fast wie Wespenschwärme, so klein uns wuselig, wie die schwarzen Punkte am Himmel waren. Der Herbst ist die Zeit der Regeneration, der Wandlung und der Ernte. In den letzten Jahren war der November immer unser Urlaubsmonat gewesen. Der letzte Kurz war gehalten, das letzte Seminarwochenende vorüber und das letzte Survivalprogramm lag hinter uns. Dies war die Zeit um wieder zu sich selbst zu kommen, die Zeit in der wir uns in die Therme legten und uns in der Sauna brutzeln ließen. Die Zeit in der es darum ging, sich zu überlegen, was wir wohl im nächsten Jahr alles anstellen würden. Und es war die Zeit der Reflektion, in der wir das Jahr noch einmal Revue passieren ließen und eine Billanz zogen.

Vielleicht forderten unsere Körper, diese Urlaubsphase nun ebenfalls ein. Klar waren wir nicht mehr im Berufsleben und unsere Reise war auch die letzten zehn Monate immer wieder von Regenerationsphasen und Erholungen durchsetzt gewesen. Außerdem hatten wir uns dieses Jahr nicht so übernommen und waren stets dabei, auf uns zu achten. So gut es ging jedenfalls. Doch der Herbst war trotzdem eine besondere Zeit. Eine Zeit der ruhe und der Gelassenheit. Die Bäume werfen ihre Blätter ab und bereiten sich auf den Winterschlaf vor. Sie sparen Energie und schalten einen Gang zurück. Die Früchte fallen zu Boden, um dort als etwas neues wieder zu entstehen. Der Herbst ist auch die Zeit des Todes und der Wiedergeburt. Die Zeit des Wandelns.

‚Erlaubt euren Körpern zu wandeln’

Der Satz war in doppelter Hinsicht bedeutsam. Erlaube deinem Körper zu gehen, voranzuschreiten, über die Erde zu wandeln. Und: Erlaube deinem Körper sich selbst zu wandeln.

Was das Wandeln über die Erde anbelangte, waren wir heute jedenfalls nicht die schnellsten. Gerade wurden wir von einem Rentner mit Alzheimer-Porsche überholt, als wir noch einmal über die Bedeutung der Worte ‚Vertrauen’ und ‚Hingabe’ nachdachten.

Wie wichtig es war zu vertrauen hatten wir in den letzten 10 Monaten immer wieder am eigenen Leib gespürt. In fast rhythmischen Abständen kamen Phasen des tiefsten Urvertrauens, dicht gefolgt von Phasen des absoluten Zweifelns. Ich zweifelte meist an mir selbst, Heiko eher an den Menschen an sich. Und dann spürten wir wieder, wie sehr das Universum für uns sorgte, wie sehr Mutter Erde ihre schützende Hand über uns hielt und wie sehr wir ihr doch Vertrauen konnten. Das Spiel zwischen Vertrauen und Zweifel war uns also bereits sehr gut bekannt.

Doch ‚Hingabe’ war mir bislang noch nicht so besonders präsent gewesen. Was bedeutete es, sich hinzugeben?

„Surrender to the patient!“ war einer von Darrels Lieblingssätzen bei unserer Ausbildung. „Gib dich dem Patienten hin.“

Die Kernaussage war folgende: Nicht du bestimmst, was gemacht wird, um zu heilen. Du bist nur ein Teil eines großen Flusses, der die Heilung entstehen lässt. Du bist ein Schwungrad, ein Kanal, dass das aufnimmt, was da ist, es weiterleitet, verstärkt und konzentriert.

Erlaube deinem Körper zu wandeln.

Gib dich der Straße hin. Du gehst nicht mit deinem Willen oder deinem Verstand. Du lässt deinen Körper gehen. Deine Beine wissen, was sie tun müssen und so kommst du ganz automatisch voran, ohne darüber nachzudenken. Pferde können gewaltige Strecken zurücklegen ohne zu ermüden, weil sie ihre Beine der Schwerkraft hingeben. Sie werden zu Pendeln, die nur noch etwas Kraft brauchen, um in Schwingung gehalten zu werden. Doch diese Kraft ist nichts im Vergleich zu der Kraft, die es bräuchte, um das Pendel beim ersten Mal in Schwung zu bringen.

Doch was passiert, wenn wir versuchen, über jeden unserer Schritte bewusst nachzudenken. Wenn wir unseren Körper seine Arbeit nicht machen lassen, sondern wenn wir sie erdenken wollen. Wir werden automatisch langsam und beginnen abgehackt und unsicher zu laufen.

Zack!!!

Heiko stieß mit dem rechten Bein gegen eine dicke Wurzel auf dem Weg und wäre um ein Haar zu Boden gefallen.

„Kruzefix! Verflucht nochmal!“ schrie er auf. Es war ausgerechnet das rechte Bein, das eh schon schmerzte und nun schoss ein stechender Schmerz durch den Muskel, der alles andere übertönte. Dann erst spürte er auch den Schmerz in seinem großen Zeh, der unter dem harten Zusammenprall mit der Wurzel ebenfalls etwas gelitten hatte.

Geb dich dem Schmerz hin!

Wir versuchen meist, gegen Schmerzen, Kälte, Hunger oder andere unangenehme Gefühle anzukämpfen. Doch damit legen wir den Fokus auf sie und geben ihnen alle macht, die wir ihnen geben können. Nimm sie an! Gib dich ihnen hin.

Enten sind im Winter die besten Mentoren in Sachen Hingabe, die man sich vorstellen kann. Auf teilweise zugefrorenen Seen sitzen sie im Eiswasser, lassen Regen, Schnee und Wind über sich ergehen und zucken dabei nicht einmal mit den Schultern. Auch die Pferde, Kühe und Esel die wir im Sommer beobachtet hatten, waren großartige Mentoren gewesen. Hunderte von Fliegen hatten auf ihren Augen gesessen und von ihrer Tränenflüssigkeit getrunken. Es konnte wenig geben, was unangenehmer war. Und doch standen sie in vollkommener Gelassenheit da. Es war ihnen kaum anzusehen, was sie durchmachen mussten. Und wahrscheinlich war es für sie nicht einmal besonders schlimm, da sie die Kunst der Hingabe bis zur Perfektion beherrschten.

Wie oft jedoch hatten wir gegen den Weg angekämpft? Gegen das Wetter, gegen die Steigung, gegen die Länge, gegen unsere lahmen Füße, gegen die blasenverursachenden Schuhe? Was wäre gewesen, wenn wir uns der Situation einfach hätten hingeben können? Mir fallen sogar einige Momente ein, in denen uns dies gelang. Auf dem letzten Gipfel von Andorra zum Beispiel. Nahezu ohne Nahrung und am Ende unseres Energielevels waren wir einfach ruhig immer weiter gewandert. Wir hatten unseren Beinen erlaubt, die Schritte zu gehen. Weiter nichts. Und dann waren wir irgendwann oben.

Erlaube deinem Körper, sich zu wandeln!

Nichts anderes war es mit der Wandlung im Inneren. Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie krampfhaft ich dabei war, mich wandeln zu wollen. Mit aller Kraft und Verbissenheit versuchte ich, mich zu entwickeln. Ich erlaubte mir nicht, zu wachsen, ich wollte mich dazu zwingen. Wieder einmal ging es ums loslassen. Dein Verstand ist ein Depp! Er hat keine Ahnung, was das richtige ist. Dein Körper schon. Erlaube deinem Körper, die schritte zu tun, die er tun will.

Gilt das auch für meinen Weisheitszahn? Die Zahnärzte behaupten in der Regel, dass es wichtig sei, die Zähne zu ziehen, weil sie sonst den ganzen Kiefer verschieben könnten. Faktisch gibt es jedoch keinen Beweis für diese Theorie und die vorzeitige Entfernung der Weisheitszähne hilft in erster Linie den Geldbeuteln der Ärzte. Warum sollte sich mein Weisheitszahn nicht so drehen, dass er genau in die Richtung zeigte, in die er zeigen wollte? Warum sollte er nicht einfach in die riesige Lücke wachsen, die hinter meinem letzten Backenzahn noch frei war?

War das Wachsen der Weisheitszähne nicht auch ein Symbol für erlangte Weisheit? Ich könnte davon jedenfalls noch einige gebrauchen. Der Fakt, dass mein Kiefer dabei so weh tut, schein auch wiederum sehr zu meinem geistigen lernen zu passen. Sie selbst anzunehmen bedeutet auch, sich selbst anzusehen und damit sind auch die Teile gemeint, die vielleicht schmerzhaft sind.

Gib dich dir selbst hin!

Wir sind nicht unser Verstand, sondern unser höheres Selbst. Wir sind die Gemeinschaft aus all unseren Körperzellen, all unserer Lebensenergie, der Wasserinformation, die in uns gespeichert ist, unserer Seele, unserem Geist und allem was sonst noch dazu gehört. Wir sind ein Teil des göttlichen Universums und untrennbar mit allem Verbunden. Warum also, sollten wir krampfhaft versuchen, mit unserem Verstand eine Entwicklung durchzumachen. Ist es nicht viel einfacher, darauf zu vertrauen, dass alles seinen Weg geht?

Das bedeutet natürlich nicht, dass man gar nichts mehr machen sollte und sich wie ein Fähnchen im Wind treiben lässt. Nichts ist wichtiger, als Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung über sein eigenes Leben zu übernehmen. Doch können wir diese Entscheidungen nur dann sicher treffen, wenn wir sie aus einer Hingabe heraus fällen. Unser Verstand versucht zu argumentieren und sobald jemand mit einem anderen Argument kommt, verlieren wir unsere geglaubte Sicherheit wieder. Die wirkliche Sicherheit kommt aus unserer inneren Intuition heraus, aus dem Bewusstsein, dass wir an das allgegenwärtige Wissen angeschlossen sind.

An einem Steg machten wir eine weitere Pause um Heikos Bein zu entlasten und um die Herbstsonne zu genießen. Wir legten und auf den Rücken und dösten eine Weile vor uns hin.

War es wohl ein Zufall, dass Darell uns ausgerechnet jetzt seine Idee geschrieben hatte? Genau in dem Moment, wo wir uns beide wie zwei Invalide fühlten, die auf ihre Erwerbsunfähigkeitsrente warteten? Wohl kaum. Es gab etwas zu lernen und der Schritt in die Hingabe, war definitiv wichtiger, als wir glaubten.

Heiko hatte zuvor einen alten Freund und Mentor angerufen, um ihn um Rat für sein Bein zu bitten. Er war Heikos erster Mentor in der Naturmedizin gewesen und noch heute überraschte er ihn immer wieder aufs Neue. Mit wenigen Worten beschrieb Heiko, worum es gerade ging und Ulli erzählte ihm sofort alles, was wir in den letzten Tagen mit mühsamen Recherchen herausgefunden hatten. Das einzige, was er nicht ausschließen konnte war, dass ein Nerv durch die unsanfte Spritze verletzt wurde, die Heiko im Krankenhaus in Spanien bekommen hatte. Dafür sollten wir doch noch einmal einen Arzt aufsuchen. Ansonsten lag die Diagnose bei 90% auf Muskelüberreizung und Entgiftungsprozessen. Wieder etwas, dem man sich hingeben musste.

In unserem Zielort suchten wir dann zunächst eine Apotheke auf, um dort nach dem Mittel zur Nervenregeneration zu fragen, das Ulli empfohlen hatte.

„Das gibt’s hier nicht!“ lautete die kurze und beeindruckend prägnante Antwort der Apothekerin.

„Nicht auf Lager oder gar nicht?“ fragte Heiko.

„In ganz Frankreich nicht!“ antwortete die schroffe Dame.

Als nächstes versuchten wir unser Glück in der Arztpraxis. Die größte Schwierigkeit bestand hierbei zunächst darin, die Praxis überhaupt zu finden. Es war ein winziger Ort und man hatte in einer guten halben Stunde jeden Winkel mindestens drei Mal gesehen, doch die Arztpraxis lag so gut versteckt, dass man eine Schatzkarte brauchte, um sie zu finden. Selbst als wir sie schließlich erreichten, wären wir fast daran vorbeigelaufen. Zum Glück hatten wir von einer Kanadierin eine detailgetreue Beschreibung des Gebäudes bekommen, sonst hätten wir wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, dass es dort überhaupt ein Gebäude gab. Das winzige, rechteckige Häuschen, das sich in einem Winkel zwischen den Silos der Weinfabrik befand, trug den übermütigen Namen „Medizinisches Zentrum“. Laut den Schildern an der Tür wirkten hier vier verschiedene Ärzte. Da musste doch einer dabei sein, der etwas über eine Muskel- oder Nervenerkrankung aussagen konnte. Wir öffneten die Tür und befanden uns direkt in einem Wartezimmer mit neun Leuten. Das Gebäude war insgesamt gerade einmal so groß wie eine Streichholzschachtel und dieses Zimmer hier musste fast die hälfte davon einnehmen. Das bedeute in diesem Fall dass der Gang zwischen den Wartenden so schmal war, dass man nicht hindurchgehen konnte, ohne auf beiden Seiten gegen die Knie der Patienten zu stoßen. Doch selbst wenn uns das gelungen wäre, wo wären wir dann hingegangen? Einen Empfangstresen gab es nicht. Nur eine Tür mit der Aufschrift „Praxis“ aber da konnten wir ja kaum einfach hineinstürmen.

Uns blieben also nur zwei Optionen. Entweder, wir setzten uns auf die letzten beiden freien Stühle in der Warteschlange und hofften darauf, dass irgendwann einmal jemand auf uns aufmerksam wurde, oder wir vergaßen die Sache mit dem Arzt einfach. Wir entschieden uns für das einzig sinnvolle und machten uns auf den Heimweg. Selbst wenn wir nach 2 Stunden Wartezeit einen Termin bekommen hätten, war es noch immer unwahrscheinlich, dass uns dieser weiterbrachte. Der Notfallarzt in Spanien hatte bereits seine gesamte Diagnose auf raten und aufs Try-and-Error-Prinzip aufgebaut. Und gegen diesen Schuppen hier hatte das Krankenhaus noch einen wirklich seriösen Eindruck gemacht.

Im Ortskern kamen wir dann an einer Physiotherapiepraxis vorbei. Hier beginnt nun das eigentliche Mysterium des Tages.

Die Physiotherapiepraxis hatte geschlossen und sah abgesehen davon sogar noch etwas schäbiger aus, als das Ärztehaus. Konnte es wirklich sein, dass man hier nirgendwo einen Menschen fand, der auch nur ein bisschen was von Heilung verstand?

„Schau mal!“ sagte Heiko plötzlich. „Hier auf dem Türschild des Nachbarhauses steht der gleiche Nachname wie auf dem Praxisschild. Vielleicht ist das ja der Therapeut. Ich glaube, dahinten brennt sogar Licht!“

Es war jedenfalls einen Versuch wert und so drückten wir auf die Klingel und warteten, was passierte.

Es dauerte einen Moment, dann kam eine Frau auf uns zu. Durch die gläserne Eingangstür konnte man sehen, dass sie einen sonderbar hinkenden Gang hatte, den ich bereits einige Male, bei Schülern in meiner Zivildienstzeit gesehen hatte. Damals hatte ich in einer Schule für geistig- und mehrfachbehinderte Kinder gearbeitet. Einige von ihnen hatten eine angeborene Verformung der Beingelenke, so dass sie nur schwer gehen konnten. Diese Frau hier schien das gleiche zu haben.

Sie öffnete uns die Tür und schaute uns mit freudiger Verwunderung an. Ihr Englisch war nicht gut, aber doch wesentliche besser als unser Französisch und so erklärten wir ihr so gut es ging, warum wir geklingelt hatten.

„Das ist wirklich bizarr!“ sagte sie und wunderte sich sichtlich über unsere Zusammentreffen.

„Ich habe an sich nichts mit der Praxis zu tun. Ich bin nur das Mädchen, das nebenan wohnt. Und das noch nicht einmal lange. Wir sind vor zwanzig Tagen hier hergezogen und haben noch nicht einmal alles eingeräumt.“

Sie erzählte uns, dass sie selbst mit Energieheilung arbeitete und wenn wir wollten, dann würde sie einmal schauen, was sie für Heiko tun konnte.

Wenige Minuten später saßen wir in ihrem Wohnzimmer und sie befragte Heiko nach seinem Bein.

„Ich habe leider keinen Behandlungstisch, weil der noch immer im Umzug untergegangen ist, aber ich denke, ich kann dich auch auf dem Boden behandeln. Die einzige Decke, die es gab, war die von der Katze und so legte sich Heiko im Flur auf den Boden. Die Heilerin kniete sich neben ihn und begann mit den Händen über sein Bein zu fahren. Durch die Sprachbarriere konnten Heiko kaum etwas erklären, doch das war auch nicht nötig. Ohne ihn wirklich zu berühren und ohne etwas über ihn zu wissen spürte sie ganz genau, welche stellen betroffen waren. Sie erstellte ihm die gleiche Diagnose, die er zuvor auch von Ulli erhalten hatte: Die Lendenwirbel L3 und L4 waren verklemmt und strahlten den Schmerz ins Bein aus. Darüber hinaus war der Beinmuskel so verkrampft, dass er sich nicht mehr entspannen konnte. Dadurch drückte er auf den Nerv und auf die Blutgefäße und deshalb schlief das Bein immer wieder ein.

Surrender to the patient!

Die Frau hatte diesen Teil der Botschaft auf jeden Fall verstanden. Nicht ihr Verstand arbeitete. Sie spürte, wo welche Heilung nötig war und sie erlaubte ihren Händen genau dorthin zu fließen. Sie lud die Energie ein, durch sie zu strömen und Heiko das zu geben, was er gerade in diesem Moment benötigte. Und die Energie nahm die Einladung an. Wie zwei heiße Herdplatten spürte Heiko die Hände der Frau auf seinem Bein und seinem Rücken. Es ging eine starke, heilsame Kraft von ihnen aus, die beruhigend und gleichzeitig belebend wirkte.

„Gab es zufällig ein einschneidendes Ereignis, bevor die Schmerzen begonnen haben?“ fragte die Heilerin.

„Ja!“ sagte Heiko. Doch weil er die Geschichte von Hans und dem Verhungerungskonflikt nicht so erzählen konnte, dass sie es auf Englisch verstand, tippte ich sie in unseren Übersetzer auf dem Handy ein.

„Waow!“ sagte die Frau sichtlich betroffen. „Das ist wirklich bizarr! Ihr habt doch gerade den jungen Mann gesehen, der durch mein Wohnzimmer gelaufen ist. Er ist der Freund meiner Tochter und er hat eine ganz ähnliche Geschichte erlebt. Seit neun Jahren ist seine Mutter verschwunden, ohne dass er je wusste, was mit ihr war. Jetzt vor ein paar Wochen hat er herausgefunden, dass sie ermordet wurde. Auch bei ihm hat das eine Menge ausgelöst.“

Als Heiko schließlich aufstand war er leicht benommen. Er wusste nicht so recht was los war, doch er spürte deutlich, dass die Frau irgendeinen Prozess angestoßen hatte, der etwas veränderte.

„Für den letzten Teil kannst du dich auf den Stuhl setzen!“ sagte sie. Als Heiko saß, legte sie ihm die Hände auf den Kopf. Überrascht zuckte sie wieder zurück und rief: „Waoh! Du hast eine wirklich starke Aura! Das haben nicht viele Menschen! Es ist sehr ungewöhnlich!“

Nach der Behandlung wiederholte sie noch einmal ihren Satz vom Anfang: „Das ist wirklich bizarr, dass ihr hier so einfach auftaucht, vor meiner Tür. Ihr müsst wissen, ich habe seit zehn Monaten niemanden mehr behandelt. Früher habe ich das sehr viel gemacht, aber dann kamen ein paar wirklich negative Ereignisse in mein Leben und ich habe mich schlecht gefühlt. Wer sich schlecht fühlt, kann keine positive Energie spenden und so habe ich das heilen aufgegeben. Ich habe sogar daran gedacht, es ganz sein zu lassen und jetzt taucht ihr hier einfach auf, wie ein Zeichen, dass ich doch weitermachen soll. Zwei reisende Heiler vor meiner Tür, die selbst Hilfe brauchen. Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass wir uns getroffen haben. Ich habe euch ebenso gebraucht, wie ihr mich!“

Heiko legte ihr die Hand auf den Arm und sagte mit absoluter Bestimmtheit: „Du musst auf jeden Fall wieder behandeln! Es ist fast unglaublich, was du für eine heilende Kraft in dir hast, so ein Talent kannst du nicht einfach vergraben! Vielen, vielen Dank!“

Die Frau lächelte. Es war deutlich zu sehen, dass sie wieder neuen Mut gefasst hatte. Ihre Augen leuchteten und als wir uns von ihr verabschiedeten, hatten wir alle drei ein gutes Gefühl.

„Ich glaube, dass es auf vielen Ebenen wichtig war, hier zu landen!“ sagte Heiko auf dem Heimweg. „Überleg dir einmal dieses Paradoxon, erst mit dem Arzt, der eine bereits durch das bloße Betreten seines Wartezimmers krank macht und dann kommen wir an diese Heilerin. Ist es nicht unglaublich, wie viele Menschen es gibt, die wirklich helfen könnten, aber nichts mit ihrem Talent machen? Und wie viele Menschen sich auf der anderen Seite als Ärzte bezeichnen, die nur Schaden anrichten und niemandem weiterhelfen? Das ist doch absurd! Ich glaube, das ist auch noch einmal ein dicker Spiegel für unser eigenes Heiler-Dasein. Erst die Botschaft von Darrel und jetzt die Frau, die wieder den Mut findet, nach außen zu treten. Ich glaube, dass ist auch ein Teil der Hingabe. Der Intuition zu folgen um zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und wenn man dadurch heilt, dass man selbst ein schmerzendes Bein hat, das Hilfe braucht. Oh, a pros pros Heiler-Dasein: Von der Frau können wir uns auf jeden Fall noch einmal eine Scheibe abschneiden. Gegen die Power, die sie in den Händen hat, kommen wir nicht einmal im Ansatz an. Da dürfen wir noch ordentlich trainieren.

Spruch des Tages: Hingabe und Vertrauen

Höhenmeter: 20m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 6027,37 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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