Krafttier Reh

von Franz Bujor
17.04.2014 20:11 Uhr

In Saint Bartélemy bewohnten wir einen kleinen Veranstaltungssaal oben auf dem Berg neben der Kirche. Einen schöneren Ort hätten wir kaum finden können. Man hatte einen unglaublichen Blick über das ganze Tal und am Horizont ragten die Pyrenäen auf. Unsere täglichen Arbeiten verlegten wir daher ohne zu überlegen ins Freie, wo wir im Schatten unter einem Feigenbaum sitzen konnten. Außer uns lebten hier noch einige Smaragdeidechsen. Es sind sehr seltene und sehr schöne Tiere, die man kaum noch zu sehen bekommt. Sie sind giftgrün und deutlich größer, als die meisten anderen Eidechsen in Mitteleuropa. Ein frisch verliebtes Eidechsenpärchen lebte in einem Busch vor unserem Haus und ließ sich nach einiger Eingewöhnungszeit sogar aus der Nähe beobachten und fotografieren.

Ein verliebtes Smaragdeidechsen-Paar

Ein verliebtes Smaragdeidechsen-Paar.

 

Am Abend machten wir noch einmal eine Traumreise mit dem Ziel, endlich einmal unser Krafttier kennenzulernen. Bei mir blieb das leider wieder ohne besonderen Erfolg. Kaum hatte ich mit der Meditation begonnen, driftete ich auch schon wieder ab und landete in einer verwirrenden Welt aus konfusen Gedanken, die sich alle gegenseitig widersprachen. Schließlich nickte ich weg und träumte etwas, an das ich mich hinterher jedoch nicht mehr erinnern konnte.

Heiko erging es zunächst ähnlich, doch dann begegnete ihm im Traum immer wieder ein weibliches Reh.

„Ich glaube ja, dass ich mir das einfach eingebildet habe, oder dass wieder einmal meine Fantasie mit mir durchgegangen ist,“ sagte er nach dem Aufwachen, „aber vielleicht ist ja wirklich das Reh mein Krafttier.“

„Das könnte schon sein!“, meinte ich.

„Aber ein Reh?“ Heiko war nicht besonders zufrieden, „Ich hatte eigentlich an etwas Männlicheres gedacht. In den Heilungsreisen bei Darrel kamen ja immer wieder Wölfe und Coyoten vor. Oder wenigstens Rothirsche. Aber Rehe?“

Um sicherzugehen, testeten wir noch einmal, wie sich Heikos Muskeln zu diesem Thema verhielten.

Jeder Mensch hat sowohl ein nervliches Gedächtnis in Form seines Gehirns, als auch ein muskuläres. Alle unsere Erinnerungen und Erfahrungen werden also auf diese zwei Arten abgespeichert. Am leichtesten kann man das nachvollziehen, wenn man sich an eine Situation erinnert, in der man große Angst hatte oder sehr wütend war. Wenn ihr euch wirklich in eine solche Situation zurückversetzt, werdet ihr merken, dass ihr nicht nur die geistigen Bilder zurückrufen könnt, sondern dass sich auch euer Körper wieder so verhält, wie in der Erinnerung. Eure Muskeln werden sich anspannen und verkrampfen. Erinnerungen, Gefühle und Körperreaktionen sind untrennbar miteinander verbunden. Versucht einmal wirklich wütend zu werden, und dabei all eure Muskeln absolut zu entspannen. Es wird nichts funktionieren.

Dieses muskuläre Gedächtnis macht sich die Kinesiologie zunutze, um den Körper eines Menschen nach Antworten auf dessen Lebenssituationen zu befragen. Wann immer wir an etwas denken, dass eine positive Auswirkung auf uns hat, oder das uns als positiv in Erinnerung geblieben ist, sind unsere Muskeln leistungsfähiger als beim Gedanken an negative Einflüsse. Anders als unser Verstand können unsere Muskeln dabei nicht lügen und sie lassen sich auch nicht durch andere Menschen manipulieren. Wenn man also wissen will, wie man tief in seinem Inneren zu einem bestimmten Thema steht, kann man die Antwort mithilfe eines Muskelreflexionstests herausfinden.

In unserem Fall überprüften wir also, ob Heiko bei der Vorstellung von verschiedenen Krafttieren viel oder wenig Kraft in seinem Arm hatte. Und tatsächlich! Seine Kraft war immer gleich, egal an welches Tier er auch dachte. Nur beim Reh war sie stärker.

„Na toll!“, sagte er, als auch der letzte Zweifel aus dem Weg geräumt war. „Ein Reh! Ein Bär wäre auch ok gewesen, aber jetzt ist es halt Bambi. Immerhin weiß ich es jetzt. Auch wenn ich noch keinen blassen Schimmer habe, was mir das jetzt sagen soll.“

Wir lösten das Rätsel an diesem Abend nicht mehr auf, sondern gingen schlafen.

Am nächsten Morgen verließen wir Saint Bartélemy und stießen nach wenigen Kilometern auf die l’Adour, den Fluss, an dem wir schon zuvor ein gutes Stück entlang gewandert waren. Von hier aus führte er geradewegs nach Bayonne und anschließend in den Atlantik. Morgen würden wir also wirklich das Meer erreichen.

Der Mann, der uns vor zwei Tagen empfohlen hatte, diesen Weg zu nehmen, hatte nicht zu viel versprochen. Die Straße war zwar etwas breiter, aber nur schwach befahren und bot eine fantastische Aussicht. Links von uns lag der Fluss und rechts kamen wir an unzähligen Villen und Anwesen vorbei, die durchaus einen Blick wert waren. In der Ferne zeichneten sich zudem immer wieder die Pyrenäen ab.

Brücken über den Fluss L'Adour

Brücken über den Fluss L'Adour.

 

Bis zur Stadtgrenze von Bayonne waren es etwa 12 km. Dann machte die Straße einen kleinen Knick, führte einen steilen Hang hinauf und leitete uns zwischen den ersten Häusern hindurch. Kurz darauf führte sie als Brücke über die Autobahn hinweg. Hier konnten wir zum ersten Mal die ganze Stadt überblicken. Heiko holte die Kamera hervor und machte ein paar Bilder. Als er sie gerade wieder einstecken wollte, wurden wir von einem plötzlichen Geräusch von links erschreckt.

Wir drehten uns um und trauten unseren Augen nicht. Zwischen dem letzten Haus und dem Schallschutzzaun der Autobahn war ein schmaler Grünstreifen von etwa drei Metern Breite. Zur Straße hin war er mit einem Maschendrahtzaun versperrt. Auf diesem kleinen Flecken Natur standen nun zwei Rehe, ein Bock und ein Weibchen. Der Bock stand rund drei Meter von dem Zaun entfernt und beobachtete uns. Die Rehkuh hingegen war bis an den Zaun gerannt und hatte sich dagegen geworfen. Wäre der Zaun dort nicht gewesen, wäre sie direkt auf uns zugelaufen. Sie versuchte noch ein zweites Mal den Zaun umzustoßen. Als es ihr nicht gelang, trat sie zurück, schaute uns noch einen Moment lang an und verschwand mit dem Bock im Dickicht.

Sind Rehe Heikos Krafttiere?

Sind Rehe Heikos Krafttiere?

 

„Hast du das gesehen?“, fragte ich völlig perplex.

Ankunft in Bayonne.

Ankunft in Bayonne.

Heiko nickte. „Unglaublich! Wie kamen die denn dort hin? Und wieso tauchen sie genau jetzt dort auf?“

„Mh, keine Ahnung!“, sagte ich mit einem ironischen Unterton, „Wenn hier irgendjemand anwesend wäre, der ein weibliches Reh als Krafttier hat, dann könnte ich es mir vielleicht erklären ...“

„Ach sei doch ruhig!“, antwortete Heiko mit gespielter Ablehnung, „langsam wird das ganze Zeug echt ein wenig scarry!“

In Bayonne suchten wir zunächst die Kathedrale auf. Eine Frau, die damit beschäftigt war, ein paar Tauben zu füttern, erklärte mir den Weg von dort zur Touristeninformation. So wie sie ihn beschrieb, war es sicher ein guter Weg, doch musste die Beschreibung zu einer gänzlich anderen Stadt gehören. Denn keiner der von ihr erwähnten Orte existierte hier und am Ende fand ich heraus, dass die Information in der exakten Gegenrichtung ihrer Beschreibung lag.

Als ich sie schließlich fand, erhielt ich eine ungenaue Straßenkarte und die vage Information, dass es einen Pfarrer gäbe, der sich um Pilger kümmere, der sich wahrscheinlich in der Kathedrale aufhalte. Ich kehrte also zum Ausgangspunkt zurück und traf dort wirklich auf den Pfarrer. Er war gerade dabei, zwei jungen Touristen einen detaillierten Vortrag über die Entstehung der Kathedrale zu halten und es kostete mich gut 15 Minuten, bis ich eine Pause in seiner Rede fand, die lang genug war, um mich einzuklinken. Schließlich aber erhielt ich die Zusage, dass wir bei einem Pärchen übernachten konnten. Ab 18:00 konnten wir bei ihnen auftauchen. Bis dahin durften wir unsere Wagen in der Kathedrale beim Pfarrer verstauen und konnten uns so in Ruhe die Stadt anschauen.

Spruch des Tages: Dein Verstand kann dich täuschen, nicht aber dein Herz.

 

Tagesetappe 21 km

Gesamtstrecke: 2121,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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