Langschwanzkrebse

von Franz Bujor
14.04.2014 20:39 Uhr

Irgendetwas trübt noch immer unsere Stimmung und wir bekommen einfach nicht heraus, was es ist. Heute war wieder ein herrlicher Sonnentag mit vielen Geschenken und doch spürten wir beide eine permanente, innere Unzufriedenheit. Nicht stark, nicht so, dass es uns wirklich belastete, aber doch genug, um zu merken, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn wir doch nur wüssten, was. Zwischenzeitig war ich schon richtig von mir selber angenervt, weil ich mich einfach nicht über den schönen Tag freuen konnte. Ich weiß, das ist überhaupt nicht sinnvoll und führt auch nicht dazu, dass es einem besser geht, aber manchmal macht man so was eben. Liegt es vielleicht daran, dass wir gestern wieder in einer Gruppenunterkunft übernachtet haben, in der wir keinen Freiraum hatten und in der wir wieder zu einer unmenschlichen Zeit geweckt wurden? Das wäre durchaus möglich, denn besonders gut geschlafen habe ich dadurch nicht und auch Heiko war nicht ganz auf seiner Höhe. Vielleicht kommt ein bisschen das Gefühl auf, dass dies nicht die Art ist, auf die wir leben wollen. Interessante Menschen besuchen und dort nächtigen, dagegen war überhaupt nichts einzuwenden. Auch in Gemeindehäusern, Altenheimen oder Veranstaltungsräumen zu übernachten, in denen wir unseren Raum für uns hatten, war klasse. Aber mit fünf Mann in einen 12-Quadratmeter-Raum gesperrt zu sein, von denen vier schnarchten und in dem jede Matratze laut aufquietscht, sobald sich einer umdreht, das war einfach nichts für uns. Es sprach auch vollkommen gegen den Heilungscharakter unserer Reise und vielleicht war es auch genau das, was uns unzufrieden machte. Nicht die Tatsache, dass es solche Herbergen gab, sondern dass wir bereits beim ersten Mal beschlossen hatten, nie wieder darin zu schlafen, wenn sie bereits belegt sind und dass wir uns bereits jetzt wieder untreu geworden sind. Und das nur, weil wir nicht darauf vertrauen konnten, dass eine bessere Lösung auf uns wartete. Selbst dann nicht, wenn wir die bessere Alternative in Form eines Zeltes schon seit mehr als 100 Tagen mit uns herumtrugen.

Vielleicht lag die innere Unzufriedenheit aber auch an etwas ganz anderem. Sowohl bei Heiko als auch bei mir kam in letzter Zeit immer öfter die Frage nach einer Partnerin auf. Irgendwie hatte ich mir vor der Reise eingebildet, dass es bestimmt ein leichtes sei, auf einer solchen Weltreise jemanden kennenzulernen, der zumindest ein Stück weit mit uns mitziehen würde. Doch so einfach ist es offensichtlich nicht. Hinzu kommt, dass ich nicht einmal weiß, wie ich insgesamt damit umgehen will. Suche ich gerade nach einer Darma-Partnerin, die den gleichen Weg hat wie ich oder eher nach kurzen und intensiven Begegnungen? Bei beidem fällt es mir im Moment schwer, mir eine wirklich gute und funktionierende Variante vorzustellen. Zumindest eine, die ich mir selbst glaube. Solange unsere Reise vom Gefühl er ein Urlaub war, war das kein Problem, doch je mehr sich die Tatsache ins Bewusstsein drängt, dass es ein Lebensstil ist, desto präsenter wird auch die Frage nach einer guten Lösung für Liebe, Sexualität und Partnerschaft.

Unsere Mitpilger in Dax.

Unsere Mitpilger in Dax.

 

Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass mir die Blasen an den Füßen das Wandern verleiden. Auch dies ist ein Problem, dass bei Heiko und mir zur gleichen  Zeit aufgetaucht ist. Er hat zwar keine Blasen, dafür tut ihm die Sehne weh. Dies wäre die einfachste Lösung.

Vielleicht ist es aber auch noch etwas ganz anderes, oder alles zusammen. Irgendwie werden wir es schon noch herausfinden.

Die Stierkampfarena in Dax.

Die Stierkampfarena in Dax.

Unser Weg führte uns heute zunächst an einer Schnellstraße und dann an einem großen Fluss entlang. Der Wanderweg begann als gut ausgebaute Schotterstraße, wurde dann aber mehr und mehr zu einem Dschungelpfad, der mit den Wagen kaum noch passierbar war. Zweimal kenterte mein Wagen und beim zweiten Mal war ich so sauer auf meinen Karren, den Weg und die vielen Stechmücken, die mich piesackten, dass ich kurz davor war, mit aller Wucht dagegen zu treten. Gegen den Wagen natürlich, nicht gegen die Mücken, das hätte mir wohl kaum eine Befriedigung gebracht. Ich besann mich dann aber doch eines besseren und trat lieber gegen einen Ast. Der konnte zwar auch nichts dafür, aber er nahm wenigstens auch keinen Schaden. Auch dies war wieder ambivalent. Auf der einen Seite machte es schon Spaß, diese abenteuerlichen Wege entlangzuwandern und sich durchs Unterholz zu schlagen. Auf der anderen Seite waren wir aber auch frustriert, weil hier einfach jeder vielversprechende Wanderweg am Ende im Nichts zu verlaufen scheint.

Als wir schließlich wieder einigermaßen festen Boden unter den Füßen hatten, kamen wir in ein Ödland aus Agrarflächen, die über und über mit Schlamm bedeckt waren. Es konnte nur ein paar Tage her sein, seit der Fluss über seine Ufer getreten ist und das ganze Land überschwemmt hat.

„Krass! Was ist das denn?“ rief Heiko plötzlich und blieb stehen. Auf dem Weg lag der Panzer eines Langschwanzkrebses, der erst vor Kurzem gestorben war.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es die hier gibt!“ fuhr er fort, „Schau dich mal um, das sieht doch nicht so aus, als würde hier überhaupt etwas leben können!“

Ein Langschwanzkrebs

Ein Langschwanzkrebs.

 

Links und rechts des Weges waren kleine Gräben, in denen sich eine trübe, dunkelbraune Suppe befand. Auf ihr schwamm eine Dicke schickt an Metalloxiden und öligen Substanzen, die von den Feldern ins Wasser gespült wurden. Und tatsächlich! Unter dieser giftigen Schicht tummelten sich Massen an Langschwanzkrebsen. Wir stellten unsere Pilgerwagen ab und machten uns daran, die kleinen Lebewesen genauer unter die Lupe zu nehmen. Viele von ihnen waren noch ganz klein und mussten gerade erst geboren worden sein. Dies war mit Sicherheit nicht der Ort, an dem man als Krebs seine Kinder aufwachsen sehen wollte. Und doch tummelte sich hier das Leben. Wir konnten es nicht fassen, wie hartnäckig die Natur war. Selbst in einer solchen Giftdeponie war es möglich, dass Leben existierte.

„Aber genau das ist der Punkt!“, meinte Heiko später, „es ist möglich zu existieren! Ich glaube, das verwechseln wir ganz oft. Klar sind auch wir Menschen hartnäckige Säue, die unter allen noch so widrigen Bedingungen existieren können. Aber ist es dann wirklich ein Leben? Natürlich kann man in einem Wohnbunker in der zehnten Etage auf neun Quadratmetern wohnen, in dem die Wände so dünn sind, dass man seine Nachbarn atmen hört. Natürlich kann man neben Autobahnen und Schnellstraßen wandern, sodass man sich anschreien muss, wenn man sich verstehen will. Und natürlich kann man 40 Jahre lang in einer stickigen Fabrik oder in einem Büro ohne Sonnenlicht eine Arbeit ausüben, die einem keinen Spaß macht und die man nur tut, weil man das Geld braucht. Aber ist dass dann wirklich Leben? Ich glaube, dass wir uns oftmals so sehr daran gewöhnt haben, dass wir nur noch existieren und nicht mehr leben, dass wir den Unterschied schon gar nicht mehr merken.“

War das vielleicht auch wieder ein Schlüssel zu unserer inneren Unzufriedenheit? Dass wir uns war, bewusst waren, dass wir auf tausend Arten existieren und überleben konnten, aber noch immer nicht wussten, wie genau wir eigentlich leben wollten? Oder dass wir es vielleicht wussten, aber noch immer nicht wirklich taten?

Die Brücke nach Saubusse

Die Brücke nach Saubusse.

 

Dass wir in Saubusse, dem nächsten größeren Ort übernachten wollten, stand außer Frage. Die Füße waren platt und schmerzten und auch mit der Energie waren wir recht am Ende. Doch als wir dort ankamen konnte ich mir zunächst überhaupt nicht vorstellen, dass wir hier irgendeinen Schlafplatz finden sollten. Es war Sonntag, das Rathaus hatte ebenso geschlossen wie die Touristeninformation und um privat unterzukommen war es eigentlich zu schön. Dass wir überhaupt fragten und nicht unser Zelt aufbauten, hatte auch mehr mit Faulheit als mit irgendetwas anderem zu tun. Nach einem kurzen Stadtrundgang, der genauso erfolglos verlief, wie ich ihn mir ausgemalt hatte, entdeckte ich fünf ältere Damen, die in einem Garten ein Kaffeekränzchen abhielten. Ich schilderte ihnen meine Bitte und wurde erst einmal eingeladen, mich zu setzen und etwas zu trinken. Ich winkte Heiko herbei und kurz darauf saßen wir vor einer Portion Nudeln mit Ziegenfleisch und warteten auf einen Rückruf vom Bürgermeister. Die Frauen erzählten uns, dass sie allesamt Schwestern waren. Das Haus hier gehörte ihrer Mutter, die vor kurzem gestorben war. Deshalb hatten sie sich hier versammelt, um gemeinsam Abschied zu nehmen. Heute Abend fuhren jedoch alle wieder nach Hause, sonst hätten wir auch hier übernachten können. Weil der Bürgermeister noch immer nicht angerufen hatte, als wir mit dem Essen fertig waren, bekamen wir noch Tee und Kuchen. Als wir fertig waren, kamen zwei Menschen, die uns den Festsaal des Ortes zeigten, in dem wir schlafen dürfen.

Spruch des Tages: Egal wo du auch hingehst, deine inneren Lernprozesse nimmst du immer in deinem Rucksack mit. (Oder im Pilgerwagen)

 

Tagesetappe 19,6km Gesamtstrecke: 2085,17 km  
Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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