Loslassen: Web mit dem überflüssigen Balast!

von Franz Bujor
07.03.2014 11:30 Uhr

Omas sind toll! Und dabei ist es vollkommen egal, um wessen Oma es sich dabei handelt. Ok, das mag jetzt etwas plakativ klingen, aber nachdem wir heute Morgen auch noch die leckersten Schoko-Crêpes unseres Lebens bekommen haben, kann ich nicht anders, als meinen Bericht so zu beginnen!

 
Sonnenaufgang über den Feldern.

Sonnenaufgang über den Feldern.

 

Dieser eine Moment gestern, an dem wir vor der Kirche saßen und der Abend plötzlich in eine ganz andere Richtung gegangen ist, hat uns heute noch einmal viel beschäftigt. Es war ein wahrhaft symbolischer Moment. Auch wenn wir jetzt an 64 Tagen, 64 Mal eine Unterkunft und ausreichend zu essen bekommen haben, ist doch täglich wieder eine kleine Angst in uns, die sagt, dass es heute wahrscheinlich nicht klappen wird. Es kann ja nicht immer gutgehen! Jedes Mal, wenn es auf den Abend zugeht, kommt wieder eine innere Anspannung und eine Art Verbissenheit auf, die erst dann verschwindet, wenn der Schlafplatz sicher ist. Wie stark diese innere Verbissenheit noch immer ist, merken wir zum Beispiel beide an den starken Verspannungen in unserer Kiefermuskulatur. Achtet mal darauf, wie oft ihr unterm Tag ohne einen triftigen Grund die Zähne zusammenbeißt! Und massiert einmal die Stellen links und rechts vom Mund, an der sich das Kiefergelenk befindet! Ich weiß nicht, ob es euch auch so geht, aber bei mir ist es der Wahnsinn, wie sehr ich mich da verspanne. Jetzt, wo ich davon schreibe, mache ich es schon wieder!

 
Mit zu viel Gepäck wird die Reise einfach zu anstrengend.

Mit zu viel Gepäck wird die Reise einfach zu anstrengend.

 

Aber zurück zum Thema! Als wir den Platz im Schuppen sicher hatten und beim Abendessen den Sonnenuntergang beobachteten, fiel alle Anspannung von uns ab. Wir waren nicht mehr auf der Suche. Wir hatten losgelassen und damit konnten die Dinge auf uns zukommen. Eben noch dachten wir, wir schlafen in einer Abstellkammer und im nächsten Moment werden wir in einen Palast eingeladen und so herzlich empfangen und bewirtet wie nur selten auf in unserem Leben. Und das will was heißen, denn wir haben schon wirklich viele gute Erfahrungen in dieser Richtung gemacht. Wie oft im Leben erlebt man genau diese Situation. Je krampfhafter man etwas versucht, desto weniger will es gelingen. Und dann, wenn man eigentlich gar nicht mehr daran denkt, dann kommt alles von alleine. Diese Entspannung, dieses im Fluss leben, dieses Loslassen ist vielleicht die größte Lektion, die wir auf unserer Reise lernen können. Heute in der Früh haben wir gleich einmal auf der physischen Ebene damit angefangen. Im Garten unserer Gastgeber breiteten wir den gesamten Inhalt unserer Pilgerwagen aus und sortierten all die Dinge aus, die wir mit uns herumschleppen, aber niemals brauchen werden. Am Anfang sah es so aus, als wäre das nicht besonders viel, doch dann bekamen wir eine Kiste mit etwa 5 Kilo zusammen. Wir schnallten sie auf Heikos Wagen, um sie bis zur nächsten Post transportieren zu können, doch wir hatten unsere Rechnung ohne unsere Gastgeber gemacht. Nicht nur, dass sie uns mit einer großen Tüte an Tagesproviant inklusive weiterer Crêpes versorgten, sie boten sich auch als Kuriere für unser Kehrpaket an. Wie wichtig dieses Angebot für uns war, wurde uns erst zwei Stunden später bewusst, als wir an den verschlossenen Türen der Poststation vorbeikamen. Sie hatte wieder einmal Siesta. Wir hätten unser Paket also weitere 10 km mit uns herumkutschieren müssen.

 
Erleichtert wandern wir durch den Frühling

Erleichtert wandern wir durch den Frühling.

 

So aber konnten wir befreit und leicht durch den Frühling wandern. Das Wetter war herrlich und so warm, dass wir zum ersten Mal unsere Sommerhosen anziehen konnten. Anders als erhofft, führte die Sonne jedoch nicht dazu, dass wir uns wie neugeboren fühlten. Im Gegenteil, wir fühlten sogar noch deutlicher als zuvor, dass unsere Psyche auf Hochtouren arbeitete. Es ist uns bleibt ein Heilungsweg, bei dem man einfach lauter Seelenballast verarbeitet, ob man es nun will oder nicht. Solange das Wetter beschissen ist, kann man natürlich jede Stimmungsschwankung auf den Regen, den Hagel, den Wind, die Kälte oder die nassen Schuhe schieben. Doch bei strahlendem Sonnenschein wird sofort klar, dass all das nur Ausreden sind. Die Themen sind in uns und da wollen sie auch aufgelöst werden.

 
Sind diese beiden auch so nachdenklich wie wir?

Sind diese beiden auch so nachdenklich wie wir?

 

A-pros-pros nasse Schuhe! Ich weiß nicht, ob ihr jemals nasse Schuhe trocken gelaufen habt, aber es ist die absolute Hölle für jeden Geruchssinn. Schuhe trocken zulaufen führt dazu, dass sie zu stinken beginnen, und zwar nicht nur ein bisschen, sondern siebzig Meilen gegen den Wind. Meine Schuhe bestehen bereits seit Wochen nur noch aus Löchern und durch den vielen Regen, habe ich sie viele Male trocken laufen müssen. Jetzt kommt auch noch die Sonne hinzu, die dazu führt, dass die Füße zu schwitzen beginnen. Dadurch wurde es heute so schlimm, dass wir die Schuhe in der Unterkunft, die wir bekamen, nicht nur aus unserem Raum, sondern in eine leere Kammer einsperrten, um zu verhindern, dass wir andere Menschen, die das Gemeindehaus betraten, damit umbrachten.

Blick in die Ewige Weite

Blick in die ewige Weite.

 

Als ich meine Socken waschen wollte, merkte ich, dass unsere Seife fehlte. Ich versuchte mich zu erinnern, wo sie sein könnte und stellte mit Erschrecken fest, dass ich sie im Altenheim in Nevers liegengelassen haben musste. Diese verdammte Unaufmerksamkeit! Ich könnte mir grad selbst dafür in den Arsch beißen! Klar, es ist nur eine Seife und es hätte etwas viel Wichtigeres sein können. Aber dieses ständige Gefühl, irgendetwas zu übersehen und die Angst irgendetwas liegenzulassen macht mich grad ganz kirre. Immer wenn ich gerade glaube, dass ich etwas besser werde, was das anbelangt, kommt wieder so etwas. Ich weiß, sich ärgern hilft da nicht! Aber Arrrrg! Verdammt! Es muss doch möglich sein, soweit einen klaren Kopf zu haben, dass ich zumindest an die einfachen und naheliegenden Dinge denke!

 
Ein verlassener Oldtimer

Ein verlassener Oldtimer.

 

Kurz bevor wir Saint-Amand erreichten, trafen wir auf zwei Männer, die uns auf unsere Reise ansprachen. Sie waren wirklich freundlich und wir hätten gerne eine Weile mit ihnen gesprochen, aber die Kommunikation war so schwierig, dass wir kaum etwas zustande brachten. Französisch war einfach keine leichte Sprache. Wieder einmal fragten wir uns, warum die Menschen überhaupt so viele unterschiedliche Sprachen entwickelt hatten. Wenn sich bei über zwei Milliarden Tierarten die wir bislang erkannt haben, alle überall auf der Welt miteinander verständigen konnten, warum machte es der Mensch sich dann so kompliziert. Wenn wir wirklich einmal um die Welt gehen wollen und in jedem Land die Landessprache lernen müssen, kommen wir wahrscheinlich zu nichts anderem mehr. Noch befinden wir uns in Europa, wo die Sprachen alle den gleichen Ursprung haben. Wie soll das aber erst in Regionen werden, in denen es gar keine Gemeinsamkeiten mehr gibt? Von allen Tierarten auf der Erde ist der Mensch der einzige, der seinen eigenen Lebensraum zerstört, der andere Tierarten ausrottet und die Mitglieder seiner eigenen Art ausbeutet und tötet. Wenn jegliche Art von Konflikt auf einem Mangel an Verständnis beruht, dann ist die Unfähigkeit des Menschen mit anderen Arten und mit seiner eigenen zu kommunizieren vielleicht eine der Hauptursachen dafür.

 
Die Innenstadt von Saint-Amand

Die Innenstadt von Saint-Amand.

 

Vor der Kirche von Saint-Amand trafen wir auf einen Pfarrer, den wir um einen Schlafplatz baten. Er hatte sofort einen für uns parat und als ich noch einmal darauf hinwies, dass wir ohne Geld reisten, meinte er bloß: „Klar reist ihr ohne Geld! Ihr seid jung, glaubt ihr etwa, man würde euch das nicht ansehen?“ Dann lachte er und zeigte uns den Weg.

Damit es nicht wieder unter den Tisch fällt, begannen wir diesmal den Abend damit, die positiven Routinen einzuhalten, die wir uns vorgenommen haben. Heute war Akupressur an der Reihe. Eine einfache Übung zum Steigern der Selbstheilungskräfte, zum Ausgleich des vegetativen Nervensystems und zur Steigerung der Gehirnleistung und der Aufmerksamkeit. Vielleicht hilft es mir ja auch dabei, die Schusseligkeit abzulegen.

 
Unsere Unterkunft in Saint-Amand

Unsere Unterkunft in Saint-Amand.

 

Spruch des Tages: Auch wer 'Sonne im Herzen' hat, muss hin und wieder mit dunklen Wolken rechnen, die sie bedecken.  (Willy Meurer)

Tagesetappe: 25,5 km

Gesamtstrecke: 1364,77 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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