Tag 1000: Österreich wir kommen!

von Heiko Gärtner
27.09.2016 22:38 Uhr

14.11.2016

Am Morgen kamen wir wieder einmal kaum aus dem Bett. Die Doppeletappe vom Vortag hatte uns mächtig geschlaucht und die Erschöpfung un Müdigkeit der letzten Tage lag uns noch tief in den Knochen. Dennoch packte uns auch die Vorfreude auf Österreich. Von unserem Schlafplatz waren es nun nur noch rund 30km bis zur ersten Ortschaft hinter der Grenze und wir konnten es kaum noch erwarten, dort anzukommen. Bis es jedoch soweit war, hatten wir noch zwei spannende Begegnungen mit anderen Reisenden, die ebenfalls eine ganze Weile unterwegs waren. Die ersten waren ein Rentnertrupp aus Dänemark, die sich direkt nach ihrer Pensionierung einen lange gehegten Traum erfüllten und zu dritt einmal quer mit dem Rad durch Europa tourten. Sie reisten mit absolutem Leichtgepäck, sowohl was den physichen als auch was den seelischen Ballast anbelangte. Man spürte ihre Lebensfreude deutlich und man merkte auch, dass sie ein eingeschweißtes und gut harmonisierendes Team waren. Spannender weise hatten sie, da sie mit Geld unterwegs waren die entgegengesetzen Erfahrungen gemacht, was die Mentalität der Polen und der Tschechen anbelangte. Die Tschechen hatten sie zwar ebenfals nicht als herzliche und hilfsbereite Menschen empfunden, doch sie hatten sie als recht höflich und zuvorkommend wahrgenommen. Die Polen hingegen empfanden sie überwiegend als unfreundliches und abweisendes Volk. In gewisser Weise dekte sich dies auch mit unseren Erfahrungen, nur hatten wir in Polen immer wieder herzliche Menschen getroffen, die das Gesellschaftsbild vollkommen durchbrochen hatten. In Tschechien hingegen war die oberflächliche Höflichkeit, die die Dänen wahrgenommen hatten in der Regel in dem Moment verschwunden, in dem klar wurde, dass wir keinen direkten finanziellen Vorteil bringen würden.

Die zweite Begegnung hatten wir mit zwei jungen Amerikanern. Sie stammten aus New York und waren gerade mit dem Studium fertig. Beide hatten bereits einen festen Job, der aber noch nicht begonnen hatte und so nutzen sie die Zeit um sich Europa antuschauen. Ein oder zwei Jahre zuvor hatten sie bereits eine Radwanderung durch die Vereinigten Staaten gemacht. Ihre Erzählungen darüber beruhigten und beunruhigten uns gleichermaßen. Zum einen musste man wirklich gut unterwegs sein können und auch das Zusenden von Paketen mit Ersatzmaterialien sollte kein Problem werden. Man konnte es nicht nur an Postfilialen sondern auch an Hotels schicken und später abholen, selbst dann, wenn man nicht darin übernachtete. Zum anderen gab es aber auch immer wieder Passagen, in denen es für Dutzende von Kilometern keine anderen Straßen außer der Hauptverbindungswege gab. Es gab sogar Bundesstaaten, in denen es Fußgängern und Radfahrern erlaubt war, auf der Autobahn zu gehen, bzw. zu fahren, da es ansonsten keine Alternativen gab. Osteuropa hatten sich die beiden hauptsächlich wegen des Geldes ausgesucht, da sie vermuteten, dass man hier wesentlich billiger unterwegs sein konnte, als in Mittel- oder Westeuropa. Ob dies wirklich stimmte waren wir uns unsicher, aber die Vermutung war nachvollziehbar. Einer der beiden hatte außerdem europäische Geschichte studiert und war daher besonders an der Ukraine interessiert. Von ihm erfuhren wir sogar noch einige Fakten, die wir zuvor nicht gewusst hatten. Im Westen der Ukraine hatte es einst einige Ölfunde gegeben, von denen man glaubte, dass sie zu einem großen und ertragreichen Ölfeld gehörten. Dadurch wurde das Land plötzlich für alle Seiten interessant. Die Österreicher wollten es haben, die Polen und natürlich die Russen. Die Ukrainer, die eigentlich Selbstständig sein wollten, fragte natürlich niemand. Später stellte sich dann heraus, dass es keine großen Ölfelder gab und dass die gefundenen Quellen so lächerlich klein waren, dass sich ein Abbau nicht lohnte. Aber da war der Krieg schon im Gange. Spannend war, wie sie beiden Jungs das Radfahren in Europa wahrnahmen. Den Greenway beschrieben sie treffender Weise als "absolut ineffektiv". In Amerika waren die meisten Straßen wie mit einem Lineal schnurgerade durch das Land gezogen und die Ortschaften lagen in der Regel in einem Abstand von rund 50km von einander entfernt. Dadurch legten die Jungs pro Tag ordentlich Strecke zurück und hatten immer das Gefühl, gut voranzukommen. Hier lagen oft nur 5km zwischen den Ortschaften und die Straßen schlängelten sich dazwischen wie Regenwürmer. "Es ist nicht nur, dass wir hier viel weniger Kilometer machen als in den Staaten," meinte der größere der beiden, "Wir fahren dabei auch noch ständig im Kreis. Jetzt hier an diesem Punkt sind wir näher an dem Platz, an dem wir vorgestern übernachtet haben, als an dem, von dem wir heute in der Früh gestartet sind!" So falsch war ihre Beobachtung nicht, denn obwohl wir nach Wien und die beiden Amerikaner nach Prag wollten, liefen wir auf dem Weg in die gleiche Richtung. Sinnvoll war dies sicher nicht. Aber darum ging es hier ja auch nicht. Es war eben in Europa nicht das Ziel, möglichst schnell große Distanzen zu überwinden, sondern auf dem kleinen Raum, der da war, die schönsten Strecken ausfindig zu machen. Und dies schafte der Greenway mit Bravour!

Obwohl Österreich nun bereits zum Greifen nahe lag, war es als wollte uns Tschechien einfach nicht loslassen. Die Strecke zog sich ewig zwischen den Feldern hin und es war, als kämen wir keinen Millimeter voran. Langsam konnten wir die beiden Jungs doch verstehen. Als wir schließlich den letzten Ort vor der Grenze erreichten, nutzten wir den einzigen Supermarkt des Ortes, um unsere letzten tschechischen Kronen loszuwerden. Wieder einmal zeigte sich, dass dies weit schwieriger war als gedacht, denn es gab einfach nichts Sinnvolles, das man kaufen konnte. Natürlich war es geschenktes Geld, das in nur wenigen Metern für uns seinen Wert verlor, aber trotzdem sahen wir es irgendwie nicht ein, damit Dinge zu kaufen, die wir auch immer wieder umsonst bekamen. Wenn, dann sollte es schon etwas besonderes sein. Zunächst dachten wir dabei an Pizza, denn direkt neben dem Supermarkt befand sich eine Pizzeria. Doch nach dem kurzen Gespräch mit der Cheffin war uns der Appetit vergangen. Der Preis für die Pizza selbst war vollkommen in Ordnung, aber sie verlangte noch einmal einen Euro Aufpreis für den Karton in den sie eingepackt werden sollte. Eine solche Abzocke konnten und wollten wir nicht unterstützen, Geschenk hin oder her. Im Endeffekt kamen wir dann bei einer Familienpackung Eis, vier kleinen Puddingbechern, einem Saft und einigen Fertigsuppen für dne Notfall heraus. So besonders Ernährungsplangerecht war dies nicht, aber etwas anderes fiel uns einfach nicht ein. Einen Moment überlegten wir, ob wir ein Glas Sauerkraut mit Würstchen kaufen sollten, doch in Anbetracht des Grenzwechsels waren wir davon überzeugt, dass dies heute einfach nicht nötig sein würde. Eine Annahme, die wir später noch bereuen sollten. Direkt vor der Grenze trafen wir dann die beiden Amerikaner ein zweites Mal. Sie hatten im gleichen Supermarkt eingekauft wie wir und machten gerade ein Picknich in einer kleinen Wanderhütte. Vor allem den kleineren von beiden machte es fertig, dass sie nun den ganzen Tag durch Tschechien geradelt waren und nun am Abend gerade einmal zwei Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt waren. Der Grenzübergang selbst war einer der beeindruckendsten, den wir je passiert hatten. Auf der einen Seite gab es die Grenze nicht einmal mehr. Wir waren im inneren europäischen Raum und rein Theoretisch machte es keinen Unterschied mehr, ob man sich auf der einen oder auf der anderen Seite befand. Es gab an dieser Stelle nicht einmal ein Europa-Schild mit der Aufschrift "Österreich". Das einzige, was überhaupt auf den Staatenwechsel hinwies, war ein großes Schild, das die Autofahrer über die Mautgebüren im Land aufklärte. Auf der anderen Seite war die Grenze aber auch so präsent und stark wie keine je zuvor. Direkt zwischen Ort und Grenzübergang befand sich ein Puff, in dem man billig an tschechische Mädels kommen konnte. Im ganzen Land hatten wir bisher kein einziges Bordell gesehen, doch hier an der Grenze tauchte es auf uns bewarb seine Dienstleistungen mit einem riesigen Werbeschild. Das alte Grenzwachhäuschen, in dem sich früher die Kontrollbeamten und der Zoll befunden hatten, war nun ein Casino. Konnte es eine Möglichkeit geben, die Absurdität noch stärker zu parodieren? Es gab sie tatsächlich! Auf die letzten paar Meter vor der Grenze ballte sich das Klischeebild von Tschechien auf engstem Raum zusammen. Hier gab es plötzlich einen großen Tschechenmarkt mit lauter gefälschten Markenprodukten und anderem billigen Ramsch. Ein Markt also wie man ihn von Tschechien erwarten würde. Gleich daneben waren ein Einkaufszentrum, ein weiteres Casino, ein Kinderspieleparadies, ein Wellnessspa und vieles mehr. Hinzu kamen zwei kleine Wechselstuben, die außerdem gefälschte Zigaretten und Alkohol im Programm hatten. Sogar die Tankstelle hatte sich so sehr auf den Grenzbereich eingestellt, dass hier nun der Sprit deutlich billiger war, als im Landesinneren. Tanken in Tschechien war im Allgemeinen nicht besonders günstig, aber es musste an der Grenze so aussehen damit die Österreicher kamen und ihr Geld hier ließen. Es schien langsam wirklich, als wäre das ganze Land nur darauf aus, jedem Touristen den letzten Cent aus der Tasche zu ziehen.

Als wir Laa an der Thaya erreichten, konnten wir nicht verhindern, dass zunächst ein Wenig Enttäuschung in uns aufkam. Die Stadt wirkte nicht anders als die Städte zuvor, nur dass hier deutlich mehr Verkehr war und dass der Fahrradweg nun an der Hauptstraße entlang führte und sich nicht wie gewohnt über Nebenstraßen ins Zentrum schlängelte. In dieser Hinsicht hatten wir uns von Österreich eigentlich mehr erhofft. Die Enttäuschung verschwand jedoch, als wir den Pfarrhof erreichten und ins Gespräch mit den ersten österreichischen Damen kamen. Es war sofort ein lockeres und entspanntes Gespräch und innerhalb von Sekunden war klar, dass wir einen Schlafplatz im Gemeindesaal sicher hatten. Der Pfarrer selbst wurde nicht einmal gefragt, sondern nur informiert. Es war hier nicht einmal etwas Besonderes, dass Menschen im Saal übernachteten. Erst gestern war ein anderer Reisender im gleichen Saal gewesen, der ebenfalls aus Deutschland stammte. Gegenüber von unserem Schlafquartier befand sich eine kleine Wohnung, in der eingie Flüchtlinge untergebracht waren. Es war spannend, dass wir nach all der Zeit nun ausgerechnet hier das erste Mal in Kontakt mit echten Flüchtlingen kamen. Interessant war aber auch, dass es auch hier wieder deutlich weniger waren, als man ursprünglich erzählt hatte. Irgendwie passte es noch immer alles nicht richtig zusammen. Nachdem wir unser Zimmer bezogen hatten, machten wir noch eine kleine Runde durch die Stadt, um an ein Abendessen zu kommen. Dies gestaltete sich jedoch weitaus schwieriger, als wir vermutet hätten, denn zum einen hatte fast alles geschlossen und zum anderen waren die Menschen bei weitem nicht so spendabel wie wir es uns erhofft hatten. Man merkte deutlich, dass wir uns im Grenzgebiet und noch dazu in eienr reinen Touristenstadt befanden. Außerdem musste ich mich erst einmal wieder daran gewöhnen, dass ich nun wieder mit den Leuten reden konnte. Die Zeit in der ich stur wie ein Robotter meinen einen Satz runterbeten konnte, war vorbei. Hier musste ich wirklich ein Mensch sein und lernen, auf meine Gegenüber einzugehen. Eine wichtige und gute Aufgabe, doch für diesen Abend wollte sie mir nicht allzu gut gelingen. Im Endeffekt hatten wir dann trotzdem noch genug, um nicht hungern zu müssen, aber es war knapp. Dass wir essenstechnisch ausgerechnet in Österreich in eine Dürrephase kommen würden, hätten wir uns zuvor niemals erträumen lassen. Am Abend gingen wir noch einmal die Ereignisse der letzten Tage durch und machten noch einmal einige Austestungen. Ich kam dabei auf 610.000 Herzensverstöße allein in dieser Woche. Von einer Verbesserung konnte man also wirklich nicht sprechen. Als Sanktion dafür entschied mein höheres Selbst, dass ich eine der kommenden Nächte in einer Laubhütte aus Brennesseln schlafen sollte. Der Gedanke daran machte mir bereits jetzt wieder eine immense Angst und doch spürte ich, dass dies wichtig war, wenn ich ins Fühlen kommen wollte.

Spruch des Tages: Österreich wir kommen!

Höhenmeter: 40 m Tagesetappe: 36 km Gesamtstrecke: 18.258,27 km Wetter: sonnig und warm Etappenziel: Privatpension, 3601 Dürnstein, Österreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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