Tag 1032: Hilfsprojekt in Indien

von Heiko Gärtner
05.11.2016 19:08 Uhr

14.10.2016

Seit wir Deutschland erreicht hatten, war es fast immer bewölkt und trübe gewesen, fast ein bisschen so, als wollte auch das Wetter jedes Klischee erfüllen, das man sich über das Land erfüllt. Heute war der erste wirklich sonnige Tag und auch der erste, an dem das Hintergrundrauschen der Autobahnen und Schnellstraßen zumindest zeitweilig ein bisschen nachließ.

Unser Tagesetappenziel trug den einladenden Namen Niedermotzing und genau passend dazu wurden wir auch von der Pfarrsekretärin empfangen. Sie war gerade in der heißen Phase bei der Fertigstellung des Pfarrbriefs und ihr Kopierer wollte nicht so wie sie wollte. Dementsprechend genervt und angespannt war sie und da kamen ihr zwei Pilger, die zusätzliche Zeit in Anspruch nahmen gerade recht. Der Pfarrer selbst stammte aus Indien und war ein sehr vorsichtiger Mann. Bevor er sich zu einer Aussage hinreißen ließ, rief er zunächst bei seinem Kollegen in Bogen an, um sich von ihm bestätigen zu lassen, dass wir auch vertrauenswürdig waren. Dann aber hieß er uns herzlich willkommen, gab uns eine kleine Wohnung unterhalb seiner eigenen und lud uns zu sich zum Essen ein.

Er hatte indisch gekocht und wir kamen in den Genuss, verschiedene Spezialitäten aus seiner Heimat zu probieren. Ohne reichlich Brot zum Neutralisieren hätten wir Feuer gespuckt, aber abgesehen davon war es ein großartiges Essen.

Der Pfarrer selbst lebte bereits seit über dreißig Jahren in Deutschland doch trotz der langen Zeit spürte er noch immer, dass ihm unsere Kultur seltsam fremd war. Seine Heimat war in Indien und daran würde sich auch nichts ändern, auch wenn er den Rest seines Lebens hier verbrachte. Zum Pfarrer fühlte er sich bereits als Kind berufen. Jedes Mal, wenn er mit seinen Eltern in eine Kirche gegangen war, war es, als würde eine innere Stimme zu ihm sagen, dass sein Platz dort vorne hinter dem Altar war. Später setzte er diese Vision dann in die Tat um, doch gleichzeitig entstand noch ein weiteres Herzensprojekt in seinem Bewusstsein. Mit dem Erbe einer alten Frau, die ihn unterstützen wollte gründete er eine Schule mit einem angegliederten Waisenhaus in seiner Indischen Heimat. Heute ist es ein beachtenswerter Komplex, mit gut 1.300 Schülern und rund 600 Waisenkindern, zu dem auch ein eigener Landwirtschaftsbetrieb gehört. Fast die gesamte Familie des Pfarrers ist irgenwo im Schul- oder Heimbetrieb tätig und auch er selbst lebt fast mehr in dieser Schule als hier in Niedermotzing. Fast sein gesamtes Gehalt schickt er nach Indien und hier lebt er vor allem von dem, was ihm die Menschen in seiner Gemeinde schenken. Im Laufe unseres Gesprächs erzählte er uns einige interessante Fakten über Indien, die uns halfen, das Land und die Kultur zumindest ein bisschen besser zu verstehen.

Um die Schule zu finanzieren bauen sie zum einen viele der Lebensmittel, die sie im Internat und in der Mensa benötigen selbst an und produzieren zum anderen auch für den Verkauf. Gerade was die Nahrungsmittel anbelangt ist Indien das wahrscheinlich abstrakteste Land der Welt. Auf der einen Seite ist es so fruchtbar wie sonst kaum ein Ort auf unserem Planeten. In einem normalen Jahr, also ohne eine Dürre und ohne eine Regenflut, kann man fast alles zu fast jeder Zeit anbauen. Drei oder vier Fruchtfolgen von Auberginen, Reis, Tomaten, Bohnen und vielem mehr sind nicht ungewöhnlich. Es gibt also theoretisch mehr als genug für alle, und doch schaffen es die Menschen, dass viele hungern müssen. Das Heim selbst benötigt rund 200kg Reis am Tag. Wenn man guten kauft, kostet er umgerechnet etwa 50 Cent pro Kilo. Günstiger Reis liegt bei 20 bis 30 Cent pro Kilo. Die Preise für die übrigen Ernteprodukte können sehr stark variieren und bringen die Landwirte fast immer in eine Bredullie. Wenn sie beispielsweise Tomaten anbauen, dann kommt es häufig vor, dass diese entweder durch eine Dürre zerstört werden, oder dadurch, dass es so viel regnet, dass die Felder vollkommen überflutet werden. Wenn alles gut geht, bedeutet dies jedoch auch nicht zwangsläufigt, dass dies gut für den Bauern ist, denn dann gibt es die Tomaten so sehr im Überfluss, dass sie nichts mehr wert sind. Ein Kilo Tomaten kostet in der Saison im Schnitt 6 Rupien. Bei einem Wechselkurs von 75:1 sind das also umgerechnet 8 Cent pro Kilo. Für ein Kilo Baumwolle bekommt man immerhin 60 Cent, was aber wiederum auch fast nichts ist, wenn man den Aufwand bedenkt, der mit dem Anbau verbunden ist. Warum wir unsere Kleidung so billig produzieren können, leuchtet da also ein.

Um überhaupt einen Gewinn mit der Landwirtschaft machen zu können, brauchen die meisten Landwirte, wie auch die Schulwirtschaft unseres Pfarrers, Billiglohnkräfte. Für einen ganzen Tag auf dem Feld bekommen die Arbeiterinnen und Arbeiter gerade einmal 2€. Klar kommt man damit in Indien deutlich weiter als hier bei uns, aber man darf auch nicht vergessen, dass es nicht jeden Tag Arbeit gibt. Die Feldarbeiter sind in der Regel Tagelöhner, sie arbeiten also immer nur an den Tagen, an denen ihre Arbeit auf dem Feld benötigt wird und bekommen an allen anderen überhaupt kein Geld. Auch die Hilfskräfte auf den Feldern der Schule bekommen nicht mehr Gehalt und Sicherheit. Lediglich die Fahrtkosten werden übernommen, was schon deutlich mehr ist, als bei den meisten anderen Arbeitgebern für Feldarbeiter. Angesehene Jobs in der Stadt, wie Ärzte, Lehrer, Richter, Anwälte und dergleichen, bekommen hingegen ein Gehalt zwischen 1.000 und 2.000 € im Monat. In einem Land, in dem sich Menschen mit 30€ über Wasser halten können, ist das extrem viel Geld. Diese Aussichten führen natürlich dazu, dass immer mehr Menschen vom Land in die Stadt ziehen, in der Hoffnung, dort schnell das große Geld zu machen. Das klappt natürlich nur selten und meist endet der Versuch darin, dass man noch weitaus ärmer wurde als zuvor und dazu in der Stadt unter deutlich schlechteren Bedingungen leben musste. Auch Indien ist also kein persee armes Land, sondern vielmehr ein Land, in dem der unendliche, natürliche Reichtum, einer verhältnismäßig kleinen Elite vorenthalten bleibt.

Spannend war auch, was uns der Pfarrer über die Unterschiede zwischen Staatsschulen und Privatschulen, bzw. Staatskrankenhäusern und Privatkrankenhäusern erzählte. Offiziell waren die staatlichen Einrichtungen in beiden Fällen die besseren, da hier die besten Lehrer, bzw. Ärzte arbeiteten. In der Realität sah dies jedoch ganz anders aus. Die Staatslehrer hatten zwar, stets die besten Ausbildungen, bekamen ihr hohes Gehalt aber vor allem dafür, dass sie nicht unterrichteten. Warum? Weil das Gehalt zu einem großen Anteil von den Privatschulen bezahlt wurde, die auf diese Weise sicher stellten, dass ihnen die Schüler nicht ausgingen. Ähnlich war es auch bei den Ärzten. Der Pfarrer selbst war vor einigen Jahren in ein Staatskrankenhaus eingeliefert worden, weil er einen Nierenstein hatte. Drei Wochen lang hatte man ihn immer wieder vertröstet, ohne ihm auch nur eine Diagnose zu stellen. Dann endlich sah er ein, dass er nur durch Bestechung einen Arzt auf sich aufmerksam machen kann. Er machte dem Kranenhaus eine großzügige Barspende und innerhalb von Minuten hatte man nun doch plötzlich Zeit für ihn.

Anders als in vielen anderen Regionen der Erde sind die Christen in Indien eine relativ kleine Minderheit und machen gerade einmal 2% der Bevölkerung aus. Die Moslem mit 13% liegen etwas darüber, sind aber ebenso eine Minderheit. Vor allem vor dem heutigen Aufruhr, der mit dem Thema Islam in Verbindung mit Terrorismus, ist es interessant, dass Christen und Moslem in Indien vollkommen friedlich zusammenleben und sich gegenseitig sogar als Verbündete und Leidensgenossen ansehen.

Spruch des Tages: Auch der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt. (Laozi, chinesischer Philosoph)

Höhenmeter: 320 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 18.851,27 km

Wetter: Überwiegend sonnig

Etappenziel: Gästezimmer des Pfarrhauses, 91183 Abenberg, Deutschland

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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