Tag 1043: Bruder Leo und die vollkommene Freude

von Heiko Gärtner
13.11.2016 23:53 Uhr

28.10.2016

Erst einmal ein dickes Lob an die Streckenleger des Jakobsweges! Die Wanderwege, die ihr herausgesucht und ausgeschildert habt sind wirklich klasse und es macht Spaß auf ihnen zu wandern. Leider und das muss man wirklich mit Bedauern sagen, ist Deutschland so mit Autobahnen und Bundesstraßen vollgestopft, dass man fast nirgendwo ohne ein permanentes Hintergrundrauschen wandern kann. Selbst die kleine Kapelle, die oben auf einem Berg als Ort der Stille errichtet wurde, ist dank der A6 im Hintergrund eher ein Ort des Brummens und Dröhnens. Es ist so schade, dass wir hier mit die schönsten Wanderwege in ganz Europa haben und dass wir sie uns durch unser übermäßiges Verkehrsaufgebot immer wieder kaputt machen. Nirgendwo sonst geben sich die Natur- und Wandervereine sowie die Gemeinden so viel Mühe, Naturliebhabern und Wanderern etwas zu bieten wie hier. Es gibt Baum- und Pilzlehrpfade, Picknickplätze, Trimm-dich-Pfade, Renaturierungsflächen mit kleinen Bächen und Seen und vieles mehr. Aber alles wird vom Lärm der Autos überschattet, der allgegenwärtig ist und der sich fast wie ein Tinnitus im Kopf festsetzt. Ein bisschen kommt es uns so vor, als wäre auch dies vor allem ein Spiegel für das, was wir durch die Heilung erlebt haben. Heiko spürte nun noch einmal die Enttäuschung und die Wut, die er als Wolf vor vielen Leben gespürt haben musste, und er konnte sie nun noch einmal mehr verstehen.

Wir selbst freuten uns über jeden Kilometer, den wir zwischen uns uns den Verkehrsknotenpunkt Nürnberg brachten. Es war logisch, dass man hier keine ruhige Sekunde hatte, wenn die Autobahnen aus allen Himmelsrichtungen zusammenliefen. Von Nürnberg aus führten die Autobahnen nach München, Regensburg, Prag, ins Ruhrgebiet und nach Berlin. Hier trafen sich die A6, die A3, die A9 und die A73. Und wenn das nicht reicht, gibt es noch die Bundesstraßen B2, B4, B8 und B14, um nur die größten zu nennen. Wie sollte es da kein Verkehrschaos geben? Feucht und Schwabach, die beiden Städte in denen wir gestern und vorgestern übernachtet hatten, lagen vollkommen in diesem Verkehrskampfadergeschwür. Dafür wiederum war es beeindruckend, wie angenehm trotzdem die Innenstadt von Schwabach war. Der Platz um die Kirche herum war beruhigt und hier ließ es sich tatsächlich gut aushalten. In Feucht war dies leider vollkommen anders, was wirklich schade ist, da auch dies einmal eine wirklich schöne Stadt gewesen sein musste.

Erst wenige Kilometer bevor wir unser heutiges Etappenziel Abenberg erreichten, hörte der Autobahnlärm auf und wir konnten ein entspanntes Picknick auf einer Bank im Wald machen. Dann kamen wir nach Abenberg. Die mittelalterliche Kleinstadt entpuppte sich tatsächlich als die schönste Ortschaft, die wir bei diesem Besuch in Deutschland bewandert haben. Sie liegt ruhig und abgeschottet von den großen Straßen an einem kleinen Berg, auf dessen Gipfel eine urige alte Burg steht. Etwas darunter befindet sich die Jokobuskirche, die von einer Altstadt umgeben ist. Seit wir Deutschland betreten hatten, war dies tatsächlich der erste Ort, an dem man sich ein sesshaftes Leben wirklich vorstellen konnte. Viele der Einheimischen schienen sich dessen durchaus bwusst zu sein, denn sie wirkten deutlich zufriedener und waren auch bei weitem freundlicher als die Bewohner vieler anderer Orte. Abgesehen von den Nonnen vielleicht, die in ihrer Kirche zwar damit warben, dass sie den "Christlichen Gedanken der Nächstenliebe" spürbar und erlebbar machten, indem sie Arme, Bedürftige und Hilfesuchende auf der ganzen Welt unterstützen, die jedoch plötzlich überhaupt keinen Platz für Pilger mehr in ihrem Kloster hatten, als sie hörten, dass wir ohne Geld reisten. Der Pfarrer lächelte nur, als er das hörte. Die gleiche Erfahrung hatten schon einige andere Pilger vor uns gemacht und auch er selbst hatte einige Diferenzen mit den Schwestern. Er hingegen war ein begeisterter Pilger und hatte selbst schon mehr als 6000km auf verschiedenen Jakobswegen und auf der Via Francigena zurückgelegt. Er überließ uns ein Gästezimmer und eine Küche und machte sich dann auf zu einer Gebetsnacht, bei der er die komplette Nacht mit beten und beichten verbringen wird. Ich bin mal gespannt, in welcher Verfassung er morgen früh beim Frühstück ist.

29.10.2016

Tatsächlich war unser Gastgeber am Morgen sogar der fitteste von uns dreien. Wie er das machte war mir ein Rätsel, aber man merkte es ihm nicht an, dass er in dieser Nacht kein einziges Mal auch nur zu schlafen versucht hatte. Auch jetzt war es für ihn noch nicht an der Reihe, sich hinzulegen, denn es warteten bereits wieder Termine auf ihn. Auch als Pfarrer hatte man es also nicht so ganz leicht. Beim Frühstück tauschten wir uns angeregt über Pilgerwege und Pilgererfahrungen aus. Er selbst hatte Abenberg tatsächlich auch zunächst als Pilger kennengelernt und hatte hier sogar als Etappenziel übernachtet. Dementsprechend groß war seine Freude, als er einige Jahre später zum Pfarrer der Jakobuskirche dieser hübschen Kleinstadt wurde. Auch er als Pfarrer hatte gemischte Erfahrungen mit Klöstern gemacht. Vor allem die Franziskaner, die Gastfreundschaft ja bereits in ihrem Grundkodex verankert hatten, entpuppten sich oft als eher unwillige Gastgeber. Teilweise wurden auch Pfarrer Stephan und sein Pilgerbegleiter, der ebenfalls Pfarrer war, knallhart abgewiesen und das obwohl sie mit Geld und mit Pfarrerausweisen reisten. Ein anderes Mal hatte man sie nur deswegen zähneknirschend aufgenommen, weil sie nach längerer Überredungskunst ihre Pfarrausweise präsentiert hatten, mit denen sie beweisen konnten, dass sie dem selben Verein angehörten.

Um Abschluss erzählte uns Stephan noch eine passende Geschichte dazu, die vom heiligen Franz von Assisi selbst stammte. Einige seiner Mitbrüder hatten sich ebenfalls auf eine längere Pilgerreise begeben und dabei an einem Tag auch eine ähnliche Erfahrung gemacht. Man hatte ihnen nicht nur nicht geholfen oder ihnen ein Quartier verweigert, sondern sie sogar als Landstreicher und Wegelagerer beschimpft und wütend vom Hof gejagt. Als Bruder Leo diese Geschichte später erzählte, meinte Franziskus dazu: „Siehst du Bruder Leo, genau in diesen Momenten liegt die vollkommene Freude, denn da hast du genau das erlebt, was auch Jesus Christus immer wieder erfahren hat und was könnte es schöneres geben, als ihm im Erleben nahe zu sein?“ Auf diese Weise hatte ich es noch nie betrachtet, aber er hatte Recht. Wenn man es so ansehen und annehmen konnte, dann nahm dies tatsächlich viel von dem Ärger aus der Situation und man konnte sich am Ende sogar darüber freuen. Stephan und sein Wandergefährte jedenfalls hatten diese Geschichte im Gästebuch des Kapuzinerklosters hinterlassen, das sie nur mit so viel Überredungskunst hatte ausnehmen wollen. Vielleicht konnten sie den Bezug zu sich selbst ja herstellen und vielleicht stieß es auch etwas in ihnen an.

Der Abschied fiel Stephan besonders schwer, nicht so sehr wegen uns, sondern viel mehr, weil wir seine Sehnsucht nach dem Pilgern wieder erweckt hatten. Am liebsten wäre er gleich mit aufgebrochen und hätte seine Gemeinde hinter sich gelassen. Vor allem heute, wo es den Anschein machte, als würde es ein richtig schöner, goldener Herbsttag werden. Er träumte schon lange davon, einmal den kompletten Weg bis Santiago an einem Stück zu wandern, aber dafür brauchte man natürlich Zeit. Zeit, die er als Pfarrer nicht an einem Stück aufbringen konnte und die Rente wartete erst mit 70 auf ihn. Das waren noch mehr als 20 Jahre und niemand konnte sagen, was bis dahin war.

Das Wetter spielte wirklich recht gut mit. Es war ein kalter aber auch ein sehr schöner Tag und das Rot-Orange-Gelb-Gold der Bäume leuchtete uns von überall entgegen. Für Heiko wurde es außerdem ein Tag voller Erinnerungsanstöße. Auf dem Friedhof in Abenberg, an dem wir beim Verlassen der Kleinstadt vorbeikamen, liegt der Pfarrer begraben, der Heiko vor vielen Jahren getauft hat und von dem er seine Kommunion erhalten hat. Wenige Kilometer weiter kamen wir an der Burg Wernfels vorbei. Die einst trotzige Ritterburg ist heute eine Jugendherberge in der Heiko während seiner Schulzeit auf Klassenfahrt war. „Ich weiß noch“, sagte er, als wir uns das Burggelände anschauten, „dass wir damals zum Nachtisch ganz ekelhafte Dosenbirnen bekommen haben, die niemand essen mochte. Wir haben sie dann alle durch dieses Speisesaalfenster da oben auf den Burghof geworfen. Die Idee war eigentlich, dass es dann nicht auffiel, dass wir sie nicht gegessen hatten, aber der Plan ging irgendwie nicht so ganz auf. Ich weiß nicht warum, aber aus irgendeinem Grund waren die Lehrer und die Herbergseltern gar nicht begeistert davon, dass der Hof am Ende voller glitschiger Birnen war.

Spruch des Tages: Worin könnte man Jesus näher sein, als darin, die gleichen Erfahrungen zu machen wie er?

Höhenmeter: 230 m Tagesetappe: 24 km Gesamtstrecke: 19.091,27 km Wetter: Windig und kalt, Temperaturen um die 2°C Etappenziel: Katholisches Jugendheim, 88416 Steinhausen an der Rottum, Deutschland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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