Tag 1048: Die Geschichte des Jakobsweges

von Heiko Gärtner
14.11.2016 23:57 Uhr

04.11.2016

Heute war definitiv der kälteste und ungemütlichste Tag seit langem. Vielleicht nicht der kälteste, der ganzen Reise, aber er war schon ziemlich nah dran. Es war kalt (das sagte ich ja bereits) nass und windig, also die beste Kombination, die man sich als Wanderer nur wünschen kann. Gleich beim Starten am Morgen wünschten wir uns schon ein warmes Plätzchen vor einem Kamin, mit einem heißen Tee in der Hand. Es war ein Wetter, wo man normalerweise nicht einmal seinen Hund vor die Tür jagte, was natürlich den Vorteil hatte, dass wir die Welt hier draußen auch nahezu für uns alleine hatten.

Der Jakobsweg war in letzter Zeit leider nicht mehr so gut beschildert, wie zuvor. Von Feucht bis Oettingen hatte man fast durchgängig an ihm entlangwandern können, ohne ein einziges Mal einen Blick auf eine Karte werfen zu müssen. Abgesehen von den Strecken innerhalb der Ortschaften. Hier hielt er sich an eine Art ungeschriebenes Gesetz, das besagte, dass ein Jakobsweg immer dort besonders uneindeutig sein musste, wo die Wegführung am verwirrendsten war. Aber das waren wir ja bereits gewöhnt. Seit Oettingen hingegen war die Karte unverzichtbar. Die Muschelwegweiser tauchten immer wieder auf, ließen einen dann aber auch immer wieder alleine. Dafür entdeckten wir an einem der spärlich gesäten Wegweiser einige spannende Hintergrund-Infos über den Weg und die Pilgertradition, die wir noch nicht kannten.

Spannend ist zunächst einmal, dass der Verlauf des Jakobsweges in seinem Ursprung nichts mit dem heiligen Jakob zu tun hat. Es ist ein bisschen wie das Osterfeuer oder der Termin von unserem heutigen Weihnachten. Alles drei sind uralte, vorchristliche Traditionen, die irgendwann vom Christentum aufgenommen, überarbeitet und integriert wurden. Ostern war das Fest zur Vertreibung der Wintermächte und zur Begrüßung des Frühlings, Weihnachten war ein Fruchtbarkeitsfest zur Wintersonnenwende und der Jakobsweg war lange vor der Existenz der Stadt und des Heiligen als „Sternenweg“ bekannt. Es war ein Weg, der sich am Verlauf der Milchstraße orientierte, und der direkt bis zum Ende der damals bekannten Welt führte. Dieser Punkt war das heutige Capo Finisterre. Es ist der westlichste Punkt Europas und der Überlieferung nach daher auch der Punkt, der dem Jenseits am nächsten ist. Die vorchristlichen Pilger machten sich hier auf den Weg, um die Seelen ihrer Verstorbenen so lange wie möglich zu begleiten, denn diese reisten ihrer Ansicht nach direkt über ihnen auf der Milchstraße in Richtung untergehende Sonne.

Der „Heilige Jakobus der Ältere“ selbst war einer der zwölf Apostel von Jesus, also einer der Jungs, denen man heute auf den Gemälden vom Abendmahl beim Essen zuschauen kann. Bislang hatten wir seinen Namen oft in Verbindung mit dem Titel „Maurentöter“ gehört und so waren wir davon ausgegangen, dass er seinen Heiligenstatus vor allem seinem Erfolg in der Schlacht für das Christentum verdankte. Doch das wird ihm nicht ganz gerecht. Jesus gab ihm wegen seines nicht gerade ruhigen Gemüts zwar den Spitznahmen „Donnersohn“, aber den Titel „Maurentöter“ bekam er erst nach seinem Tod. Zu Lebzeiten verbrachte er seine Zeit hauptsächlich als Jünger an der Seit von Jesus und nach dessen Auferstehung und Himmelfahrt wurde er relativ bald hingerichtet. Er starb den Märtyrertod durch Enthauptung, weil er zu Jesus und dessen Überzeugungen stand und davon nicht abweichen wollte. Er ist derjenige Rund neunhundert Jahre später erschien er König Alfons III. von Asturien in einer Vision, der daraufhin eine Schlacht gegen die Mauren gewann. Erst jetzt wurde der heilige Jakobus also zum Maurentöter und das auch eigentlich eher indirekt. Doch die Legende breitete sich aus und schließlich wurde er zum Schutzpatron aller christlichen Krieger im Kampf gegen die Ungläubigen. Und genau hier beginnt die Jakobslegende, wie wir sie heute kennen. 778 wurde ganz Spanien von den Arabern besetzt. Ganz Spanien? Nein, ein kleiner Fleck im bergigen Norden blieb frei, und hier entdeckte man 813 ein Grab mit einigen alten Knochen darin, von denen man glaubte, es seien die des heiligen Jakobus. Warum man das glaubte lässt sich nur noch schwer sagen, denn Jakob war ja bereits knapp 800 Jahre zuvor und mehrere Tausend Kilometer entfernt von hier gestorben. Wie also hätten die Knochen hier herkommen sollen? Aber mit solchen lästigen Details wollte man sich damals nicht aufhalten. Stattdessen brachte man die Knochen in die Stadt Compostela und errichtete hier eine Kirche und ein Kloster. Von diesem Moment an ging es mit den christlichen Spaniern wieder bergauf und sie gewannen eine Schlacht nach der nächsten, bis sie die lästigen Moslem wieder aus ihrem Land vertrieben hatten. Damit wurde das Grab des Heiligen Jakobus, oder auch das Grab mit den sterblichen Überresten eines namenlosen Unbekannten, den man nun Santiago nannte, zum Symbol für den erfolgreichen Krampf der Christen gegen die Moslem. Gut dass dies heute kaum noch jemand weiß, denn unter den aktuellen politischen Bedingungen und den Spannungen zwischen unseren beiden Kulturkreisen ist es doch ein klein wenig zweifelhaft, diese symbolträchtige Tradition so zu feiern.

Durch den Sieg über die moslemischen Besetzer verbreitete sich nun die Legende über Santiago den Schutzpatron aller Christen, den Maurentöter, der noch aus dem Grab heraus als „Ritter Jesu“ an der Seite der Spanischen Könige gegen die Eroberer aus dem Orient gekämpft hatte, über ganz Europa. 951 kam dann zum ersten Mal der Bischof Godeschalk von Le Puy auf die Idee, sich dieses sagenumwobene Grab doch einmal mit eigenen Augen anzuschauen. Vielleicht. Vielleicht wollte er auch nur einen Spaziergang ans Meer machen und fand, dass sich Santiago da als Zwischenziel recht gut anbot. Auf jeden Fall wurde er zum ersten offiziell dokumentierten Jakobspilger. Bereits hundert Jahre später war der Pilgerstrom so sehr angewachsen, dass man beschloss, in Santiago eine Kathedrale für die Ankömmlinge zu bauen. Als wir selbst in Santiago waren, war es uns schon bewusst gewesen, dass die Stadt nahezu all ihren Wohlstand den Pilgern verdankte. Doch dass sie nicht einmal eine Kathedrale hätte, wenn es die Pilger nicht gäbe, das war uns so nicht klar. Damit wirkt es gleich noch einmal etwas komischer, dass es hier heute nicht einmal mehr eine kostenfreie Herberge gibt. Seit 1000 Jahren lebt dieses Stadt davon, dass sie von Menschen aus aller Welt zum Wanderziel auserkoren wird und doch ist kaum so etwas wie Dankbarkeit dafür zu spüren. Schon seltsam oder? Anders als heute hatten die ersten Pilger natürliche noch keinen Pilgerweg zur Verfügung, sondern reisten so wie jeder andere auch auf den normalen Militär- und Handelswegen. 1140 wurde dann zum ersten Mal ein Pilgerführer geschrieben, der den Namen „Codex Calixtinus“ trug und allerlei Anregungen und Tipps für Pilger enthielt. Der erste deutsche Pilgerführer erschien 1495 unter dem Namen „Die Wallfahrt und Straße nach Sant Jakob“. Viel hat sich an den Titeln also bis heute nicht geändert. Damals pilgerten die Menschen übrigens nach Santiago, ohne überhaupt zu wissen, ob dieser heilige Jakob dort in seinem Grab lag oder nicht. 1884 änderte sich dies zum Glück, denn da reiste der damalige Papst Leo XIII nach Santiago, schaute sich die Knochen an und bestätigte offiziell im Namen der Kirche, dass sie echt waren. Seither kann also nichts mehr schief gehen!

Nach dem Lesen des Schildes waren wir natürlich noch kälter und durchgefrorener als zuvor. Jetzt freuten wir uns fast über den steilen Berg, der vor uns lag und uns wieder halbwegs zum Schwitzen brachte. Nur die Hände und Füße blieben kalt bis zum Schluss. Doch auch hier konnte Abhilfe geschaffen werden, denn unser Wunsch vom Morgen ging tatsächlich in Erfüllung. In Setzingen trafen wir einen lustigen, älteren Herren, der gerade dabei war, Werbeprospekte für den Sportverein zu verteilen. Er nahm uns mit zu einem Nachbarn, der im Kirchenvorstand war und meinte: „Ich hoffe, dass ich nicht geschimpft werde, wenn ich wieder jemanden hier anschleppe, aber bei ihm könntet ihr vielleicht Glück haben! Oh, warum liegt denn da ein Werbeprospekt auf dem Boden? Das ist das von letzter Woche... Naja, ich werde einfach mal ein neues dazulegen!“ Der Mann vom Kirchenvorstand hatte ein großes Bauernhaus mit einer kompletten Etage für seine Kinder. Diese waren jedoch alle ausgeflogen und so war genug Platz für zwei Reisende. Nach dem Mittagessen konnten wir uns hier wirklich vor den Kamin setzten und unsere kalten Pranken wieder aufwärmen.

Spruch des Tages: Pilgern ist beten mit den Füßen

Höhenmeter: 30 m Tagesetappe: 28 km Gesamtstrecke: 19.179,27 km Wetter: Bewölkt, 0-2°C, hin und wieder leichter Sonnenschein Etappenziel: Privates Gästezimmer, 88131 Lindau, Deutschland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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