Tag 1049: Vom Platz gefunden

von Heiko Gärtner
15.11.2016 00:40 Uhr

05.10.2016

Es war schon seltsam, wie sich die Stimmungen in einem wandelten. Seit unserer Reise durch Rumänien hatten wir uns darauf gefreut, endlich nach Deutschland zu kommen. Nun fühlte es sich auf eine sonderbare Art befreiend an, wieder auf eine Grenze zuzulaufen. Ich kann nicht genau sagen warum, aber irgendetwas in mir fühlt sich komisch an, wenn ich hier bin. Auch Heiko erwähnte er öfter, wenn wir so nebeneinander her wanderten. Es ist überhaupt nicht so, dass wir in Deutschland schlechte Erfahrungen machen, oder dass es hier nicht schön ist. Klar, es ist laut, überall sind Straßen und Autobahnen und die Besiedlungsdichte ist höher als in allen anderen Ländern, von Monaco natürlich abgesehen. Aber abgesehen davon haben wir hier unglaublich schöne Wälder, super Wege und auch sonst gibt es nicht viel, über das man sich beschweren könnte. Trotzdem hat sich in uns etwas verändert, etwas das uns sagt, dass wir hier nicht mehr zuhause sind. Es ist noch einmal eine ganz andere Art des Loslassens. Beim ersten Mal waren es die Menschen, die Plätze, die Gewohnheiten und dergleichen mehr. Dieses Mal sind es die Vorstellungen und Ideen, die wir von all diesen Dingen hatten.

Kurz vor Ulm kamen wir in einen kleinen Ort namens Talfingen. Ulm selbst konnten wir uns als sinnvolles Etappenziel nur schwer vorstellen und so hofften wir, hier einen Schlafplatz zu finden. In der Kirche trafen wir ein paar junge Männer, die gerade Chorprobe hatten. Sie nannten sich die „Talfinger Talsinger“ und waren selbst begeisterte Pilger, die immer wieder in Etappen weiter in Richtung Santiago zogen. Einer von ihnen machte es sich zur persönlichen Aufgabe, uns einen Schlafplatz zu organisieren und setzte dafür alle Hebel in Bewegung. Letztlich musste er dann aber doch passen. Es gab hier zwar eine Frau, die normalerweise Pilger aufnahm, doch die hatte gerade Besuch. Der Pfarrer selbst schob alle Pilger dieser Frau zu und sonst schien es keine Alternativen zu geben. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als doch in die große Stadt weiter zu ziehen. Dabei trafen wir zunächst wieder auf den guten alten Donauradweg, dem wir bis in die Innenstadt folgten. Die zweite Hälfte des Weges war großartig, aber die erste führte in bekannter Manier wieder einmal an einer Hauptstraße entlang. Den ganzen Tag über war es nicht gerade gemütlich gewesen, aber nun wurde es richtig unangenehm und begann immer wieder zu regnen und zu winden.

Ein kurzer Blick in die Ulmer Innenstadt genügte und uns war klar, wenn wir hier einen Schlafplatz bekommen wollten, dann musste er uns finden. Suchen war unmöglich. Nicht um diese Zeit. Oder besser, um diese Jahreszeit. Denn es war gerade einmal kurz nach vier und es wirkte bereits, als würde es dämmern. Eine kurze Stadtbesichtigung musste dennoch drin sein, denn schließlich kam man ja nicht jeden Tag hier her. Als wir die Kirche betraten schlug uns als erstes ein lauter Singsang entgegen. „Verdammt!“ meinte Heiko, „was ist denn hier für ein Lärm!?“ Er zückte seine Kamera und machte ein paar Bilder.

„Entschuldigung! Dürfte ich kurz hier vorbei? Ich müsste einmal dort hinüber zum Seitenaltar um ein Bild zu machen“, wandte er sich an ein paar Damen, die auf einer Kirchenbank saßen. Trotz des Lärms saßen hier heute erstaunlich viele Menschen herum. Die Kirche war geradezu voll von ihnen. „Ach Mist!“ murmelte Heiko vor sich hin, als er merkte, dass die Einstellungen der Kamera nicht stimmten, „bei dem gesinge kann sich ja auch kein Mensch konzentrieren!“ Dann erhob er die Stimme und sagte laut in den Raum: „Entschuldigung, aber könnten Sie vielleicht ein bisschen leiser singen?“

Eine alte Dame direkt neben ihm schaute ihn böse an. Ansonsten gab es keine Reaktion, da außer jener Dame niemand etwas mitbekommen hatte. Wie gesagt, der Gesang war sehr laut und man konnte außer ihm überhaupt nichts hören. Erst beim Verlassen der Kirche merkten wir, dass fast alle Türen geschlossen waren, weil der öffentliche Zugang gerade aufgrund eines Konzertes gesperrt war. Wir hatten nur aus Versehen den Ausgang erwischt und waren hineingelangt, obwohl wir dies ohne Eintritt nicht gedurft hätten. Das erklärte natürliche auch die vielen Leute. Sie hatten 13€ dafür gezahlt, dass sie sich das Konzert anhören durften. Verdammt sind wir inzwischen Kunstbanausen geworden!

Nach einem kurzen Abstecher beim Asiaten, wo wir knusprig gebackene Hähnchenstreifen in Erdnusssauce geschenkt bekamen, suchten wir nach dem Weg aus der Stadt. Und genau in diesem Moment wurden wir tatsächlich von unserem Schlafplatz gefunden. Eine Frau kam auf uns zu, fragte uns was wir denn machten und ob sie uns irgendwie helfen könne. „Naja, wenn du zufällig einen Schlafplatz für uns hättest“, meinte ich mehr zum Spaß.

„Einen Schlafplatz? Dann kommt mal mit!“ antwortete sie ohne weitere Umschweife und führte uns in ein nahegelegenes Innenarchitekturbüro, das sie gemeinsam mit ihrem Mann führte. Es war ein kleines, stilvoll eingerichtetes Büro in einem Eckhaus. Hier konnten wir unsere Wagen in den Eingangsbereich stellen und dann bekamen wir eine kurze Führung. Das genialste an dieser Unterkunft war, dass es hinter einem der Schreibtische eine Geheimtür gab, die in einer Schrankwand versteckt war. Von hier aus kam man in ein weiteres Büro, dann in einen Flur und von dort aus über einen Innenhof in einen Ausstellungsraum, der ebenfalls zum Architekturbüro gehörte. Hier lag bereits eine Matratze auf dem Boden. In der Nacht zuvor hatte die Tochter unserer Gastgeberin hier eine Party mit ihren Freundinnen veranstaltet und einige Besucher hatten hier auch übernachtet.

„Ich gehe mal davon aus, dass ihr keine Hip-Hop-Party veranstaltet, heute Nacht oder?“ meinte sie schmunzelnd, „Seit letzter Nacht ist unser Nachbar nicht mehr so gut darauf zu sprechen!“ Dies war tatsächlich der einzige Anflug einer Sorge, der von unserer Gastgeberin zu spüren war. Darüber hinaus war sie so voller Urvertrauen in die Menschen und das Leben, dass sie keinerlei Bedenken hatte, zwei wildfremde Menschen hier in ihrem Büro alleine zu lassen. Sie selbst verschwand gleich darauf wieder, weil sie noch einen Termin hatte. Um 19:00 zurück, stellte uns ihre Handtasche auf einen Stuhl, rief „ich habe euch ein Abendessen mitgebracht. Nehmt einfach alles raus, was ihr braucht!“ und verschwand dann ein weiteres Mal. Erst als sie eine Stunde später wieder kam, blieb sie länger und nun erst hatten wir die Gelegenheit unsere Namen auszutauschen. Bis dahin waren wir für sie also nicht nur unbekannt, sondern auch anonym gewesen und trotzdem hatte sie so viel Vertrauen, dass sie uns mit all dem teuren Architektur-Equipment vollkommen alleine ließ. Wir waren zu tiefst beeindruckt! Das überstieg selbst unser eigenes Vertrauen um Längen! Als wir uns später unterhielten wurde deutlich, dass Karin (so hieß unsere Gastgeberin) ein grundlegend positives Menschenbild hatte, wie man es heute kaum noch finden kann. Sie glaubte daran, dass wir uns in einer schwierigen Zeit aber auf einem guten Weg befanden und dass es die Menschheit wenn auch nicht als Ganzes, dann doch aber zu großen Teilen schaffte, sich selbst aus dem Schlamassel zu ziehen in dem wir steckten und einer friedlichen und erfüllten Zukunft entgegen zu steuern.

Sehr spannend war, was sie über das Finanzsystem erklärte. Wir selbst hatten uns ja auch schon intensiv damit beschäftigt und waren immer wieder zu dem Schluss gekommen, dass es auf Dauer nicht gut gehen konnte. Oft schon waren wir deswegen als Schwarzseher oder Verschwörungstheoretiker bezeichnet und kritisiert worden. Beides waren Bewertungen, die auf Karin definitiv nicht anwendbar waren und doch war sie in diesem Bereich zum gleichen Ergebnis gekommen. „Es ist keine Frage, ob man an einen Zusammenbruch glaubt oder nicht“, sagte sie ernst, „es ist reine Mathematik, dass es dazu kommen wird. Es ist sogar recht einfach, Berechnungen dazu aufzustellen.“ Vereinfacht gesagt, ist unser Finanzsystem wie ein Luftballon, der immer weiter aufgeblasen wird. Es ist also keine Frage, ob er platzen wird oder nicht. Es ist eine mathematische Gewissheit, dass er platzen muss. Die Frage ist nur wann und dies lässt sich recht gut errechnen, wenn man weiß, wie viel Masse die Ballonhülle hat und mit welcher Geschwindigkeit sie aufgeblasen wird.

Zum Schlafen entschieden wir uns dann aber doch dagegen, in den Show-Room zu wechseln, sondern machten es uns gleich hier im Büro gemütlich. Hier war es ein wenig wärmer, und der Weg zur Toilette war deutlich kürzer.

Spruch des Tages: Wenn wir keinen Platz finden, muss der Platz eben uns finden

Höhenmeter: 20 m Tagesetappe: 16 km Gesamtstrecke: 19.195,27 km Wetter: Bewölkt, 0-2°C und windig Etappenziel: Kolpinghaus, 6900 Bregenz, Österreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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