Tag 1050: Wie gewonnen, so zerronnen

von Heiko Gärtner
16.11.2016 18:41 Uhr

06.11.2016 Karin ist definitiv unsere Rettung gewesen, denn kaum hatten wir ihr Büro betreten und unsere Wagen in Sicherheit gebracht, hatte es auch schon zu regnen begonnen. Nicht nur so ein leichter Nieselregen wie am Nachmittag, sondern ein Sturzbach, der bis spät in die Nacht hinein andauerte. Heute in der Früh regnete es noch immer, aber nun war es wieder nur noch ein leichter Niesel. Zum Abschied hatte Karin lediglich gemeint: „Zieht dann einfach die Tür zu, wenn ihr geht! Ich hoffe, dass sie richtig schließt, aber wenn nicht, ist es nicht so schlimm, denn ich komme eh im Laufe des Vormittages vorbei!“

Unser Weg führte uns wieder an der Donau entlang, zunächst einfach durchs Grüne, dann durch das Industriegebiet „Donautal“ Es war eine ganze Stadt, die nur aus Firmen und Fabriken bestand, darunter so kleine Unternehmen wie Iveco, Deutz, Gardena und Ratiopharm. Auf dem Hof von Ratiopharm standen allein 30 LKWs für den Transport von Tabletten und anderen Medikamenten bereits. Heute war Sonntag, also wurde nichts transportiert, aber normalerweise befanden sich diese Trucks auf den Straßen um die Medikamente, die hier produziert wurden, zu verteilen. Wenn eine Firma 30 LKWs besitzt, kann man davon ausgehen, dass sie diese auch benutzt. Sonst würde es ja keinen Sinn machen, die Anschaffungs- und Unterhaltskosten zu bezahlen. Wenn wir jetzt aber davon ausgehen, dass alle 30 LKW wirklich täglich im Einsatz sind und jeder von ihnen eine Ladekapazität von 25 Tonnen hat, dann werden allein von dieser einen Fabrik aus Tag für Tag 750 Tonnen Medikamente in Deutschland verteilt. Das sind 750.000kg Medikamente für 80 Millionen Menschen. Von einer einzigen Produktionsstätte wohlgemerkt und zwar von einer, die im Vergleich mit so unbedeutenden Pharmakonzernen wie Bayer nicht einmal ins Gewicht fällt. Da drängst sich doch so ein klein bisschen die Frage auf, was wir mit all diesen Medikamenten machen. Es wirkt ja fast, als könnten wir uns vollständig davon ernähren und dann noch unsere Nachbarländer mitversorgen.

Auch heute sprach das Wetter nicht für einen besonders langen Marsch, sondern eher für eine kurze Etappe und dann schnell ein warmes Plätzchen. Ganz so schnell wollte es aber dann doch nicht klappen. Nach gut 11km kamen wir zwar an einer Kirchengemeinde an, die auch einiges für Pilger übrig hatte, aber leider nicht das, was wir brauchten. Draußen an der Kirche hing ein Kästchen mit der Aufschrift „Zwitscherkasten“. Ich dachte erst, dass sich ein Gästebuch darin befand, mit dessen Hilfe ein Pilger dem nächsten etwas zwitschern konnte. Aber stattdessen fand ich eine Schnapsflasche und die Aufforderung, sich selbst einen zu zwitschern, danach ein kurzes Gebet in der Kirche abzuhalten und dann schleunigst weiter zu ziehen. Genau das war es auch, was der Pfarrer von den Pilgern erwartete. Aufgenommen habe er noch nie jemanden und das sei ihm auch zu viel logistischer Aufwand. Er müsse dann ja der Putzfrau Bescheid geben und außerdem wisse er ohne einen Blick auf den Terminkalender überhaupt nicht, ob der Saal heute gebraucht würde oder nicht. Wir sollten doch lieber weitergehen, immerhin gäbe es im nächsten Ort eine Herberge extra für Pilger. Die koste zwar etwas, aber vielleicht nahmen sie uns ja dennoch auf.

Nach einer längeren aber ergebnislosen Diskussion zogen wir weiter. Dass wir hier in Deutschland eine so schlechte Quote bei Pfarrern hatten hätten wir zuvor nicht vermutet. Wir waren sicher, dass man hier am Jakobsweg immer aufgenommen werden würde, rein weil man ein Pilger war. Doch auf diesem Weg war es vollkommen anders als auf unserem ersten. Es war ein Urlaubs- und Touristenweg, auf dem deutlich mehr Pilger unterwegs waren und der sogar hier in Deutschland schon vollkommen kommerzialisiert war. Dafür musste man aber auch sagen, dass er in Sachen Sehenswürdigkeiten deutlich mehr zu bieten hatte als der letzte. Die Pilgerherberge in Oberdischingen nahm uns tatsächlich auch ohne Geld auf. Zahlende Gäste bekamen ein Zimmer, nicht zahlende durften im Gebetsraum im Obergeschoss übernachten. Keine schlechte Lösung, vor allem weil der Gebetsraum sehr schön und ruhig gelegen ist. Das Wochenende über wurde das Haus von einer Frauengruppe belegt, die hier ein Seminar hatte. Bis auf wenige von ihnen reisten sie am Abend wieder ab, doch am Nachmittag kamen wir mit der einen oder anderen Teilnehmerin ins Gespräch. Eine von ihnen, die ehrenamtlich auch einen Teil des Seminars geleitet hatte, hatte von den anderen Teilnehmern eine Spende von zwanzig Euro bekommen, was ihr unangenehm war, weil sie das Gefühl hatte, dafür kein Geld annehmen zu dürfen. Als sie von uns unserer Reise hörte, kam ihr die Idee, dass sie die Spende direkt an uns weiterleiten könnte. Dann hätten wir eine kleine Unterstützung für unsere Reise und sie brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben. Vollkommen begeistert erzählte sie ihre Idee der Chefin des Hauses. Auch sie fand die Idee großartig, münzte sie aber ein klein wenig um. Da wir für unseren Aufenthalt ja nicht selbst zahlen konnten, wäre es doch das Beste, wenn sie die Spende über uns direkt an das Haus weitergäbe. Denn dann wären wir gewissermaßen als offizielle Gäste hier, könnten ganz normal alles nutzen und brauchten uns keine Gedanken zu machen. Für uns selbst änderte sich dadurch allerdings nichts. Wir schliefen weiterhin im Gebetsraum auf eigenen Matten und aßen dennoch die Reste des Seminars zum Abendessen, genau so, wie wir es ohnehin getan hätten.

07.11.2016 In Deutschland verlaufen die Tage doch immer etwas anders als man es sich so vorstellt. Heute Nacht hat es das erste Mal geschneit und bei unserem Start am Morgen waren einige der Autos noch immer weiß überzuckert. Die Mitarbeiterin der Pilgerherberge in Oberdischingen gab uns einen Zettel mit, auf dem lauter Familien verzeichnet waren, die hier in der Region Jakobspilger aufnehmen. Die meisten davon gegen Bezahlung oder auf Spendenbasis, aber für unser heutiges Etappenziel hatte die Herbergsleiterin gleich eine Idee, an wen sie sich wenden könnte, um vielleicht auch einen kostenlosen Platz für uns zu organisieren. Sie erreichte eine ältere Dame, die sofort zusagte und uns, für den Fall, dass sie nicht zuhause sein sollte, sogar einen Schlüssel bereit legen wollte. Als wir vier Stunden später ankamen, wurden wir mit einem heißen Tee und einer leichten Skepsis empfangen. Irgendwie war es ihr und vor allem ihrem Mann dann doch etwas seltsam vorgekommen, dass zwei Männer so ganz ohne Geld durch die Lande zogen. Was mochten das für Leute sein? Und vor allem: Hatten die nichts besseres zu tun?

Es dauerte aber nicht lange, bis das Eis gebrochen war und schnell stellte sich heraus, dass wir nicht ohne Grund gerade hier in diesem Haus gelandet waren. Unser Gastgeber stand kurz vor einer Herz-OP, bei der er sich unsicher war, ob er sie nun durchführen lassen sollte oder nicht. Den halben Nachmittag und die halbe Nacht saßen wir zusammen und kamen von einem Thema aufs nächste. Hier in Deutschland war die Art, wie wir auf unserer Reise wirken konnten doch noch einmal eine viel direktere. Man kam grundsätzlich zu nichts von dem, was man sich vorgenommen hatte, aber dafür konnte man einiges beitragen, weniger durch Bücher und Berichte, mehr durch den direkten Kontakt.

Spruch des Tages: Wie gewonnen, so zerronnen

Höhenmeter: 40 m Tagesetappe: 24 km Gesamtstrecke: 19.219,27 km Wetter: Bewölkt, 0-2°C und windig Etappenziel: Pfadfinderheim, 6845 Hohenems, Österreich

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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