Tag 1051: Arbeitsmoral

von Heiko Gärtner
16.11.2016 21:46 Uhr

08.11.2016

Heute haben wir sogar schon die ersten Schneemänner gesehen. Sie waren bereits halb geschmolzen, mussten aber bei ihrer Entstehung eine stattliche Größe gehabt haben. Wenn ich schätzen müsste, würde ich ungefähr auf die Größe eines dreijährigen Kindes tippen, was einiges darüber aussagt, wie hoch hier der Schnee gelegen haben muss. In einem Waldstück trafen wir einen Jäger, der gerade mit seinem Hund spazieren ging. Wir unterhielten uns eine Weile mit ihm und sprachen dabei auch über die Unterschiede zwischen unserem und seinem Lebensstil.

„Wir hier auf dem Land sind da ja eher etwas engstirnig“, meinte er und bezog sich damit auf seine Einstellung gegenüber dem Arbeiten, bzw. dem „Schaffe“ wie man hier im Schwabenländle sagt. Bei den Schwaben ist diese Einstellung bereits sprichwörtlich: „Schaffe, raffe, Häusle baue!“ aber auch im Rest von Deutschland sehen wir die Dinge nicht viel anders. Bereits bei einigen Gesprächen in letzter Zeit ist uns dabei aufgefallen, wie paradox unser Verhältnis zur „Arbeit“ eigentlich ist. Arbeiten, also „gscheid schaffe“, ist für uns das wichtigste. Es ist das, worüber wir uns identifizieren und definieren. Allein, wenn man sich unsere Namen betrachtet wird das deutlich. In Schweden und Norwegen heißen die Menschen Erikson oder Larsson oder Henrikson und so ähnlich. Traditionell war der Familienname also immer der Name des Vaters mit dem Zusatz „Sohn“ dahinter.

Die Hauptidentifizierung bestand also aus der Familie. Es war wichtig, wessen Sohn man war um zu wissen, wer man selbst ist. Wir hingegen heißen Meier, Müller, Gärtner und so weiter. Wir benennen uns also nach unserem Beruf. Heute machen wir das zwar nicht mehr direkt, denn niemand nennt sich „Mediendesigner“ nur weil er in der Webebrange tätig ist. Dafür arbeiten jetzt die Müller als Gärtner, die Meier als Autoverkäufer und die Gärtner wandern um die Welt. Aber trotzdem ist der Beruf noch immer das, worüber wir uns am meisten identifizieren. „Hallo mein Name ist Günter und ich bin Bauingenieur!“

Wenn man nun keinen normalen Beruf hat, weil man um die Welt wandert, ohne Geld lebt, Blogartikel und Bücher schreibt, Menschen heilt, bei denen man zu Besuch ist und das tut, was gerade ansteht, dann ist das natürlich erst einmal abstrakt. „Schaffet ihr dann garnit?“ ist eine Frage, die wir oft zu hören bekommen.

Fünf bis acht Stunden am Tag am Computer zu sitzen, zu recherchieren, zu schreiben, Bilder und Filme zu bearbeiten und der gleichen mehr, zählt in unserem Land durchaus als Arbeit. Aber nur dann, wenn man es nicht für sich, sondern für einen Arbeitgeber macht. Ob es sinnvoll ist oder nicht, ob man damit jemandem hilft oder nicht, ob man damit einen Beitrag zum Wohle der Menschheit bzw. des Planeten leistet oder nicht, all das spielt keine Rolle. Man darf damit durchaus auch eine Menge schaden anrichten, indem man beispielsweise Beipackzettel für Medikamente schreibt und dabei so viele Nebenwirkungen wie möglich unter den Tisch fallen lässt. Man darf auch ein ganzes Gebirge mit unberührten Wäldern und einer unermesslich großen Artenvielfalt zerstören, indem man eine Autobahn baut oder ein neues Kohleabbaugebiet erschließt. All dies ist in Ordnung, solange man dafür bezahlt wird. Wenn man einen solchen bezahlten Job macht, dann steht es einem frei, nebenbei noch einige andere Arbeiten auszuführen, die nicht bezahlt werden. Das nennt man dann ehrenamtliches Arbeiten. Es zählt aber nur dann als Arbeit, wenn es für eine Organisation oder einen Verein gemacht wird. Ohne diese Institution ist es einfach ein Hobby.

Spannend ist, dass wir einen Menschen vor allem nach diesem Grundprinzip beurteilen. Ein guter Mensch arbeitet hart und viel und gönnt sich selbst nur wenig. Dass er damit sich selbst und seine Familie kaputt macht, ist zwar schade, aber nicht verwerflich. Anders ist es hingegen, wenn er bei seiner Arbeit Spaß hat, und sie gerne ausübt. Dann ist es ja eigentlich schon keine richtige Arbeit mehr und wenn er sie dann an erste Stelle stellt, dann ist er ein schlechter Partner oder Elternteil, weil er nun ja seine Familie bewusst vernachlässigt.

Macht man nun jedoch die gleichen Arbeiten, ohne das man dabei einen Arbeit- oder Auftraggeber hat und ohne dass man dafür Geld bekommt, zählen sie jedoch plötzlich nicht mehr als Arbeit. Von nun an kann man tun und schaffen, so viel man will, man ist dennoch ein fauler Sack, der auf Kosten anderer lebt. Macht man die Dinge nun ohne Geld und gegen seinen Willen, weil sie hart, schwer und lästig sind, dann ist es vielleicht auch gerade noch in Ordnung. Aber wehe, man hat auch noch Spaß daran und sieht es selbst nicht einmal als eine „Arbeit“ im Sinne von „Aufwand“, „Überwindung“ oder „Kasteiung“ an! Dann ist alles zu spät und man ist vollkommen unten durch. Ein wenig paradox ist das schon, oder nicht? Wenn man nun jeden Tag 20km wandert, dann ist das eine reine Freizeitbeschäftigung. Trainiert man jeden Tag ungefähr die gleiche Zeit und spielt dann hin und wieder für einen namenhaften Verein Fußball, ist es eine Arbeit und dazu noch eine, die immens gut bezahlt wird. Sagt man als Doktor einem Patienten in seiner Praxis: „Es tut mir Leid, aber Ihre Krankheit ist leider unheilbar, da können wir nichts machen!“ dann ist das eine ehrenhafte Arbeit. Kommt man auf einer Reise bei einem Besuch durch ein Nachmittagsgespräch bei Kaffee und Kuchen auf die Krankheitsursache und auf eine Lösung, mit der ein Mensch sich selbst wieder heilen kann, dann ist das hingegen nur ein netter Plausch.

„Wo kämen wir denn hin, wenn jeder nur das machen würde, wonach ihm ist und worauf er von tiefstem Herzen aus Lust hätte?“ Diese Frage hörten wir auf unserer Reise immer wieder. Sie wird meist als eine rhetorische Frage gestellt, bei der wir davon ausgehen, dass unsere Welt im Chaos versinken würde, wenn wir wirklich auf diese Weise leben würden. Aber würde sie das? Was wäre denn, wenn jeder seinem Herzen folgen und genau das tun würde, was sich für ihn richtig anfühlt, was ihn beflügelt und inspiriert, worin er aufgeht und was ihm wirklich echte Freude bereitet? Wäre unsere Welt dann wirklich so ein düsterer Ort? Selbst wenn wir davon ausgehen, dass dann einige Dinge funktionieren und andere überhaupt nicht, dass es vielleicht irgendwo zu Streitereien, ja gar Kriegen oder großen Auseinandersetzungen kommen würde, das vielleicht nicht immer alles vollkommen gerecht oder ausgeglichen wäre, dass es vielleicht einen Mangel an bestimmten Dingen und einen Überschuss an anderen gäbe, was wäre dann schlimmer als es jetzt ist? Kein Fuchs steht morgens auf uns denkt: „Scheiße, heute muss ich schon wieder auf Mäusejagt gehen! Oh Gott ist das wieder anstrengend!“ Keine Sonnenblume denkt: „Oh nein, jetzt ist wieder Sommer und ich muss tagelang blühen und ständig meinen Kopf in Richtung Sonne halten! Und dann der Herbst erst, da muss ich dann auch noch diese ganzen Kerne produzieren, Mann wird das wieder stressig! Was freue ich mich schon auf den Winter, wenn das alles vorbei ist und ich endlich einmal Pause machen kann!“

Aber wir Menschen machen genau das! Wir sind die einzigen Wesen auf diesem Planeten, die glauben, nur dann leben zu können und zu dürfen, wenn sie etwas dafür tun, was sie eigentlich nicht tun wollen. Und das nennen wir dann auch noch Fortschritt. Das ist es, worüber wir mit Stolz sagen, dass wir nun nicht mehr zu den wilden Naturgeschöpfen zählen, sondern zivilisierte und anständige Wesen geworden sind. Unser erstes Etappenziel hieß Biberach. Der Name hatte sowohl bei Heiko als auch bei mir eine sehr positive Assoziation mit dem Wort Biber geweckt und wir hatten uns beide ein kleines, nettes Dorf mit einem Fluss voller Biber vorgestellt. Tatsächlich aber kamen wir in eine relativ große und nicht gerade gemütliche Stadt. Ok, die Ungemütlichkeit lag zu großen Teilen auch am Wetter, denn der Marktplatz im Zentrum war sogar ganz nett, aber verglichen mit unserer Vorstellung waren wir dennoch etwas enttäuscht. Am Marktplatz trafen wir uns mit einer Redakteurin der Lokalredaktion der Schwäbischen Zeitung, die uns vor dem Brunnen interviewte. Gerade, als wir mitten im Gespräch waren, lief plötzlich ein vertrautes Gesicht an uns vorbei. Es war unsere Gastgeberin der letzten Nacht.

Das Interview hatte sowohl die junge Frau von der Redaktion als auch uns vollkommen auskühlen lassen. Unsere Reporterin huschte daher so schnell wie möglich in ihre Redaktion zurück und wir machten uns daran, uns wieder ordentlich warm zu laufen. Wenige Kilometer weiter trafen wir dann eine alte Freundin aus München wieder, die uns ein Stück begleitete. Diese Begegnung war allerdings nicht zufällig, sondern geplant, denn sie hatte uns schon seit langem einmal wieder besuchen wollen. Als wir uns von ihr verabschiedeten dämmerte es bereits. Warm war es den ganzen Tag nicht gewesen, doch nun sanken die Temperaturen auf unter Null Grad und dazu kam noch ein kalter Wind auf. Umso mehr freuten wir uns, als wir schließlich das Jugendheim der katholischen Pfarrgemeinde von Steinhausen beziehen konnten. Auch dieses war noch recht kalt, doch es gab zwei große Heizkörper an den Wänden. Bis es sich einigermaßen aufgewärmt hatte wurden wir von einer Nachbarin zum Abendessen eingeladen. Als ich am Abend meine Mails abrief, befand sich darunter auch eine Reaktion auf meinen Bericht über den Shit-Storm, den ich in Form von Mails und Kommentaren vor einiger Zeit erhalten hatte. Sie bestand aus einer klaren und ehrlichen Aussage: „Ungeheuchelt und aus tiefstem Herzen: Krüger verpiss dich, keiner vermisst dich!“

Es geht doch! Endlich mal eine klare Ansage und nicht immer dieses Herumgerede um den Heißen Brei! Da weiß man wenigstens woran man ist! Gut also, dass es diesen Krüger nicht mehr gibt, von dem hier alle reden. Schade ist jedoch, dass auch hier, wie bei den meisten anderen Kommentaren der Autor wieder einmal zu feige war, seinen echten Namen dazuzuschreiben und lieber ein lustiges Synonym benutzt. Nicht, dass das etwas ändern würde, denn genau wie bei der Nummernanzeige im Telefon sendet man ja auch bei jeder e-Mail und jedem Kommentar im Internet automatisch seine IP-Adresse und damit auch seinen Standort, seinen Internetanbieter und alles, was man sonst zur Identifizierung braucht mit. Man hätte also auch einfach gleich ehrlich sein können.

Spruch des Tages: Krüger verpiss dich, keiner vermisst dich! (Anonymer Kommentarschreiber)

Höhenmeter: 50 m Tagesetappe: 26 km Gesamtstrecke: 19.235,27 km Wetter: Bewölkt, 6-8°C, teilweise Regen Etappenziel: Jugendraum der Kirchengemeinde, 6800 Feldkirch, Österreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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