Tag 1064: Kloster Einsiedeln

von Heiko Gärtner
06.12.2016 01:47 Uhr

23.11.2016

Uns war ja klar, dass wir nicht durch die Alpen wandern konnten, ohne dabei einen einzigen Berg hinaufzusteigen. Heute war der Tag X nun gekommen. Lachen war das letzte Dorf in der Flachebene und von hier aus mussten wir einen Pass auf knapp 1000hm überqueren um nach Einsiedeln zu kommen. Nicht gerade ein sanfte Einstieg, denn es bedeutete, dass wir an diesem Tag gute 600 Höhenmeter machen mussten. Dabei hatten wir an den letzten Tagen bereits die Autobahnunterführungen als anstrengend empfunden. Kaum hatten wir den Ort verlassen kamen wir auch schon ins Schwitzen und für die nächsten acht Kilometer sollte sich dies auch nicht mehr ändern. Zunächst führte uns eine kleine Straße den Berg hinauf und so sehr wir auch vor uns hin keuchten, so sehr freuten wir uns doch darüber, endlich von den Autobahnen und Hauptstraßen wegzukommen. Wenn wir jedoch geglaubt hatten, dass es weiter oben in den Bergen ruhiger war, dann hatten wir uns geschnitten. Bis wenige Meter vor dem Pass war das Rauchen der im Tal vorbeifahrenden LKWs noch immer deutlich zu hören. Dennoch war der Blick von hier oben atemberaubend. Unter uns lag nun der Zürichsee mit all den kleinen und großen Ortschaften an seinem Ufer. Es war fast ein wenig erschreckend zu sehen, wie vollbesiedelt auch die Schweiz war, die wir immer für ein idyllisches Bergland gehalten hatten.

Etwa auf halber Strecke bis zum Pass stießen wir wieder auf den Jakobsweg. Es dauerte keine Hundert Meter und er führte uns von dem kleinen asphaltierten Sträßchen (oder wie es hier heißt: „Sträßli“) mitten ins nichts auf eine Wiese. Wir hätten es uns auch denken können: Wenn der Jakobsweg die Möglichkeit hatte, einen irgendwo durch die Walachei zu führen, so dass alles gleich zehnmal so anstrengend wurde, wie es eigentlich sein müsste, dann nutze er sie auch. Man musste jedoch zugeben, dass der Weg ohne jede Frage wunderschön war und für einen Moment herrschte hier sogar einmal eine harmonische Stille. Dann kamen allerdings schon wieder die Düsenjets des Militärs, die über unsere Köpfe hinweg kreisten. Eine leise Stimme hallte in unseren Köpfen wieder: „Nein! So etwas konnte es nur in Italien geben! Deutsche, Österreicher und Schweizer würden es nicht so einfach hinnehmen, wenn man ihren Lebensraum zerstörte, nur weil der Staat einen Schwanzvergleich in Form einer Präsentation seines Waffenarsenals abhalten musste!“ Es war die Überzeugung, die wir vor knapp einem Jahr in Italien vertreten hatten. So sehr konnte man sich irren.

Kurz bevor wir den Pass erreichten, steckten wir plötzlich in einer Sackgasse fest. „Verdammt!“ rief Heiko, „Ich weiß wieder, was mich damals an der Schweiz immer so aufgeregt hat!“ Bereits bei der Steinzeitpilgertour war Heiko an den vielen Zäunen, die dieses Land in kleine mundgerechte Happen zerteilten, schier verzweifelt. Überall wo man hinkam stand einem ein Stacheldrahtzaun im Weg und die Durchgänge, die man für Wanderer gelassen hatte, waren meist so klein und verwinkelt, dass man sie kaum mit einem Wanderrucksack passieren konnte. Mit einem Pilgerwagen hingegen war es vollkommen unmöglich. Ungünstigerweise waren gleich mehrere Richtungen versperrt. Der Jakobsweg führte steil weiter den Hang hinauf, doch genau wie die kleine Autostraße rechts von uns lag er hinter einem Zaun. Die offenen Wege führten zurück ins Tal oder nach links in eine Richtung, in die wir nicht wollten. Mussten wir nun wirklich die Wagen über den Zaun heben?

Nein, zum Glück nicht! Das hätte uns an dieser Stelle auch sicher den Rest gegeben. Stattdessen entdeckten wir eine Stelle im Zaun, an der man den Stacheldraht aushaken konnte, so dass sich eine Lücke ergab. Durch diese kamen wir seitlich auf die Teerstraße, die ohnehin der angenehmere Weg von beiden war. Es folgten noch zwei Serpentinen, die uns fast zum Weinen brachten, dann waren wir oben. Schon von weitem strahlte uns ein großes Gebäude mit der Aufschrift „Speiselokal“ entgegen. Nach dem Anstieg war eine kleine Stärkung genau das Richtige. Als wir den Pass jedoch erreicht hatten, wurde deutlich, dass auf dem großen, hölzernen Herzen an der Tür nicht „Willkommen!“ sondern „Mittwochs und Donnerstags Ruhetag“ stand. Soviel also zu unserem Gipfelpicknick. Naja, wir hatten ja immerhin noch ein halbes Gnietschbrötchen vom Vortag.

Vom Pass aus ging es tief in ein Tal hinunter, in dem sich ein Fluss mit einer kleinen Brücke darüber befand. Dann ging es gleich noch einmal weitere hundert Höhenmeter wieder hinauf auf einen zweiten Pass. „Langsam erinnere ich mich wieder daran, warum ich die Schweiz als so anspruchsvoll empfunden habe!“ schnaufte Heiko. „Ich glaube, der Weg nach Einsiedeln war einer der zwanzig härtesten Tage, die ich hier erlebt habe!“ „Oha!“ antworte ich mit gemäßigter Begeisterung, „Und wie viele Tage hast du insgesamt in der Schweiz verbracht?“ „So rund 21!“ meinte er trocken. Hier, mitten auf der Alm, abgeschnitten von den Tälern war es jedoch das erste Mal richtig schön. Hier konnte man sich ein Leben vorstellen und es war, als wäre man plötzlich in einer vollkommen anderen Welt.

Als wir den ersten Blick auf Einsiedeln werfen konnten war uns sofort klar, dass wir auch diesen Ort vollkommen anders eingeschätzt hatten. Unter „Einsiedeln“ hatten wir uns ein kleines, verlassenes Bergdorf vorgestellt und nicht gerade eine Stadt mit zwei Schnellstraßen und mehreren Hochhäusern. Als die ersten Benediktinermönche vor vielen hundert Jahren das Kloster hier gründeten, hätten sie sich sicher auch nicht träumen lassen, dass man einmal eine Bundesstraße vor ihre Haustüre bauen würde, damit sie leichter erreichbar waren. Man hatte hier sogar eine Straße mitten über einen See gebaut und noch einmal zu betonen, dass uns wirklich gar nichts heilig ist. Wir mögen einfach keine Natur und wir mögen auch keine Menschen. Beides stört ja auch eigentlich immer nur bei dem Versuch, unsere Industrie noch effektiver und profitabler zu gestalten.

Wir stellten unsere Wagen vor dem Klosterportal ab und sahen uns erst einmal in Ruhe um. Ein Pfarrer führte mich zu einer Dame am Empfang, die ich wegen einer Übernachtungsmöglichkeit fragte. Nach unseren Erfahrungen in Österreich und Deutschland waren wir schon seit Tagen gespannt darauf, ob man uns hier aufnehmen würde oder nicht. Immerhin war Einsiedeln einer der berühmtesten Wallfahrtsorte Mitteleuropas. Tatsächlich war der Empfang hier bei weitem freundlicher als in allen anderen Klöstern im deutschsprachigen Raum zusammen. Und doch wurde auch hier deutlich, dass Klöster heute in erster Linie Wirtschaftsbetriebe waren. Einsiedeln hatte extra für Jakobspilger zwei Unterkunfsträume eingerichtet. Eines war ein Sechsbettzimmer, das andere ein Doppelzimmer. Da es Pilgerunterkünfte waren, waren sie natürlich deutlich günstiger als die üblichen Zimmer, die man hier mieten konnte. In diesem Fall bedeutete günstiger jedoch, dass es in der Bettenburg pro Person 35 Franken und im Doppelzimmer pro Person 45 Franken die Nacht kostete. Umgerechnet waren das knapp 40 und 50 Euro, für die man ein kurzes, knarrendes Jugendherbergsbett ohne Deckbett bekam, eine Dusche auf dem Gang, die nur teilweise heißes Wasser bot und ein Abendessen, das bei weitem nicht an das heranreichte, das wir vor zwei Tagen im Altenheim bekommen hatten. Für uns persönlich war das alles kein Problem, denn wir mussten den Preis nicht bezahlen und freuten uns über ein warmes Zimmer und ein ausführliches Abendessen. Aber wenn wir uns vorstellten, wirklich als normale Pilger unterwegs zu sein und für die Unterbringung tatsächlich zahlen zu müssen, dann fühlte sich das schon etwas hart an. Damals in Spanien hatten wir uns oft darüber aufgeregt, wie sehr die Pilger abgezockt wurden, aber nun musste man die Spanier doch wieder etwas in Schutz nehmen. Klar nutzen auch sie jede Gelegenheit um so viel Profit wie möglich aus den Pilgern zu schlagen, aber sie blieben zumindest noch irgendwo in einem Rahmen, den man als machbar erachten konnte. Wenn man hier wirklich 40€ pro Nacht nur für die Unterkunft zahlen musste, war man bei 20 Tagen Wanderung durch die Schweiz bereits bei 800€. Selbst wenn jetzt Frühstück und Abendessen immer mit dabei waren und man sich nur Mittags etwas kaufen musste kamen aber trotzdem noch einmal locker 10 bis 20 Euro hinzu. Denn allein ein gewöhnlicher Döner, der bei uns drei bis vier Euro kostet, kostet hier bereits 8 bis 12 Franken, also rund 9 bis 13 Euro. Im günstigsten Fall ist man dann also bei 1000 bis 1400€ für eine zwanzigtägige Wanderung durch die Schweiz, nach der man noch immer rund 2000km von Santiago entfernt ist. Das ist ja nahezu untragbar. Langsam wundert es nicht mehr, dass es nur so wenige Menschen gibt, die den ganzen Jakobsweg zurücklegen.

In unserem Fall erklärte mir die Dame am Empfang jedoch, dass es sich bei den Pilgerzimmerpreisen um „Richtpreise“ handele, die in besonderen Fällen durchaus auch geändert oder vollkommen gesenkt werden konnten. Eine Pilgerreise von 19.000km ohne Geld wäre als so ein Sonderfall durchaus denkbar. Sie versprach, dies mit dem zuständigen Mönch abzuklären und bat mich in einer halben Stunde wieder zu kommen. Diese Zeit nutzen wir, um uns das Kloster und die Innenstadt von Einsiedeln anzusehen. Das Kloster selbst war riesig, bestand jedoch hauptsächlich aus Bereichen, in die man nicht so ohne weiteres hinein durfte. Der linke Flügel beherbergte das Gymnasium und der hintere Bereich war den fünfzig hier ansässigen Mönchen vorbehalten. Dass diese an einem so touristischen Ort ihre Ruhe haben wollten, konnte man ihnen nicht verübeln. Der rechte Flügel beherbergte die Gästezimmer und noch etwas weiter rechts befanden sich die Stallungen, die heute von privaten und betuchten Pferdeliebhabern genutzt wurden. In der Mitte befand sich die Klosterkirche, die man in jeder Hinsicht mit dem Wort epochal beschreiben kann. Ähnlich wie in Santa Maria degli Angeli gab es auch hier in der großen Kirche noch einmal eine kleine Kapelle, in der eine schwarze Maria in vergoldeten Kleidern ausgestellt war. An jedem Eingang stand eine groß Hinweistafel, die den Besuchern klar machte, dass die Kirche ein Ort der Stille war, an dem man sich ruhig verhalten und an dem man weder fotografieren noch filmen sollte.

Die meisten Besucher nahmen das mit der Stille durchaus ernst. Ganz im Gegenteil zu den Kirchenpflegern, die gerade dabei waren, das Gotteshaus auf Vordermann zu bringen. Sie sorgten dafür, dass tatsächlich ein Kettenfahrzeug durch die heiligen Hallen rollte, das aussah wie ein Minipanzer. Mit seiner Hilfe versuchten sie in die oberen Bereiche der Kirche zu gelangen, um hier Reinigungs- und Reparaturmaßnahmen vorzunehmen. Natürlich durften die Ketten den Marmorfußboden nicht berühren, denn sonst hätte man ja gleich den nächsten Reparaturdienst gebraucht, der den Boden wieder aufpoliert. Um das zu verhindern musste der Minipanzer auf Holzbrettern fahren, die immer wieder vor ihm auf den Boden geworfen wurden. Jedes Mal gab es dabei einen lauten Knall, der durch die ganze Kirche hallte, wie ein Gewehrschuss. Einige ältere Damen versuchten dennoch vor der Maria zu beten, gaben es aber schließlich auf. Es war hoffnungslos. Selbst wenn sie es schafften, sich soweit zu konzentrieren, dass sie ihre Botschaft an Gott formulieren konnten, hätte er sie bei diesem Lärm wahrscheinlich nicht einmal hören können. Und irgendwie war es ja auch komisch, wenn man als Antwort auf ein Gebet von oben immer nur die Worte „Was?!? Kannst du bitte etwas lauter sprechen, ich hör dich so schlecht!“ erhielt.

Die Innenstadt von Einsiedeln war auch nicht gerade das, was man einen Ruhepol nennen konnte. Am Wochenende begann hier der Weihnachtsmarkt und nun war die ganze Stadt in heller Aufruhr wegen der Vorbereitungen. Überall wurden Marktstände sowie kleine und große Weihnachtsbäume aufgestellt und aus großen Lautsprechern wurden die Straßen bereits mit Weihnachtsmusik beschallt. Es war ein hektisches, wuseliges Treiben, aber es vermittelte trotzdem auch schon eine erste Weihnachtsstimmung. Vor allem am Abend, als wir noch einmal im Dunkeln durch den Ort liefen, wurde uns ganz weihnachtlich zumute. Vor der beleuchteten Fassade des Klosters stand nun ein riesiger Weihnachtsbaum, der bereits im hellem Glanz der Lichterketten erstrahlte. Auch einige der Marktstände waren schon weihnachtlich Dekoriert und gaben einen ersten Eindruck davon, wie es hier in ein paar Tagen aussehen würde.

Wieder in unserem Zimmer erfuhren wir passender Weise von Heikos Vater noch ein paar Details über das Kloster Nerenstetten, das wir vor einigen Wochen gemeinsam mit Heikos Eltern besucht hatten. Vor rund drei Jahren war dort der Abt verstorben. In seinem Nachlass hatte sein vollkommen überraschter Nachfolger zwei geheime Konten mit insgesamt 4,4 Millionen Euro gefunden, von denen niemand wusste, wo diese herkamen. Drei Jahre lang hatte es Nachforschungen darüber gegeben, um herauszufinden, ob es sich um Steuerhinterziehung, illegale Geschäfte, Geldwäsche oder etwas anderes in der Richtung handelte. Schließlich war dann auch noch ein ominöser Anwalt aus Krefeld aufgetaucht, der Anspruch auf das Geld erhob und behauptete, es gemeinsam mit dem Abt aus einem raffinierten Steuervermeidungsprogramm erwirtschaftet zu haben. Er uns der Abt kannten sich bereits aus der Schulzeit und so wie es aussah nutzten sie den Umstand, dass gemeinnützige, kirchliche Einrichtungen viele Steuervergünstigungen erhalten um sich selbst einiges auf die Seite zu schaffen. Es entstand ein Rechtsstreit zwischen dem Kloster und dem Anwalt, der sich über drei Jahre hinzog. Nun vor ein paar Tagen hatte das Stuttgarter Landesgericht beschlossen, dass die Mönche das Geld behalten dürfen.

Spruch des Tages: Mäh´n Äbte Heu? Äbte mäh´n nie Heu, Äbte beten! Oder horten Millionen

Höhenmeter: 280 m Tagesetappe: 28 km Gesamtstrecke: 19. 397,27 km Wetter: bewölkt, kalt und windig mit einigen Sonnenflecken Etappenziel: Veranstaltungsscheune der Kirche, Brienz, Schweiz

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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