Tag 1164: Ein Hoch auf die Atomenergie

von Heiko Gärtner
18.04.2017 18:46 Uhr

11.03.2017

Bereits gestern hatten wir hinter der Hügelkette am Horizont eine riesige Wolke zum Himmel aufsteigen sehen. Mit riesig meine ich hier tatsächlich so groß, dass wir uns nicht vorstellen konnten, dass sie durch Menschenhand entstehen konnte. Jedenfalls nicht kontrolliert. Vielleicht hatte es eine Explosion, gegeben, die eine ganze Stadt ausgelöscht hatte. Oder irgendwo in der Nähe war ein Vulkan ausgebrochen. Doch wir langen falsch, denn nur wenige Kilometer weiter konnten wir erkennen, dass es sich tatsächlich um eine ganz bewusst erzeugte, künstliche Wasserdampfwolke handelte. Vor uns lag ein Atomkraftwerk in einer Größe, wie wir es zuvor nicht einmal für möglich gehalten hätten. Das Geländer umfasste eine Fläche von rund vier Quadratkilometern und trotz der noch immer großen Entfernung hatten wir bereits die Kuppel mit dem Reaktorkern und die Kühltürme gesehen.

Bevor wir auf unserer Wanderung heute nun direkt an dem Kraftwerk vorbei kamen, gab es jedoch einige andere Auffälligkeiten, die eine Erwähnung wert sind. Von unserer Party-Höhle aus gelangten wir nach zwei Kilometer in eine Kleinstadt mit knapp viertausend Einwohnern. Städte in dieser Größe boten in Frankreich normalerweise so gut wie gar nichts, aber hier war es anders. Plötzlich gab es große Parkanlagen mit kleinen Seen und Brücken, mit Bänken und Kinderspielplätzen. Die Straßen waren verkehrsberuhigt, es gab Fuß- und Fahrradwege und sogar ein ortseigenes Schwimmbad, sowie eine Multi-Sport-Halle in der gerade ein Handballturnier für Kinder stattfand. Und hinter allem stiegen die großen, weißen Dampfwolken in den Himmel auf. Das Kraftwerk war nun keine 800 Meter mehr von uns entfernt. Sollte es also wirklich zu einer Explosion durch eine Kernschmelze kommen, war die Strahlung hier sicher kein Problem mehr. Man war einfach weg. Wenigstens gab man den Kindern die Gelegenheit, bis zur letzten Sekunde zu schaukeln und zu rutschen. Wir erreichten den Ausgang aus der Stadt, wodurch sich der Blick nun öffnete und die Sicht auf die direkte Umgebung des Kraftwerks freigab. Man hätte vermuten können, das Werk hier inmitten eines Areals aus brach liegenden Feldern vorzufinden, doch das war nicht der Fall. Bis an den Sicherheitszaun des Kernkraftwerkes standen dicht gedrängt unzählige Gewächshäuser mit unterschiedlichen Gemüsepflanzen darin. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein großer, roter Flachdachbau aus dem ein futuristisch anmutendes Licht auf die Straße fiel. Es war eine Indoor-Aufzuchtstation für Tomaten, die komplett künstlich mit UV-Licht versorgt wurden. Na wenn dass mal kein gesundes Gemüse wurde!

Wir erreichten nun die Mauer des Kraftwerkgeländes und konnten erstmals ein paar Einzelheiten der Anlage erkennen. Das , was wir von weitem für Kühltürme gehalten hatten, waren nicht einfach Kühltürme. Es waren regelrechte Kühlturmhaufen. Jede der vier Wolken, die sich in rund hundert Meter Höhe zu einer einzigen vereinten, hatte ihren Ursprung in einem Kreis, der aus rund zwanzig dicht gedrängten Kühltürmen bestand. Ein kleines Stück dahinter befand sich eine große metallene Kuppel, so wie man sie aus Simpsons kennt. Das Gelände selbst war von einem hohen Zaun umgeben, an dem in regelmäßigen Abständen Schilder mit „Achtung Nuklearenergie! Betreten nicht gestattet!“ hingen. Um am Kraftwerk vorbei zu kommen mussten wir ein Stück über die Hauptstraße ausweichen. Auch hier bot sich wieder ein recht amüsantes und zugleich verstörendes Bild. Rechts von uns ragten die dampfwolken-speienden Kühltürme in die Höhe und links erstreckte sich ein großes Weinfeld, das mit einer Werbetafel für Bio-Wein von erstklassiger Qualität gekennzeichnet war. Ehe ich mich darüber noch recht wundern konnte, begann es plötzlich zu regnen. Für einen Moment konnte ich es nicht richtig einordnen, das de Himmel zuvor blau gewesen war und es noch immer nicht nach Regen aussah. Dann begriff ich, dass das Wasser nicht aus Regenwolken, sondern aus den Wolken der Kühltürme auf uns herab fiel. Es war das Kühlwasser eines Atomkraftwerks, mit dem wir uns nun duschten. Und nicht nur wir. Das ganze Weinfeld wurde durch das Kühlwasser wie mit einer Spränkleranlage berieselt. Ob der Wein am Ende wirklich noch so Bio war, wie er gerne gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln, aber er schaffte es sicher, seine Konsumenten zum Strahlen zu bringen.

Am hinteren Ende der Kraftwerksanlage erreichten wir einen großen Parkplatz mit einem Besuchereingang. Hier gab es ein Informationszentrum, in dem man sich aus erster Hand über das Kraftwerk und Atomenergie als solche informieren konnte. Das wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Als wir durch die imposante Drehtür traten wurden wir sofort von einer Frau empfangen, die man in keinem Comic besser hätte darstellen können. Sie besaß nur noch ihre beiden oberen Eckzähne, die sie bei ihrer grimmigen Begrüßung direkt zur Schau stellte. Ihr stämmiger, muskulöser und vor allem maskuliner Körper war in einen grauen Overal gesteckt worden, ihre glatten, graubraunen Haare in einem strengen Zopf zurückgekämmt und ihre Augen starrten uns mit einem trüben, freudlosen Blick durchdringend an. Alles, aber auch wirklich alles an dieser Frau sagte aus: „Verschwindet, ihr seit hier nicht willkommen!“ Wenn man ein Museum oder ein Wissenschaftsinformationszentrum betrieb, bei dem man möglichst vielen Gästen einen Einblick in ein interessantes Feld unserer Gesellschaft bieten wollte, dann war diese Frau als Empfangsdame wohl eher ungeeignet. Wollte man jedoch lästige und neugierige Schnüffler, die überall ihre Nase hineinstecken und ungeliebte Fragen stellen mussten, von seinem Betrieb fernhalten, dann war sie die ideale Besetzung. Jeder, der sie sah, vergaß all seine Fragen zum Thema Atomenergie und wollte nur möglichst schnell wieder ins Freie. Selbst wenn das der Kühlwasserregen auf einen wartete.

Für den Fall, dass Leute wie wir kamen, die sich nicht ganz so einfach abwimmeln ließen, hatte man aber vorsichtshalber noch eine weitere Finte eingebaut. Das Informationszentrum war am Wochenende nicht für Besucher zugänglich. Die Besuchszeiten fanden nur unter der Woche zu üblichen Geschäftszeiten statt. Mit anderen Worten, man hatte immer dann für die Menschen offen, wenn diese keine Zeit hatten. Lediglich Schulklassen konnten hier eine Führung buchen, bei der man dann das erzählen konnte, was man preisgeben wollte, ohne Gefahr zu laufen, dabei unnötiges Interesse zu wecken. Ganz ohne Erfolg war unser Besuch im Informationszentrum dann allerdings doch nicht, denn Heiko durfte hier immerhin einmal aufs Klo gehen. Wenn es hier schon einen Ort gab, an dem die Umwelt verseucht wurde, dann konnte man ja wenigstens noch seinen Anteil dazu beitragen. Dazu musste er lediglich die Kamera und seine Jacke abgeben und dann durch die Sicherheitsschleuse auf die andere Seite gehen. Besonders intensiv war die Sicherheitskontrolle dabei nun auch wieder nicht, was wahrscheinlich damit zu tun hatte, dass der Bereich in den man durch diesen Eingang gelangte, zunächst einmal sehr wenig mit dem eigentlichen Kraftwerk zu tun hatte. Nach verrichtetem Geschäft kehrten wir dem Kernkraftwerk den Rücken. Immer wieder drehten wir uns um und blickten auch die noch immer beeindruckenden Bauwerke und die noch viel beeindruckenderen Dampfwolken, die sie ausstießen. Auf der anderen Seite des Geländes sah es recht ähnlich aus. Es gab keinen Sicherheitsbereich und auch keine Versuche, das Werk irgendwie dezent zu halten oder zu verstecken, wie man es in Deutschland recht gerne machte. Die Straße verlief direkt daran vorbei und die umliegenden Orte wurden mit reichhaltiger Infrastruktur und verschiedensten Ablenkungsangeboten bestochen. Als Etappenziel erreichten wir eine Kleinstadt, in der gerade Markt war. Wir bekamen vom Pfarrer eine eigene kleine Wohnung in einem ehemaligen Kloster und vom Markt ein Brathähnchen, sowie einiges an frischem Gemüse. Bei unserem Streifzug durch den Ort entdeckten wir hier gleich zwei Kinos, von denen sich eines sogar direkt m Kloster befand. Außerdem gab es Museen, Hotels, Restaurants, Bars und kleine Läden. Es wirkte fast, als wäre das Kernkraftwerk hier eine Art Touristenattraktion, für das die Menschen extra anreisten. Vielleicht gab es aber auch nur einen Deal, der den umliegenden Unternehmen extrem niedrige Strompreise verschaffte und die Attraktivität des Standortes auf diese Weise erhöhte. Auf jeden Fall war es auffällig, dass es hier plötzlich so viel mehr Möglichkeiten und Angebote gab, als überall sonst. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall aber sorgte es dafür, dass man auf sonderbare Weise einen positiven Bezug zur Atomkraft bekam und das kam den Betreibern sicher nicht ungelegen.

Eine Sache gab es allerdings, die uns nicht so ganz aus dem Kopf gehen wollte. Als wir das Kraftwerk passiert hatten, waren wir auch am Umspannwerk vorbei gekommen, von dem aus die Stromleitungen den gewonnenen Strom in die Welt hinaus brachten. Man kann jetzt nicht unbedingt sagen, dass sie mickrig waren, aber verglichen mit der immensen Größe des Kraftwerks wirkten sie doch etwas unterproportioniert. Es waren gerade einmal drei handelsübliche Hochspannungsleitungen, die hier wegführten. Das Kernkraftwerk in der Nähe von Kassel, das wir uns bei einem unserer früheren Ausflüge in diese Region einmal genauer angeschaut hatten, hatte deutlich mehr Leitungen aufweisen können und das obwohl es nicht einmal ein Zehntel, so groß war wie dieses hier. Irgendetwas passte da doch schon wieder nicht zusammen.

Spruch des Tages: Man braucht nur ein Atomkraftwerk in der Nachbarschaft und schon bekommt man auch Spielplätze, Parkanlagen, Schwimmbäder und Sporthallen...

Höhenmeter: 90 m Tagesetappe: 17 km Gesamtstrecke: 21.332,27 km Wetter: sonnig und frühlingshaft, teilweise mit kaltem Wind Etappenziel: Veranstaltungssaal, 86200 Ceaux-en-Loudun, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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