Tag 1176: Leben im Irrealen

von Heiko Gärtner
25.04.2017 23:39 Uhr

Fortsetzung von Tag 1175:

Wo uns dies bewusst wurde, fielen uns plötzlich unzählige Situationen ein, in denen es uns genau so ergangen war. Wie oft war es uns passiert, dass wir irgendwo ankamen, wo wir glaubten, einen ganzen Tag voller Möglichkeiten vor uns zu haben, um dann am Abend festzustellen, dass wir keinen Schritt weiter gekommen waren, ohne dass wir festmachen konnten, woran das lag. Es war ein bisschen, als würde man träumen, dass man an einer Festtagstafel sitzt und schlemmt bis zum Umfallen. Man kann essen so viel man will, wenn man aufwacht hat man trotzdem noch Hunger.

In den meisten Fällen waren diese Situationen aufgetreten, wenn wir Einladungen von Privatpersonen angenommen hatten. Es war selten wirklich unangenehm gewesen, und oft hatten die Besuche durchaus ihren Unterhaltungswert, so wie ja auch ein Kinofilm in der Regel unterhaltsam ist. Aber meistens zahlten wir dafür einen recht hohen Preis in dem Sinne, das wir mit dem, was wir eigentlich machen wollten nicht weiterkamen oder erst mitten in der Nacht mit dem Arbeiten beginnen konnten. Es waren keine negativen Erfahrungen, aber es war etwas, das einen auf Dauer auslaugte, ausbremste und ablenkte, so dass man seinen Fokus verlor. Dies war auch der Grund, weshalb ich heute so skeptisch auf die Einladung reagierte. Denn unglücklicher Weise war die Frau am Vortag nicht die letzte Illusion gewesen. Was danach kam, waren zwar keine Privateinladungen mehr, aber es schien als wäre alles, was an diesem Tag geschah darauf ausgelegt, uns Zeit zu stehlen. Erst mussten wir warten, bis der Bürgermeister nach hause kam, dann hieß es, dass wir den vorgeschlagenen Saal nicht nutzen können, weil der Gemeinderat fürchtete, dass wir aus Versehen mit dem Gasherd den Ort in die Luft sprengen. Wir schauten uns also mehrere Alternativen an, die aber alle keine wirklichen Lösungen waren und am Ende bekamen wir den Saal dann doch. Zuvor aber mussten wir im eiskalten Büro des Bürgermeisters warten, bis eine Gemeindeversammlung ihr Ende fand. Bis wir dann in unseren Saal einziehen konnten, war es bereits kurz vor 20:00 Uhr. Die Situation im Bürgermeisterbüro entpuppte sich dabei ebenfalls als Illusion und tatsächlich zeigte sich dabei noch einmal deutlich, dass ein Erschaffen hier nur bedingt möglich war. Fast die ganze Zeit über hatten wir an einem Designentwurf für eine Unterseite der Homepage gearbeitet und nun, da Heiko sie am Abend noch einmal öffnen wollte, war sie wie vom Erdboden verschluckt. Sie existierte einfach nicht mehr. Alles, was wir an diesem Nachmittag erstellt hatte, war verschwunden und musste nun noch einmal neu gemacht werden.

Nach diesen eher ernüchternden Erfahrungen wollte ich heute nicht schon wieder den gleichen Fehler begehen und für einen weiteren Tag des Stillstandes sorgen. Wir entschieden uns dafür, das Angebot einmal über die Muskeln auszutesten und kamen anders als gestern dabei zu einem eher uneindeutigen Ergebnis. Die Antwort lautete, dass es eine Illusion war und dass wir hier gerade einmal 10% unserer Erschaffungskraft nutzen konnten. Sie lautete aber auch, dass es relativ gleichgültig war, ob wir nun weiter gingen oder nicht. Zunächst lag die Kraft bei 50:50, was ich in diesem Moment nicht verstehen konnte. Wieso kann es nicht eindeutig sein? Fragte ich im Stillen. Als wir danach ein weiteres Mal testeten kam klar heraus, dass wir weitergehen sollten. Jetzt im Nachhinein wird mir klar, dass diese Aufforderung kein Hinweis darauf war, dass wir durch diese Entscheidung mehr erreichen konnten. Es war lediglich die Antwort auf meine Frage: Es konnte nicht eindeutig sein, weil wir heute, so kurz vor Shanias Wandlungsschritt nahezu keine Gewalt über die Ereignisse hatten. Es war egal was wir taten, da wir in jedem Fall geblockt wurden. So wanderten wir nun insgesamt gut 35km und versuchten unser Glück in fünf verschiedenen Orten. Einmal war der Bürgermeister in Paris, einmal trafen wir überhaupt niemanden an und einmal bekamen wir ein weiteres Illusions-Angebot, das gleich noch schlechter war, als das erste.

Wir hatten einen Ort erreicht, der aus nichts weiter bestand, als zwei Häuserreihen, links und rechts einer grauenhaften Hauptstraße. Allein der Umstand, dass hier überhaupt jemand lebte, musste praktisch bereits eine Illusion sein, da es keinerlei Grund dafür gab, an so einen schrecklichen Platz zu ziehen. Vor allem nicht in Frankreich, wenn rings umher alles frei war. Vielleicht konnte man noch die Alteingesessenen verstehen, deren Häuser hier erbaut worden waren, bevor ihre Straße zur Hauptverkehrsader erklärt wurde und die einfach nicht loslassen konnten oder denen das Geld für einen Umzug fehlte. Aber es gab auch ein Neubaugebiet, mit Doppelhäusern, das sich auf rund 100m entlang der Hauptstraße erstreckte. Was sollte irgendjemanden dazu motivieren, sich hier ein Haus zu kaufen. Man zog ja auch nicht auf den Mittelstreifen einer Autobahn. Vor allem nicht, wenn man für den gleichen Preis ein ruhiges Grundstück zwei oder drei Kilometer abseits bekommen konnte. Selbst wenn man ein Pendler nach Paris war, machte es von der Fahrzeit her nahezu keinen Unterschied, verhinderte aber, dass man in der Hölle leben musste. Wer sich einen Wohnort 100km außerhalb von Paris auf dem Land sucht, der will doch dann nicht schon wieder nichts als Straßenlärm um sich haben. Oder liege ich da falsch? Auf jeden Fall erreichte ich den Bürgermeister per Telefon, und wurde zunächst einmal ziemlich unfreundlich und fadenscheinig abgewimmelt. Es war ja nicht so, dass er nicht helfen wolle, aber heute seien alle Räume verschlossen und er habe keinen Schlüssel dafür. Offenbar brachte ihm diese Taktik eine Standpauke von seiner Ehefrau ein, denn keine 10 Minuten später stand er vor uns und hatte nun plötzlich doch einen Platz. Er habe mich am Telefon erst nicht richtig verstanden, erklärte er seinen Sinneswandel und ging dann ins Rathaus um den Schlüssel für unser Quartier zu holen. Das Angebot, das wir nun bekamen, war jedoch so unverschämt, dass er besser daran getan hätte, sich einfach gar nicht blicken zu lassen. Wir gingen an einem Festsaal vorbei, einem Konferenzraum, einem städtischen Campingplatz mit Pavillons und einem Multifunktionssaal. Jedes Mal dachten wir, dass wir am Ziel waren, dich jedes Mal ließen wir es links liegen und gingen weiter, bis wir eine Art Kulturcafé erreichten, das um diese Jahreszeit geschlossen hatte. Es hatte neue Isolierscheiben, war schön aufgemacht und lag verlassen da. Der Schlafplatz, den wir angeboten bekamen befand sich direkt daneben in einer verlassenen Ruine, die mit Glaswolle und einem Haufen Schutt voll gestellt war. Es gab weder eine Heizung noch eine Toilette oder auch nur einen Wasseranschluss und der Boden war so dreckig, dass wir uns die Schuhe abtraten, bevor wir ihn wieder verließen. „Eine Toilette?“ fragte er ehrlich überrascht, „oh, ich hatte nicht daran gedacht, dass ihr so etwas brauchen könntet! Das gibt es nicht, da müsst ihr dann einfach in die Natur hinaus gehen!“ Von seiner Seite her war dies das letzte Wort. Ein Kollege von ihm, der zufällig auftauchte, weil er seine Alkoholfahne ein wenig ausdünnen wollte, bevor er ins Büro zurückkehrte, wies jedoch darauf hin, dass sich direkt unter unserem Saal öffentliche Toiletten befanden, die zum Campingplatz gehörten. „Die sind aber abgeschlossen!“ wandte der Bürgermeister ein und glaubte, damit wieder einmal ein überzeugendes Argument geliefert zu haben.

„Na und?“ entgegnete der Alkoholiker, „wir haben doch den Schlüssel!Das Rathaus ist direkt um die Ecke und es gibt ein halbes Dutzend Jungs, die ihn kurz vorbeibringen könnten.“ Dagegen konnte nun auch der Bürgermeister nichts mehr einwenden. Für einen Moment waren wir sogar der Ansicht, dass wir uns mit diesem Platz anfreunden konnten. Klar, er war kälter als der Regen draußen und sein Standard lag weit unter den miesesten Räumen, die wir in Rumänien oder Serbien angeboten bekommen hatten, aber er war zumindest trocken. Dann aber fuhr draußen der erste LKW vorbei und brachte unsere Wände zum Wackeln. Es dröhnte wie im Inneren einer Flugzeugturbine und selbst wenn man sich die Hände auf die Ohren presste und dabei das Gesicht verzog, wurde es nicht wesentlich besser. Ob man sich da nicht selbst bei der Privateinladung noch mehr hätte konzentrieren können? Der Junge mit dem Toilettenschlüssel kam gerade rechtzeitig, um ihm von unserer Abreise berichten zu können. Er nickte verständnisvoll, nachdem er sich einmal kurz in dem Saal umgesehen hatte. Es war ihm bereits peinlich, dass man ihn überhaupt mit seinem Chef in Verbindung brachte, wenn dieses Loch sein Verständnis von Gastfreundschaft war. In Serbien oder Rumänien, wo die Gemeinden wirklich nichts anderes hatten, war so ein Raum ein ernst zu nehmendes Angebot und auch wirklich freundlich gemeint. Hier jedoch hatte sich der Bürgermeister wirklich Gedanken darüber gemacht, welcher Raum wohl der schäbigste sein könnte. Wieder testeten wir nach und wieder stellte sich heraus, dass es eine Illusion war, die nur der Ablenkung und dem Rauben von Zeit diente. Uns mit Angeboten von Privatpersonen zu locken funktioniere offenbar nicht mehr so gut, also brauchte es einen anderen Weg um uns die Zeit zu stehlen. Und man musste sagen, diese Variante hatte hervorragend funktioniert.

Im nächsten Ort kamen wir ebenfalls nicht weiter, denn hier war der Bürgermeister, der bei seinen Mitmenschen einen sehr guten Ruf genoss, gerade mit seinem Traktor unterwegs und hörte deshalb sein Handyklingeln nicht. Aber bereits im fünften Ort hatten wir dann Erfolg. Es war nun 19:00 Uhr und somit gerade früh genug um mit dem Kochen anzufangen ohne zuvor noch irgendetwas großartiges bewerkstelligen zu können. Doch in diesem Moment übernahmen wir wieder selbst die Kontrolle. Der Platz, an dem wir nun ankamen, war tatsächlich von uns selbst erschaffen worden. Er war real und auch wenn es nicht den Anschein hatte, brachten wir am Abend doch noch einiges zustande. Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, dass es wirklich in etwa die 10% vom eigentlich möglichen waren, die wir auch bei der Bürgermeisterfamilie hingebracht hätten. Dafür hatten wir nun einen ruhigen Platz für uns alleine und auch wenn der Festsaal insgesamt so kalt war, dass man seinen Atem sehen konnte, gab es doch zwei kleine Räumchen neben der Küche, die beheizbar waren und gerade genug Platz für je einen von uns boten. Der Bürgermeister selbst brachte uns Kartoffeln und einige weitere Zutaten für ein Abendessen, dass wir nur in den Ofen schieben mussten, so dass wir zumindest hier nun nahezu keine Zeit mehr verloren. Es war ein bisschen wie bei dem Vergleichsportal, das wir gerade erschufen. Man bekam beide Varianten direkt gegenüber gestellt, so dass man die Unterschiede klar erkennen konnte.

Spruch des Tages: Nichts davon ist real!

Höhenmeter: 220 m Tagesetappe: 19 km Gesamtstrecke: 21.540,27 km Wetter: Regen Etappenziel: Gemeindesaal, 61290 Monceaux-au-Perche, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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