Tag 1210: Fernwanderwege in Südengland

von Heiko Gärtner
03.08.2017 07:57 Uhr

24.04.2017  

Heute war mal wieder etwas der Wurm drin. Gerade vor zwei Tagen haben wir einen neuen Plan aufgestellt mit neuen Projekten die höchste Priorität haben und dringend abgearbeitet werden müssen. Projekte, die eigentlich locker zu stemmen wären, wenn man pünktlich gegen Mittag ankommt und dann den Nachmittag für sich hat. Doch nachdem wir gestern bereits fast den ganzen Tag unterwegs waren wollte uns auch heute wieder kein zeitiges Ankommen gelingen. Der erste Pfarrer vertröstete uns damit, dass er alleine keine Entscheidung treffen dürfe und niemanden erreichen könne. Seine Worte zum Abschied waren: „Ich fürchte, ihr werdet unsere Kirche auf eure Liste mit schlechten Erfahrungen setzen müssen!“

Im zweiten Ort lief es etwas besser, doch anstatt wie gewohnt einen Platz in der Kirche oder im Kirchensaal zu bekommen wurde hier alles unnötig verkompliziert. Es sei schwierig, weil es keine Toiletten gäbe und man sich unsicher war, was die Versicherungen anbelangte. Stattdessen habe man aber einen guten Platz unweit von hier bei einer Farm gefunden. Dort gäbe es einen Raum, in dem wir übernachten könnten, eine Art Gästezimmer für Wanderer. Es sei kostenlos. Wahrscheinlich. Also höchst wahrscheinlich. Naja, also maximal würde man eine kleine Spende verlangen. Aber sicher nicht viel. Und es war ja auch gar nicht sicher, dass man überhaupt eine Spende wolle....

Am Ende beschloss ich, noch einmal vor Ort anzurufen und nachzufragen, um sicher zu gehen. Es war tatsächlich umsonst, wurde uns jedoch gleich am Telefon als „very basic“ also „sehr einfach“ beschrieben, wobei die Dame einen nicht überhörbaren Hauch von Scham in ihrer Stimme mitklingen ließ. Die letzten Male, als uns von Engländern Plätze als „very basic“ beschrieben worden waren, hatte es sich meist um Ruinen, Gerümpelkammern oder Garagen ohne festen Boden gehandelt. Wir waren also eher etwas skeptisch, ob der Platz wirklich das richtige für uns war. Doch eine Alternative schien es hier nicht zu geben und so ließen wir uns den weg beschreiben.

„Es ist nicht weit! Vielleicht eine halbe Meile oder maximal eine Meile!“ war die Auskunft. „Ihr müsst nur hier die Straße entlang und dann auf der Hauptstraße rechts. Aber von dort aus dürfte es wirklich nicht viel mehr als eine halbe Meile sein!“

Unser Navigationsgerät sagte etwas anderes. Es waren gute 3 Kilometer, also mehr als zwei Meilen und der Großteil davon lag an der Hauptstraße. Schlimmer noch: Das Endziel lag an der Hauptstraße. Doch hier war nichts zu machen und da es immer später und später wurde machten wir uns lieber gleich auf den Weg.

„Very basic“ war nicht übertrieben gewesen. Wir bekamen eine Kammer, die an einen leeren Stall oder eine leere Garage erinnerte. Es gab einen nackten Betonfußboden, nackte, weiße Steinwände mit einigen Postern daran, zwei Kühlschränke und ein Klo. Der Verkehrslärm drang noch immer von außen zu uns herein, aber deutlich leiser, als wir es befürchtet hatten.

Die junge Frau, mit der ich bereits am Telefon gesprochen hatte begrüßte uns und zeigte uns unser Quartier. Es war ihr sichtlich peinlich, dass sie uns in diese Kammer führen musste und sie konnte gar nicht schnell und intensiv genug betonen, dass sie nicht hier lebe, sondern nur arbeite.

Von ihr erfuhren wir auch, warum es in dieser Gegend so schwer war, einen Platz in der Kirche zu bekommen. Wir befanden uns nur wenige Kilometer entfernt von Winchester, einer alten Klosterstadt, die den Startpunkt des „South Down Ways“ markierte. Es war jener Wanderweg, auf den wir bereits gestern gestoßen waren und der zuvor immer parallel zu uns verlaufen war. Er war einer von sehr wenigen bekannten und begangenen Wanderwegen, die man überhaupt in Großbritannien finden konnte und dementsprechend zog er Jahr für Jahr viele Touristen an.

Er war gewissermaßen der Jakobsweg von Großbritannien, nur ohne echte Infrastruktur. Diese Farm hier lag direkt am Weg und hatte irgendwann einmal damit begonnen, Wanderer und Pilger gegen eine kleine Spende in diesem Raum nächtigen zu lassen. Fast immer waren es die verlorenen Seelen, die hier hängen blieben. Pilger, die sich vertrödelt oder verlaufen hatten, die ihre Zeit falsch kalkulierten, die in heftige Unwetter geraten waren oder deren Füße gleich zu Beginn der Reise so sehr von Blasen gequält wurden, dass sie kaum mehr gehen konnten. Über die Zeit hinweg hatte sich das System eingebürgert und so wurde einfach jeder, der in der Umgebung irgendeine Form von Übernachtungsmöglichkeit brauchte hier her abgeschoben. Die Kirche und auch die Ortsgemeinde selbst waren ihre Sorgen damit vollkommen los und der Hof profitierte davon, das hin und wieder Geld für einen ansonsten ungenutzten und nutzlosen Raum abfiel. Hätte uns der Kirchenverwalter nun in der Kirche schlafen lassen, hätte er die Tradition gebrochen und damit Tür und Tor für andere Pilger und Wanderer geöffnet, die vielleicht ebenfalls die Kirche einem schäbigen Raum neben der Autobahn vorzogen. Es war ihm also lieber, seine Scham über die Lösung mit einem 10Pfund-Schein abzuarbeiten, die er uns zum Abschied gab, als uns die Unterstützung zu bieten, um die wir ihn eigentlich gebeten hatten.

Kurz nachdem wir uns mit dem Raum arrangiert und uns hier einigermaßen eingerichtet hatten, klopfte es an unsere Tür. Die Gastgeberin erschien mit einer weiteren Frau, die sie widerwillig als ihre Mutter vorstellte. Durch diese Vorstellung musste sie nun zugeben, dass sie nicht einfach eine Angestellte, sondern die Tochter der Hofbesitzer war und das war ihr ganz und gar nicht Recht. Ihre Mutter hingegen hatte kein Problem mit der Unterkunft die sie ihren Gästen stellte. Sie war nicht wirklich freundlich oder sympathisch, aber ganz im Englischen Stil äußerst höflich. Dazu gehörte auch, dass sie uns einige Hühnereier Anbot, die sie gerade aus den Stallungen geholt hatte. „Nehmt aber nicht zu viele! Ein oder zwei pro Person sind in Ordnung!“ fügte sie hinzu, als ihr auffiel, dass man ihre Höflichkeitsgeste missverstehen konnte und zu tief in den Eimer griff, den sie uns hinhielt. Unsere Gastgeberin von gestern Abend und heute Morgen hatte gar nicht aufhören können, uns immer mehr und noch mehr zu schenken. „Nehmt nur! Nehmt nur! Wir haben eh viel zu viel davon!“ hatte sie immer wieder gesagt und das, obwohl die Familie alles andere als Wohlhabend gewesen war. Hier wo tatsächlich ein schier unerschöpflicher Überfluss an Eiern herrschte, wurde streng darauf geachtet, dass nicht zu viele davon verschenkt wurden. So unterschiedlich kann es sein.

Eine weitere halbe Stunde später kam ein Wanderer mit einem großen Rucksack in Begleitung der Tochter an unsere Tür. Er würde ebenfalls hier halt machen, dabei jedoch in einem Zelt schlafen. Lediglich die Toilette würde er gerne einmal benutzen.

Für uns blieb der Trubel um den Wanderweg ein Rätsel. Wie kam ein Mann wie unser Zeltnachbar darauf, ausgerechnet an so einer Stelle zu campen? Hier im Raum war es unangenehm laut, wie sollte es erst draußen sein? Und warum suchte er sich nicht irgendeinen der unzähligen schönen Flecken, die entlang des Weges lagen? Noch mehr beschäftigte uns aber der Weg selbst. Großbritannien war übersät mit kleinen Wanderwegen und Trampelpfaden. Wieso also war gerade dieser hier berühmt geworden und alle anderen nicht? Und wieder wurde der Weg, wenn er schon berühmt war, nicht zumindest soweit ausgebaut, dass man ihn mit Kinderwägen oder Pilgertrollies nutzen konnte? War es nicht verblüffend, wie sehr wir Menschen offen für Gleichschaltung und Vorgaben waren? Anstatt frei durch die Lande zu ziehen halten wir uns an den einen Weg, der bekannt ist. Nicht weil er schöner ist als alle anderen, weil man hier besser gehen kann oder weil es sicherer ist, dass man eine Unterkunft bekommt. Nein, einfach weil es viele gibt, die ihn wandern. Ich finde, das beschreibt unsere Lemming-Mentalität noch einmal sehr deutlich. Zeitschriften wie der Spiegel oder der Stern bringen keine Artikel mit „Die besten und ausgefallensten Bücher des Jahres“ heraus. Sie schreiben Listen mit „Bestsellern“, also mit den Büchern, die am meisten verkauft wurden. Und wir reagieren darauf und machen mit.

Wir kaufen uns das Buch nicht, weil wir den Autor mögen oder weil der Inhalt so faszinierend, interessant oder originell ist, sondern weil alle anderen das Buch auch gekauft haben. Wir kleiden uns nicht nach dem, was uns am besten gefällt oder was am stärksten zu uns passt. Wir kleiden uns nach dem, was gerade „Mode“ und somit angesagt und beliebt ist. Und selbst wenn wir wandern gehen, gehen wir nicht dorthin, wo es uns gefällt, sondern dorthin, wo alle wandern gehen.

Spruch des Tages: Wer immer nur bekannte Wege geht, hinterlässt keine eigenen Fußspuren.

 

Höhenmeter: 360 m

Tagesetappe: 23 km

Gesamtstrecke: 22.208,27 km

Wetter: heiter bis wolkig und windig

Etappenziel: Gästekammer in einer Farm, 3km südlich von Cheriton

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare