Tag 1211: Winchester

von Heiko Gärtner
08.08.2017 07:01 Uhr

25.04.2016

Heute erreichten wir die berühmte und beliebte Kathedralenstadt Winchester. Nicht, dass sie wirklich auf unserer Route gelegen hätte oder dass wir je geplant hätten, dorthin zu wandern. Aber nachdem wir gestern Abend ohnehin schon von unserem Weg abgewichen waren, so dass die Stadt nur noch zehn Kilometer von uns entfernt lag. Unsere Schlafstätte befand sich an einem Kreuzungspunkt. Von links nach rechts verlief die Hauptstraße, von unten nach oben der South-Downs-Way. Ehe wir uns also irgendwie notdürftig wieder aus dem Verkehrschaos hinaus friemelten, konnten wir auch einfach auf dem Wanderweg nach Winchester laufen. Vielleicht war es ja wirklich so schön, wie alle behaupteten.

Auf die letzten fünf Kilometer konnten wir kaum mehr glauben, dass sich der Trip lohnen sollte, denn hier waren wir von Autobahnen und Bundesstraßen umzingelt und auch wenn wir über Felder wanderten, wirkte es, als marschierten wir mitten durch eine Industriepresse. Doch zu unserem Erstaunen war die Stadt selbst relativ ruhig. Es ist wirklich beeindruckend, wie viel Schall so ein Wohnhaus weg nimmt. Man sollte grundsätzlich immer Wohnhäuser entlang von Autobahnen bauen. Die sind bei weitem effektiver als jede Schallschutzmauer!

Winchester selbst war auf ihre ganz eigene Art eine der skurrilsten und faszinierendsten Städte, die wir auf unserer Reise besucht haben. Die Stadt selbst hatte vieles, das sehenswert war, vor allem die Kathedrale und die Universität. Aber was sie besonders machte waren die Menschen, die aus den verschiedensten Anlässen lauter lustige Gewänder und Verkleidungen trugen. Klar, ich selbst trage ein Mönchsgewand, das jetzt auch wieder nicht so alltäglich ist, deshalb darf ich eigentlich nicht lästern, aber hier kamen schon viele Dinge zusammen, die trotzdem eine Erwähnung wert sind.

Jetzt, da die Ferien vorbei sind, kamen uns heute auch die ersten Schüler in Schuluniformen entgegen. Am lustigsten waren die Kinder, die gerade auf dem Weg zum Cricket-Spielen waren. Diese Uniform ist der Knaller! Jeder trug einen Cricket-Schläger und einen Plastik-Hodenschutz in der Hand und einen grünen Hut auf dem Kopf. Der Rest erinnerte an eine Pfadfinderuniform. In jedem anderen Land der Welt würde man für ein solches Auftreten so gedisst und gemobbt werden, dass man wahrscheinlich noch am selben Tag die Schule wechseln würde. Hier in England hingegen galt es als cool.

Die älteren Schüler trugen eine normale Schuluniform. Man kennt dieses Outfit bereits aus Filmen und von Bildern aber es ist trotzdem noch einmal seltsam, es in live zu sehen. Die Idee dahinter, zu sagen, dass man den Kindern eine Garderobe vorgibt um zu verhindern, dass sie sich zu sehr über ihre Mode definieren mag ja nicht schlecht sein, aber die Wahl der Uniform, die hier eingesetzt wird ist doch etwas Fragwürdig. Bei uns würden Eltern ihren Töchtern mit aller Wahrscheinlichkeit verbieten, so kurze Röcke mit halbdurchsichtigen Blusen anzuziehen, wenn sie aus dem Haus gehen. Hier werden sie dazu verpflichtet. Warum es so viele Pornos mit Schuluniformen gibt und warum hier die Zahl der Fälle in denen Mädchen auf dem Schulweg verschleppt oder zumindest belästigt werden so viel höher ist, ist kaum verwunderlich.

Ebenso sehenswert waren die Mitarbeiter und Freiwilligen in der Kathedrale. Wenn man durch den Haupteingang ins innere Tritt, wird man zunächst von einem Mann im Anzug mit einem scharlachroten Umhang begrüßt, der einen ermahnt, möglichst leise zu sein. Dann geht man zwischen Roten Absperrbändern hindurch zu einem Informationsschalter Schrägstrich Kasse und, da man ja ein höflicher Mensch ist, spricht man den Mann dort leise und mit gedämpfter Stimme an. Dieser antwortet dann in voller Straßenunterhaltungslautstärke, wodurch jede weitere Zurückhaltung hinfällig wird. Zuvor hatten wir im Büro des Bischofs nach einer Unterkunft gefragt und waren mit der Begründung dass ausgerechnet heute leider Gäste anwesend wären, in die Kathedrale verwiesen worden.

Meine Intention am Schalter war also weniger, etwas über die Kathedrale herauszufinden, sondern viel mehr nach einem Schlafplatz zu fragen. Deswegen achtete ich auch zunächst nicht auf das Schild das neben dem Mann stand und die Besucher darüber aufklärte, dass eine Besichtigung der Kirche 10Pfund kostete. Auch fand ich die Reaktion des Kassenwartes zunächst etwas seltsam, da er immer wieder „Ok!“ und „Kein Problem“ sagte, als ich ihm von unserem Projekt erzählte, noch ehe ich überhaupt zu meiner Frage kam. Im ersten Moment dachte ich, dass er zum Ausdruck bringen wollte, dass er persönlich kein Problem damit hatte, wenn jemand zu Fuß durch Europa wanderte.

Erst später wurde mir klar, dass er mir damit erlaubte, kostenlos in die Kathedrale zu gehen. Nachdem er mir offenbart hatte, dass er in Sachen Schlafquartier nichts für uns tun konnte ging ich wie selbstverständlich hinein und erst dann wurde mir klar, dass wir uns gerade rund 26€ Eintritt gespart hatten.

Gleich im Inneren der Kathedrale wurden wir von einer weiteren Dame begrüßt, die eine lustige rote Schärpe um den Hals trug. Sie war eine von rund zwanzig Freiwilligen, die in der Kirche Informationen und Führungen an die Touristen gaben. Wir selbst lehnten eine Führung ab und machten uns lieber selbst auf die Erkundungstour.

Die Kathedrale von Winchester ist nicht einfach eine Kirche. Sie ist eines der epochalsten Bauwerke, die die Menschheit in den letzten Jahrtausenden erschaffen hat. Das kann man sagen. 13€ Eintritt sind aber trotzdem übertrieben und sie zeigen noch einmal, dass man in England weitaus mehr den Bogen raus hat, was Touristenabzocke betrifft, als in den meisten anderen Ländern.

Der vordere Teil wirkte zunächst einmal wie eine ganz normale, überdimensionierte Kirche. Hinter dem Altar jedoch befand sich noch einmal ein ganz eigener Bereich, der Früher einmal für die Mönche reserviert war. Er erinnerte eher an einen Konferenz-Saal oder an die Säle in denen die Vereinten Nationen tagen. Jeder Platz hatte sein eigenes Pult und seine eigene Lampe und alle waren auf einen Sarg in der Mitte ausgerichtet. Warum ausgerechnet ein Sarg in der Mitte stehen musste weiß ich nicht. Vielleicht hatte man sonst keinen besseren Platz dafür gefunden, denn die Kirche war trotz ihrer gewaltigen Größe relativ vollgestellt mit Särgen, bzw. Sarkophagen.

Jeder einzelne Mann, der seit dem Bau der Kathedrale Bischof von Winchester gewesen war, war hier in der Kathedrale beigesetzt worden. Neben seinem Grab stand jeweils eine kurze Inschrift mit Namen, Residenzzeitraum, weiteren Ämtern und Querverbindungen. Es gab keinen einzigen, der nicht gleichzeitig auch Teil der Königsfamilie oder eines anderen Adelsgeschlechtes mit Rang und Namen war. „Bruder von Henry dem 5.“, „Duke von Canterbury“, „Earl von Westminster“, und so weiter. Wie in Österreich hatte auch hier die Kirche viel weniger einen religiösen als einen politischen Stellenwert. Zumindest in den oberen Etagen.

Das Zentrum von Winchester bestand aus einer Einkaufsmeile, die uns jedoch nur wenig einbrachte. Lediglich ein italienisches Restaurant half uns mit einer Pizza aus. Man kann über die Italiener sagen, was man will, aber egal wo auf der Welt man ihren Restaurants begegnen, man wird hier einfach nicht hungrig zurück gelassen.

Wie wir bereits erwartet hatten stellte sich der Versuch einen Schlafplatz zu ergattern als erstaunlich hoffnungslos heraus. Weder das Touristenbüro noch das Büro der Kathedrale hatten irgendeine Idee, was man mit Pilgern anfangen könnte. Ein ziemlich tragisches Armutszeugnis, wenn ihr mich fragt. Jeden Tag kommen tausende von Besuchern in die Stadt, die alle mindestens 10Pfund in der Kathedrale lassen. Selbst wenn es am Tag nur 200 Menschen wären, was extrem niedrig angesetzt ist, wäre es noch immer eine dreiviertel Million im Jahr, die nur über den regulären Eintrittspreis erwirtschaftet wird. Vergleicht man dies noch einmal mit Lourdes, wo die Kirche umsonst besichtigt werden kann, werden hier schnell immense Unterschiede deutlich. Und trotzdem gibt es nicht einmal eine Idee, nicht einmal ein schäbiges Loch mit Matratzen in einem Keller, das man einem Pilger anbieten kann? Das ist schon etwas ärmlich, oder? Vor allem wo Winchester ja auch noch der Start- bzw. Endpunkt des South-Down-Ways ist.

Wir verließen die Stadt und versuchten unser Glück in einem kleinen Ort etwas außerhalb. Hier bekamen wir zunächst von einem türkischen Restaurantbesitzer je einen Döner, der uns fast zum Platzen brachte und dann einen Schlafplatz im Kirchensaal. Der Pfarrer lud uns sogar zu sich zum Essen ein und wir konnten zum ersten Mal in England unsere Kleidung wieder waschen.

Zuvor wurden wir noch eingeladen, uns bei einer Nachmittags-Aktiv-Gruppe für Menschen mit geistigen Behinderungen vorzustellen. Das Treffen fand gerade im Kirchensaal statt und die Leiterin hatte uns zuvor schon beim Döner-Essen gesehen. Es waren vier Teilnehmer und zwei Betreuer, die gerade gemeinsam Frühlingsbilder bastelten. Einer von ihnen war ein fröhlicher kleiner Mann mit Downsyndrom, der seine ganz eigene Art hatte, uns zu interviewen. Er war fasziniert vom zweiten Weltkrieg und als er hörte, dass wir aus Deutschland waren, war er überzeugt davon, dass er nun mit Augenzeugen des Geschehens sprechen konnte. Daraus entstanden einige lustige Situationen, die man so leider nur schwer wiedergeben kann.

Ich: „...und dann sind wir weiter nach Polen gewandert...“

Tom: „Ah Polen! Wie war denn das, als ihr dort einmarschiert seid?“

Leiterin: „Nein nein, der Krieg ist vorbei, die beiden sind Wanderer und gehen zu Fuß!“

Tom: „Achso! Klar, Wandern...! Und wie war das mit den Panzern?“

Leiterin: (Dieser Teil funktioniert leider nur auf Englisch:) „No: Walk, not War“ (Wanderung nicht Krieg)

Tom: „Achso! Walk! Ich verstehe! Und wie war das jetzt mit den Panzern?“

Das skurrilste Ereignis des Tages gab es jedoch erst kurz vor dem Abendessen. Aus heiterem Himmel fing es plötzlich an zu schneien. Am 25. April. Könnt ihr euch das vorstellen?

Spruch des Tages: Es schneit! Es schneit! Kommt alle aus dem Haus!

Höhenmeter: 120 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 22.224,27 km

Wetter: heiter bis wolkig und windig, zeitweilig Regen und Schnee

Etappenziel: Kirchensaal, Weeke bei Winchester, England

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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