Der wahre Geist von Schottland
16.07.2017
Pünktlich um halb neun wurde uns heute Morgen von unseren Nachbarn die frisch gewaschene und getrocknete Wäsche zurückgebracht. Für einige Stunden fühlten wir uns nun wie ausgewechselt. Nach rund zwei Wochen hatten wir wieder duschen, waschen und meine Haare schneiden können, was mehr als nur dringend nötig gewesen war. Lang hielt diese Frische leider nicht an, denn es dauerte nur wenige Stunden, bis wir erneut durchgeschwitzt waren und wieder zu stinken begannen. Immerhin schafften wir es, fast den ganzen Tag ohne Regen durchzukommen. Dafür war der Sturm etwas stärker. Als wir am Mittag von einem Restaurant auf eine Suppe eingeladen wurden, blies er sogar so stark, dass es die Suppe vom Löffel herunter wehte. Das war mir bis dahin noch nie passiert!
Auch heute gab es übrigens wieder einige Anzeichen dafür, dass wir uns noch immer in einer Illusionswelt befanden. Um unser Ziel zu erreichen, mussten wir wieder weite Strecken der Hauptstraße folgen, unter anderem auch über eine Brücke, die vom Wind nahezu weggeweht wurde. Für die Motorradfahrer war die Situation bereits lebensgefährlich, weil sie zunächst durch einen Windschatten hinter einer Mauer fuhren und dann abrupt, in den Sturm auf der Brücke kamen. Nicht wenige schlenkerten bis auf die andere Fahrbahnseite, bis sie ihre Maschine wieder unter Kontrolle hatten. Direkt hinter der Brücke an einem Berghang stand ein kleines Windrad, das unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht nur, dass es bei diesem Sturm hätte rasen müssen und sich stattdessen nur langsam drehte. Es drehte sich auch in die falsche Richtung. Das Windruder an der Rückseite des Rades, das es eigentlich stets so ausrichten sollte, dass es optimal im Wind steht, zeigte genau in die entgegengesetzte Richtung. Es ragte in den Wind, anstatt sich von ihm mitreißen und in die Position mit dem geringsten Widerstand drehen zu lassen. Wie war das möglich? War das möglich? War das real? Passierte es wirklich?
Kurz nach der Brücke kamen wir in das Dorf, das unser Schlafplatz hätte werden sollen, das jedoch über keinerlei Infrastruktur verfügte. Also ging es weiter und zum ersten Mal in Nordschottland gerieten wir dabei in eine Region, in der es tatsächlich keinen einzigen Touristen gab. Gott war es hier plötzlich schön, friedlich und entspannt! Vollkommen alleine wanderten wir eine Straße entlang, die durch ein enges, grünes Tal voller Schafe führte. Am Ende kamen wir in einen winzigen Ort mit zwei Häusern. Früher hatte es ganz in der Nähe eine Fähre gegeben, die diese Seite der Bucht mit der nächsten verband. Bereits gestern hatte man uns gesagt, dass sie nicht mehr fuhr, da der Betreiber in Rente gegangen war und man noch keinen Nachfolger gefunden hatte. Hier erfuhren wir nun, dass der Betreiber sei 21 Jahren in Rente war und man wohl auch nie einen Nachfolger finden würde.
Im Dorf selbst gab es außer den beiden Familien überhaupt nichts. Vier Kilometer weiter die Küste entlang gab es jedoch eine alte Kirche, die immer offen stand und in der wir sicher unterkommen konnten.
Der Weg dorthin war sowohl der stürmischste als auch beeindruckendste Weg des Tages. So hatten wir uns Schottland an sich überall vorgestellt. So war das Land, wenn es nicht durch Zivilisations- und Tourismus Wahnsinn überlagert wurde. Auch die Menschen waren hier ein ganz anderer Schlag und entsprachen weitaus mehr dem Bild, das wir von Schotten hatten, als alle anderen zuvor. In unseren Augen waren es auch die ersten drei Schotten überhaupt, die wir heute trafen. Es waren raue, aber herzliche Seebären, die tatsächlich ein Piraten englisch sprachen, so richtig mit „Ay!“ statt Ja. Als ich beim Verantwortlichen für die Kirche klopfte, öffnete mir ein man mit wenigen, zerzausten Haaren, einer kurzen Hose und einem fleckigen T-Shirt. Eher ich mich auch nur vorstellen konnte bat er mich herein und bot mir einen Tee an. Wenig später kam Heiko mit einem anderen Mann hinzu, der sich als der Bruder des Hausbesitzers entpuppte. Er hatte Heiko auf der Straße aufgegabelt und ihn wie selbstverständlich mitgenommen, ohne zu wissen, wer er war und was er wollte. Touristen hatte es in diesen Teil von Schottland seit Ewigkeiten nicht mehr verschlagen.
Es war faszinierend, was dies in den Menschen für einen Unterschied machte. Erst gestern hatten wir in einer Touristeninformation eine Karte mit dem Titel: „Entdecken sie den wahren Spirit von Schottland“ gefunden, Sie enthielt sechs oder sieben verschiedene Rundstrecken, die man als Tourist mit dem Auto abfahren sollte, um das Land kennenzulernen. Genau das war es auch, was die meisten hier taten, was den Verkehr natürlich ins Endlose antrieb, da nun jeder sinnlos spazieren fuhr, ohne dabei wirklich etwas vom Land mitzubekommen. Die Devise lautete „Rein ins Auto, im Handy spielen bis zum nächsten Aussichtspunkt, dann schnell ein Foto machten und weiter zum nächsten Punkt. So erhielt man am Ende eine Reihe von Fotos, mit denen man seinen Freunden zu hause beweisen konnte, dass man ein Land besucht hatte, ohne es je wirklich gesehen zu haben. Hier unten, abseits jeder Touristenroute hatten wir zum ersten Mal wirklich das Gefühl so etwas wie den wahren Geist von Schottland kennenzulernen.
Burgruine vor der schottischen KüsteDie beiden Männer arbeiteten auf dem Meer als Steuermänner für ankommende Frachtschiffe, die ohne Hilfe von Einheimischen Ortskundigen niemals durch die engen Fjorde und Buchten manövrieren könnten.
„Ich weiß nicht genau, ob ich überhaupt die Autorität habe, euch das Schlafen in der Kirche zu erlauben, aber ich sage einfach mal ja! Das dürfte niemanden stören!“ meinte er nur unbekümmert und stellte uns eine Tüte mit Lebensmitteln zusammen, die er aus den unterschiedlichsten Ecken seines Singlehaushalts zusammentrug.
Wenig später erreichten wir unsere Kirche in der es sogar zwei kleine, beheizbare Räume und eine Toilette gab. Auf einem Parkplatz auf der anderen Straßenseite standen bereits zwei Wohnmoblie mit Urlaubern, die ebenfalls bei all den Touristen-Reglementierungen verzweifelt und hier auf die Nebenroute ausgewichen waren, wo man zum ersten Mal kostenlos stehen durfte. Dennoch sah das, was wir von unserem Fenster aus sehen konnte nicht besonders freudig, entspannend oder angenehm zu sein. Sie wirkten zu Tode gelangweilt und hin und wieder kam das Gefühl in mir auf, dass man sie dort draußen in dem Sturm ein bisschen wie Hunde in eine Hundehütte eingesperrt hatte, die nicht ins Haus durften. Es war schon auch ein besonderes Geschenk, dass wir trotz allem am Ende immer die angenehmsten Plätze hatten, obwohl wir ohne Geld unterwegs waren. Die beiden Paare da draußen quetschten sich in die winzigen Schüsseln und waren um 10:00 Uhr soweit, dass sie vor Langeweile und Kälte ins Bett gingen, während wir bei 23°C im T-Shirt vor der Heizung saßen, eine große Portion Gemüsepfanne mit Rindfleisch aßen und mit unserer Kino-Nacht begannen.
Spruch des Tages: Da weht es einem glatt die Suppe vom Löffel
Höhenmeter: 490 m Tagesetappe: 29 km Gesamtstrecke: 24.198,27 km Wetter: Extremer Sturm und Dauerregen Etappenziel: Gästezimmer im katholischen Pfarrhaus, Scottstown, IrlanHier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!