Vom Winde verweht

von Franz Bujor
16.05.2014 21:10 Uhr

Der Abend in unserem Neubau wurde angenehm ruhig, und wir fanden sogar die Zeit, am Exposee zu unserem neuen Buch zu arbeiten. Bei einem Blick durch das Haus machte Heiko eine Beobachtung, die ihn beschäftigte. Die Steckdosen, die hier verbaut waren, waren von der gleichen Firma, die auch die deutschen und die französischen produzierte. Dennoch sahen sie hier vollkommen anders aus. Sie hatten beispielsweise eine eingebaute Kindersicherung, die es bei uns nicht gab. Dafür waren in diesem Haus keine Abschlussleisten für Fliesen oder für Bodenbeläge verbaut worden, obwohl sie eigentlich dort hingehört hätten. Auch die Fenster waren anders aufgebaut als in Deutschland oder in Frankreich. Heiko erinnerte sich daran, dass ihm solche und ähnliche Unterschiede bereits früher aufgefallen waren. Es schien also so, als würden die gleichen Firmen in jedem Land nach unterschiedlichen Standards arbeiten. Die Frage war nur ‚warum?’ Wenn sich ein Produkt doch als gut erwiesen hatte, wieso übernahm man es dann nicht. Und wieso gab es in jedem Fall Dinge, die gut funktionierten und andere, die schlecht gelöst wurden, obwohl man in anderen Ländern gute Lösungen hatte? Konnte es sein, dass man ein Produkt immer genauso gut entwickelte, wie es die Menschen forderten, aber gleichzeitig auch so schlecht hielt, wie es gerade noch möglich war?

Der Besitzer der Bar in unserem kleinen Ort hatte uns am Vorabend eingeladen, zum Fußballschauen in der Nacht oder zum Frühstücken am nächsten Morgen wiederzukommen. Auf das Fußballspiel verzichteten wir, doch das Frühstück nahmen wir gerne an. Wir bekamen einen Pfefferminztee und ein Sandwich, was genau unserem neuen Essensplan entsprach. Es war also wirklich einfach eine Frage der inneren Entscheidung. Wenn man gesund leben wollte, dann schaffte man es auch. Ob man sich sein Essen nun kaufte oder darum bat.

Während des Frühstücks betrat eine deutsche Pilgerin die Bar, die sich zu uns an den Tisch setzte. Wir kamen ins Gespräch und erzählten ihr dabei von unserem Projekt sowie von unseren Beobachtungen und Recherchen über die industrielle Landwirtschaft, die Pharmaindustrie und die Weichmacher in unseren Lebensmitteln. Sie erzählte uns, dass sie vor ihrer Rente selbst Journalistin gewesen war und für verschiedene Frauenzeitschriften und Magazine geschrieben hatte. Interessiert wollte sie wissen, ob es überhaupt noch Medien und Verlage gab, mit denen wir zusammenarbeiten konnten, wenn wir solch kritische Themen veröffentlichten. „Die meisten bekannten Wissensmagazine fallen ja wahrscheinlich raus, denn die stehen ja direkt auf der Gehaltsliste der Industrie“, sagte sie. Ihre Aussage entsprach genau unseren Erfahrungen, doch aus ihrem Mund war noch einmal etwas anderes. Sie hatte Jahrzehnte mit diesen Medien zusammengearbeitet und wusste, wovon sie sprach. Von ihr noch einmal bestätigt zu bekommen, dass tatsächlich alle großen Medien in Deutschland gekauft waren, verursachte doch wieder ein mulmiges Gefühl in unserer Magengegend. Ende des letzten Jahres hatten wir so etwas ähnliches bereits schon einmal von einem Mitarbeiter einer bekannten Zeitung gehört. Wir hatten nach einem Interview darüber gesprochen, dass es schwierig war, die Wahrheit über Sachverhalte zu veröffentlichen, wenn viele Menschen viel Geld damit verdienen konnten, dass sie verschwiegen wurden. „Ja,“ hatte er gesagt, „für die Medien ist es nicht einfach, mit diesen Themen umzugehen, da alle von irgendjemandem abhängig sind. Wir veröffentlichen schon relativ frei, aber ihr werdet bei uns niemals einen negativen Artikel über jene Firmen lesen, die bei uns die großen Werbeanzeigen schalten. Wir haben Dauerverträge mit ihnen und wenn sie diese kündigen, kann unsere Zeitung dicht machen.“

Kurz nach der Frau kamen noch drei weitere Pilger aus Deutschland in die Bar. Einer von ihnen war ein Kölner, der sich lautstark darüber aufregte, dass einer seiner Pilgergefährten vorausgeeilt war, ohne auf ihn und die anderen zu warten. Als er sich etwas beruhigt hatte, begann er damit, Witze über Düsseldorfer zu erzählen. Der beste war folgender: „Ein Düsseldorfer stirbt und steht kurz darauf vor der Himmelspforte. Als er anklopft öffnet ihm Petrus und fragt ihn, was er denn wolle. ‚Ich möchte in den Himmel’, sagt darauf der Verstorbene. ‚Das möchten viele!’ antwortet Petrus und fügt dann hinzu: ‚Wo kommen sie denn her?’ ‚Aus Düsseldorf’, antwortet der Mann, woraufhin Petrus den Kopf schüttelt und die Tür wieder zuschlägt. Stocksauer beginnt der Düsseldorfer an die Tür zu pochen und als Petrus wieder öffnet ruft er: ‚Jahrelang habe ich Kirchensteuer gezahlt und jetzt so etwas?’ ‚Oh!’ sagt Petrus, ‚na wenn das so ist, dann ist das eine Angelegenheit, die ich mit dem Chef besprechen muss!’ Er verschwindet und kehrt kurz darauf zur Tür zurück. ‚Und?’ fragt der Mann erwartungsvoll. ‚Kein Thema!’ antwortet Petrus, ‚du bekommst dein Geld zurück!’“

Gestern war es bereits so windig gewesen, dass man die Kraft der Sonne kaum noch spüren konnte. Doch gegen heute war dies gar nichts gewesen. Der Wind blies, als wollte er die Welt aus den angeln heben und das den ganzen Tag lang.

Kurz vor Corunga nahm der Pilgerstrom plötzlich enorm zu. Bereits davor hatten wir wieder so viele Jakobswanderer gesehen, dass wir uns kaum vor ihnen retten konnten, doch nun kamen mindestens 50 Stück auf einen Schlag. Es dauerte nicht lange, bis wir das Nest dieser Wanderer ausgemacht hatten. Es waren Buspilger. Dies war die wahrscheinlich absurdeste Art der Pilgerei. Man buchte eine voll organisierte Bustour, die einen zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten entlang des Jakobsweges brachte. Hier wanderte man dann ein Stück auf dem Pilgerweg, bis zu einer Stelle, an der einen der Bus wieder einsammelte, um einen an der nächsten interessanten Stelle wieder auszuspucken. Abends wurde man dann in ein Hotel gefahren, von dem man am nächsten Morgen wieder abgeholt wurde. Wenn dies in dieser Gegend als Pilgern verstanden wurde, konnten wir die Spanier dann doch wieder verstehen, dass sie den Jakobsweg nicht mochten. Wie sollten sie so etwas ernst nehmen und in den Pilgern noch Menschen sehen, die sich auf einer Geistesreise befanden? Auf der anderen Seite waren diese Pilger natürlich die beste Einnahmequelle, die man sich als Barbesitzer überhaupt vorstellen konnte. Man musste nichts bieten, denn die Pilger kamen eh nur einmal und dann nie wieder. Außerdem gab es hier an den meisten Orten nur wenig Alternativen und keine von ihnen war besonders überragend. Also mussten sich auch die anderen nicht anstrengen um mithalten zu können. Ein Pilgerbus spuckte auf ein Mal 50 Touristenpilger aus, die alle nach der kurzen Strecke einkehrten um sich mit einem Bier oder einer Cola zu erfrischen und die ein Essen zur Stärkung wollten. Mit etwas Glück konnte man als Barbesitzer also in einer halben Stunde bis zu 500€ verdienen. Das könnte durchaus ein Grund sein, Pilgern gegenüber freundlich zu sein.

In Colunga kamen wir an einem Zahnarzt vorbei und beschlossen, ihn zu fragen, ob er sich Heikos Backenzahn einmal genauer anschauen könne. Nur um herauszufinden, ob es sich wirklich um Karies handelte und ob man sich deswegen Sorgen machen musste oder nicht. Wir erklärten der Zahnärztin, dass wir kein Geld hatten und fragten, ob sie dennoch einen Blick auf Heikos Zahn werfen könne. Sie war einverstanden und bat uns, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Hier vertrieben wir uns unsere Zeit mit dem durchblättern von Frauenzeitschriften. Wir wählten die Magazine vor allem deshalb aus, weil es keine anderen gab. Auch der andere Mann, der mit uns wartete, blätterte in einem Heft mir Rezepten und Tipps für die Sommermode. Wie kam es, dass es hier keine einzige Zeitschrift gab, die auch Männer als Zielgruppe hatte? Außerdem gab es keinen einzigen Artikel, der wirklich etwas spannendes Enthielt. Es war eine gedruckte Version eines belanglosen Smalltalks über Kleidung, Königshäuser, Kleidung, Kleidung, Schauspieler und den Papst. Im Wartezimmer lagen rund 15 verschiedene Magazine und kein einziges enthielt Informationen, die einen Menschen zum Nachdenken anregen konnten, die ihn weiterbrachten oder von denen er etwas hätte lernen können. Warum druckt man so viele Seiten mit so wenig Inhalt? Liegt es wirklich nur daran, dass die Menschen kein Interesse an anderen Themen haben? Oder gibt es vielleicht einige, die ein Interesse daran haben, dass alle anderen möglichst abgestumpft und belanglos bleiben? Und noch etwas irritierte uns. Die Zeitschriften waren Teilweise so dick wie ein ganzes Buch, waren komplett in Farbe und in Hochglanz gedruckt und kosteten nur 1,60€. Als wir unser Buch veröffentlicht haben, war es ein Problem, dass es etwas mehr Seiten und Grafiken hatte, als ursprünglich gedacht. Dadurch stiegen die Druckkosten und wir mussten auf einen Teil unseres Honorars verzichten. Wie passte es zusammen, dass bei einem Buch für zwanzig Euro ein paar Seiten und ein bisschen mehr Tinte so schwer ins Gewicht vielen, wenn man dieses Farbpaket für 1,60€ verkaufen konnte. Wenn man bedachte, dass die Zeitschriften auch noch von jemandem geschrieben werden mussten, der ebenfalls Geld verdiente, und dass am Ende noch genug für das Verlagshaus übrig bleiben musste, dann konnte dieser Preis nicht aufgehen. Es sei denn, der Leser war nicht der eigentliche Kunde dieser Zeitschrift. Ein einziges Mal durchblättern reichte aus um zu erkennen, dass mehr als die Hälfte der Seiten mit Werbung gefüllt war und dass die Texte und Artikel selbst zum großen Teil auch nichts anderes als versteckte Werbeanzeigen waren. Die Frage nach der Finanzierung wäre dann also geklärt. Und die nach Informationen, die einen Menschen dazu bringen konnten etwas anderes zu tun als hirnlos hinter den angepriesenen Modetrends hinterher zu rennen auch.

Der einzige Artikel, der unsere Aufmerksamkeit doch für einen Moment auf sich lenken konnte, war der über den Papst. Ein Foto zeigte ihn mit rund neunzig Kardinälen auf einer Feier im Vatikan. Jeder Kardinal trug eine Robe, die einen Wert von rund 30.000€ hatte. Dass die Kirche also zu Arm war, um sich um ihre Schäfchen zu kümmern, konnte man daher wohl kaum behaupten.

Schließlich wurden wir in die Praxis gerufen und Heiko durfte auf dem Zahnarztstuhl Platz nehmen. Die junge Ärztin sprach Englisch, was die Verständigung enorm erleichterte. Sie schaute sich den Zahn genau an, klopfte dagegen, ließ kalte Luft darüber strömen und stocherte mit einem spitzen Gegenstand daran herum. Ihr Ergebnis war beruhigend. Es gäbe keinen Grund zur Sorge. Der Zahn hat zwar eine leichte Schwächung an den Stellen, an denen die Plombe eingesetzt wurde, doch es sei nichts, was der Körper nicht alleine wieder heilen konnte. Zum Abschied schenkte sie uns dann sogar noch eine neue Zahnpasta und wünschte uns eine gute Reise.

„Es ist wirklich faszinierend!“ sagte Heiko, als wir wieder im Freien waren. „Wenn ich mit dem gleichen Problem zum Arzt gegangen wäre und gesagt hätte, dass ich privat versichert bin, dann hätte es mit Sicherheit einen Grund zum bohren gegeben. Doch jetzt, wo man an mir nichts verdienen kann, sagt sie offen und ehrlich, dass der Körper es von alleine heilt.“

Beruhigt zogen wir weiter. Dabei fiel uns auf, dass der Pilgerstrom mit dem Einbruch des Nachmittages abgerissen war. Es schien wirklich so, als hätte der Wettstreit um die Herbergen begonnen, der jeden Wanderer dazu veranlasste, so schnell wie möglich anzukommen. Abgesehen vom Wind, der noch stärker blies als am Vormittag waren wir nun also allein auf der Piste. Leider hatten wir auch keine Nahrung mehr und durch unseren Verzicht auf Zucker war unsere Energie bald auf dem Reservelevel. Wir fragten an Häusern und an einem Hotel nach Brot oder Obst, wurden jedoch fast immer abgelehnt. Auch Schlafplätze wollte uns niemand anbieten, selbst dann nicht, wenn er Häuser mit vier Garagen besaß. Erschwerend kam hinzu, dass die kleinen Dörfer durch die wir kamen fast alle nahezu vollständig ausgestorben waren, so dass wir selbst im günstigsten Fall nur ein oder zwei Personen antrafen. Dabei fanden wir heraus, dass die Menschen hier wirklich glaubten, dass die Pilgerherbergen für Jakobswanderer umsonst seien. Erst hatten wir es immer für eine Lüge oder für eine Ausrede gehalten, um nicht selbst helfen zu müssen. Das war es auch ein Stück weit, doch viele waren wirklich davon überzeugt, dass man als Pilger dort eine kostenlose Unterkunft bekam. Immerhin zahlten die Einheimischen dafür ja ihre Steuern.

Der Wind war nun so stark, dass wir unmöglich unser Zelt aufbauen konnten. Über uns am Berg knackten bereits einige Bäume und an mehreren Stellen hatten wir ein wirklich mulmiges Gefühl.

„Weißt du!“ sagte Heiko, „Ich gehe einfach mal davon aus, dass es für Gott eine ziemlich schlechte Publicity wäre, wenn herauskäme, dass zwei Pilger, die sich auf einer spirituellen Reise befanden von Bäumen erschlagen wurden. Deshalb mache ich mir auch keine Sorgen!“

In diesem Moment knackte es wieder.

„Ok,“ sagte Heiko, „Sorry, ich hab’s ja kapiert! Du stehst nicht so drauf, wenn man sich über dich lustig macht. Aber du treibst ja auch ständig deine Witze mit uns, also solltest du auch ein bisschen was einstecken können. Wenn du keinen Spaß verstehst hättest du vielleicht lieber einen anderen Beruf wählen sollen!“

Genau in dieser Sekunde kam ein Windstoß, der Heiko den Hut vom Kopf riss und ihn hoch durch die Luft wirbelte. Er drehte sich einige male und blieb dann zwanzig Meter weiter vorne im Gras liegen.

„Oha,!“ begann Heiko, „Ich glaube, er will wirklich, dass wir an ihn glauben, oder an sie oder es oder wie auch immer!“ Dann wandte er sich wieder Gott zu und sagte: „Ich hab’s schon kapiert, dass du klarmachen willst, dass du den größeren von uns beiden hast. Dass du auch immer so einen auf Proll machen musst!“

Als wir schließlich in Sebrayu ankamen, dem Ort in dem es angeblich eine kostenlose Herberge gab, entdeckten wir zuerst einige Reife Orangenbäume und dann die Amerikanerin, die wir gestern am Strand getroffen hatten.

„Hallo Jungs!“ rief sie uns entgegen, „Wollt ihr hier bleiben? Ich glaube ihr könntet hier mehr glück haben, denn die Herbergsleiterin ist eine ganz liebe Frau! Sie hat mir diese Geldbörse geschenkt weil ich keine hatte und sie ist wirklich nett!“

Die junge Dame sollte Recht behalten. Wir bekamen nicht nur einen kostenlosen Schlafplatz in der Massenunterkunft, sondern auch Nudeln und Eier von den eigenen Hühnern der freundlichen Spanierin. Die Nacht im Bettenlager mit 20 anderen Pilgern wird sicher nicht so erholsam wie die letzten beiden, doch es ist bedeutend besser, als mit samt dem Zelt von einem Berg herunter geweht zu werden.

Spruch des Tages: Wahre Heilung kommt von innen

 

Höhenmeter: 490 m

Tagesetappe 21 km

Gesamtstrecke: 2716,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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