Über den Berg

von Franz Bujor
16.05.2014 21:44 Uhr

Dass eine Nacht in einer Pilgerherberge nicht die Krönung der Erholsamkeit werden würde hatten wir uns bereits gedacht. Doch tatsächlich wurde es sogar noch ein bisschen schlimmer. Gestern noch hätten wir uns nie vorstellen können, dass wir die Spanier mit ihrer Ablehnung gegen Pilger einmal so gut verstehen würden.

In der Herberge waren insgesamt 19 Personen untergebracht. 14 davon schliefen in regulären Betten in einem gemeinsamen Schlafraum, einer bekam ein Zusatzbett in die Mitte eben dieses Schlafraumes gestellt und vier schliefen eine Etage höher in einem gesonderten Raum. Die letzten vier waren erst spät am Abend angekommen, als die Herberge eigentlich bereits voll war. Doch die liebe Herbergsleiterin tat alles dafür, um noch irgendwo einen Platz auszutreiben.

Unseren Tagesbericht und die Fotos bearbeiteten wir oben in der Küche, weil dies der einzige Platz war, an dem es Steckdosen gab. Dabei lernten wir die vier Neuankömmlinge etwas näher kennen. Es handelte sich um eine Familie, die gemeinsam Pilgerte. Die heutige Tagesetappe war eine Mammutstrecke gewesen und die beiden Töchter litten noch immer unter den Folgen. Der Vater war Pfarrer und wanderte den Jakobsweg bereits zum zweiten Mal. Dies jedenfalls war der erste Eindruck, den wir von den vieren bekamen.

Anders als in den meisten Herbergen durfte man sich hier bis um 10:00Uhr aufhalten. Wenn man das nicht schaffte, war halb elf auch kein Problem. Rein theoretisch hätte man hier also locker ausschlafen und neue Kraft für den Tag schöpfen können. Zumindest, wenn man sich damit arrangierte, dass die Betten gefühlte 1,20m lang waren und man seine Beine durch das Gitter am Fußende stecken musste, wenn man ganz hineinpassen wollte. Doch um 5:30Uhr in der Früh begann der erste damit, seine Sachen zusammenzupacken. Er versuchte, sich dabei noch relativ leise zu bewegen, was ihm mittelmäßig gelang. Von nun an, standen die Pilger einer nach dem anderen im Abstand von 10 Minuten auf und jeder verursachte etwas mehr Lärm als sein Vorgänger. Gegen sieben Uhr gab es für die meisten Übernachtungsgäste keinen Grund mehr, nicht mit einem Gespräch zu beginnen. Die Amerikanerin warf als erste Aktion des Tages ein Glas um, dass neben ihrem Bett zerbrach. In einem Schlafsaal in dem 15 Menschen mit nackten Füßen herumliefen war das keine besonders angenehme Situation. Im Bett unter mir und in dem gegenüber Saßen zwei deutsche Frauen, die sich über ihre Reiseplanungen austauschten und dabei keinerlei Gefühl dafür hatten, dass vielleicht noch jemand schlafen wollte. Auch die Amerikanerin unterhielt sich lautstark mit einem anderen Pilger auf dem Gang. Sie wollte niemanden stören und hatte auch nicht das Gefühl, dass sie es tat. Sie achtete nur einfach nicht darauf, wie laut ihre Stimme war.

Unser Wecker stand auf 8:30 doch um 7:40 hielten wir es nicht mehr aus und krochen aus unseren Betten. Es hatte einfach keinen Sinn mehr, länger liegen zu bleiben. Als der Wecker dann schließlich klingelte, waren wir schon unterwegs. Das krasseste an der ganzen morgendlichen Unruhe ist jedoch, dass die meisten Pilger sogar noch nach uns starteten. Sie rumorten seit 6:00 in der Früh und kamen dabei keinen Schritt voran.

Wir verließen das Haus mit der deutschen Pfarrersfamilie und wanderten gemeinsam, bis sich der Jakobsweg in einen Fuß- und einen Fahrradweg aufspaltete. Hier entschieden wir uns für die Variante, die mit unseren Wagen angenehmer zu fahren war, während die anderen weiter der Originalstrecke folgten.

In Villaviciosa legten wir in einem Park eine Frühstückspause ein. Dabei sahen wir einige Pilger, die bereits lange vor uns aufgebrochen waren und die nun an uns vorüber zogen. Wie sie es geschafft hatten, trotzdem so viel langsamer zu sein als wir, war uns ein Rätsel. Auch unsere Pfarrersfamilie überholte uns erst als wir gerade mit unserem Picknick fertig waren. Sie stellten uns erneut vor ein Rätsel. An der Touristeninformation sahen wir sie noch gemeinsam. Dann zogen drei von ihnen weiter, während die Mutter in ihrem Rucksack kramte und stehen blieb. Zunächst dachten wir, sie würde die anderen vielleicht später einholen, doch sie kam und kam nicht hinterher. Wieder trennte sich der Weg und wir wanderten durch einen Park, während die drei verbliebenen Familienmitglieder an der Straße weiterliefen. Eine Trimmdichstange überredete uns zu einer Pause, in der wir uns darin versuchten Klimmzüge zu machen. Das Ergebnis war erbärmlich aber schon etwas besser als beim letzten mal.

Kurz darauf holten wir die Familie erneut ein. Diesmal wanderten wir eine längere Etappe gemeinsam und kamen noch einmal etwas tiefer ins Gespräch. Dabei erfuhren wir, das unser bisheriges Bild von den vier Wanderern komplett falsch gewesen war. Der Pfarrer war ein katholischer Pfarrer und konnte damit nicht der Vater der beiden jungen Frauen sein. Ihre ‚Mutter’ entpuppte sich hingegen als Nonne, die nach der anstrengenden Etappe von gestern nun mit dem Bus weiterfahren und die anderen später wieder treffen wollte. Die beiden Mädchen waren eigentlich gemeinsam mit ihrer Oma auf den Jakobsweg aufgebrochen. Ihre beiden ‚Eltern’ waren Freunde der Oma, die sie erst mit dem Start der Reise kennengelernt hatten. Sie hießen Rebecca und Dorothe und waren deutlich älter als wir sie zunächst eingeschätzt hätten. Rebecca war 26 und Studierte Medienwissenschaften. Dorothe war zwei Jahre älter und arbeitete für eine Firma, die Filmmusiker finanzierte. Oder zumindest finanzieren sollte. Hauptsächlich ging es darum, die Musiker für so wenig Geld wie möglich arbeiten zu lassen. Beide waren mit ihrer momentanen Arbeits-, bzw. Studiensituation nicht wirklich zufrieden, träumten aber davon, eines Tages gemeinsam Filme zu machen. Dorothe würde dann die Musik und Rebecca das Filmen übernehmen.

Der Pfarrer war bereits im Ruhestand und erzählte uns noch einige Fakten über seinen Berufsstand in Deutschland. Siebzig war das früheste Alter, mit dem man als Pfarrer in den verdienten Ruhestand gehen konnte. Danach durfte man zwar weiterarbeiten, musste es aber nicht. Der Amtsvorgänger unseres Reisegefährten hatte zur Amtsübernahme ein 80 Hektar großes Stück Land bekommen, dass er bewirtschaften musste. Sein komplettes Gehalt bestand aus dem, was er aus dem Land erwirtschaften konnte. Von der Kirche bekam er keinen weiteren Cent. Als unser Pfarrer das Amt und damit auch das Land übernommen hatte, hatte er einen Vertrag mit einem Forstwirt abgeschlossen, der ihm die Arbeit etwas erleichterte. Doch auch er musste sich über das kirchliche Land selbst versorgen. So war es natürlich nicht überall, doch es war eine durchaus gängige Praxis. Er erzählte uns auch davon, dass in den letzten Jahren immer mehr Gemeinden zu einer Zusammengelegt wurden. Dadurch ergaben sich gleich zwei Nachteile für die Pfarrer und ihre Gemeinden. Zum einen waren die Pfarrer kaum noch ansprechbar, da sie immer irgendwo unterwegs waren um zu Messen oder Beerdigungen zu fahren. Zum anderen baute die Arbeit in der Gemeinde immer auch zu großen Teilen auf der Hilfe von Freiwilligen auf. Je mehr Gemeinden ein Pfarrer betreuen musste, desto mehr Hilfe brauchte er dabei von ehrenamtlichen Helfern. Doch da sich sein Kontakt zu den Bürgern immer weiter verringerte, gab es auch immer weniger Freiwillige, die sich zur Unterstützung bereit erklärten. Sie hatten ja nichts mehr davon, wenn der Pfarrer keine Zeit mehr für sie hatte. Es war ein Teufelskreis, der nur deswegen ins Rollen gebracht wurde, weil auch die Kirche dem gleichen Einsparungswahn unterlag, wie die freie Marktwirtschaft. Einen wirklichen Grund gab es dafür nicht, denn die Kirchensteuer wurde nicht weniger.

Schließlich führte der Weg einen Berg hinauf, der alle anderen in der Umgebung an Höhe übertraf. Auch hier gab es eine Wegvariante für Radfahrer und eine für Fußgänger. Erneut trennten wir uns und waren uns sicher, dass wir uns später erneut begegnen würden.

Der Weg war das anstrengendste, dass wir in den letzten Tagen hatten durchmachen müssen. Mehr als 4,5 Kilometer führte er steil den Berg hinauf, bis auf eine Höhe von 436m. Nach der Hälfte ging uns das Wasser aus und die Sonne brüllte auf uns herab. Eine alte Frau, die wir nach neuen Wasserreserven fragten, füllte unsere Flaschen mit Wasser, das aus einem Bach direkt in ihr Haus floss. Unter anderen Umständen wären wir Glücklich über eine solche Wasserquelle gewesen, doch hier lagen noch einige landwirtschaftliche Felder oberhalb des Hauses. Bei seiner ersten Jakobspilgertour hatte Heiko einmal von einem solchen Wasser getrunken und daraufhin drei Tage lang den schlimmsten Brechdurchfall seines Lebens bekommen. Erneut eine solche Erfahrung zu machen wollten wir nicht riskieren, weshalb wir das Wasser vorsichtshalber den Blumen schenkten. Unseren Durst löschten wir dann zumindest kurzfristig mit einer der wilden Orangen, die wir am Vortag gefunden hatten. Sie war mit den Orangen aus einem Supermarkt nicht zu vergleichen!

Oben auf dem Gipfel wurden wir für die Anstrengung mit einem herrlichen Ausblick über das Bergpanorama belohnt. Wir konnten sogar einige schneebedeckte Bergspitzen in der Ferne sehen. Wir setzten uns an den Straßenrand, genossen die Aussicht und entspannten unsere Füße.

Nach dem Abstieg ins Tal kamen wir zu einer Bar, in der wir zu einem Mittagessen eingeladen wurden. Den Salat und die Suppe hatten wir bereits verspeist, als der Pfarrer mit den beiden jungen Frauen wieder auftauchte. Die beiden Mädels waren vollkommen erschossen und hätten sich am liebsten gleich zu uns auf die Bank gesetzt, um nie wieder aufzustehen. Doch der Pfarrer duldete kein Pardon. Sie wollten Gijon erreichen, die nächste große Stadt in 10 Kilometern Entfernung. Dort würden sie auf einem Campingplatz übernachten und morgen würden sie dann den Zug nehmen, um ein oder zwei Etappen zu überspringen. Ihr Flug von Compostela ging am 27.5. und ohne die Schummelei würden sie es nicht rechtzeitig schaffen. Da wir planten die Nacht in diesem Ort zu verbringen, hieß es nun also endgültig Abschied zu nehmen. Beide waren sichtlich traurig darüber und wären gerne noch weiter mit uns zusammen gepilgert. Der Pfarrer hingegen war so ungeduldig, dass er die Unterhaltungen der Mädchen kaum aushielt. Später fragten wir uns, warum die beiden jungen Damen nicht einfach langsamer gewandert waren und auf den Zug von Gijon verzichteten. Einen Zug in Richtung Santiago konnten sie von überall nehmen und bis dahin konnten sie ihren Urlaub genauso gut entspannt und mit Freude verbringen, vor allem wo sie sich gerade so sehr über die Begegnung mit uns freuten.

Auf dem Weg über den Berg war eine weitere Frau zu dem Dreiergespann hinzugestoßen. Sie hatte heute schon weit über dreißig Kilometer auf dem Buckel und wollte den gleichen Schlafplatz erreichen, wie die anderen drei. Zunächst wollten alle gemeinsam weiterziehen, doch die Frau entsann sich plötzlich eines besseren und beschloss in der Bar erst noch einen Kaffee zu trinken.

Dabei erzählte sie uns, dass sie seit vielen Jahren immer kleine Etappen des Weges ging. Zunächst war sie gemeinsam mit einer Freundin immer am Wochenende gewandert, solange der Weg noch nahegenug an ihrem zu Hause gelegen hatte. Dann waren es Wochenurlaube geworden und seit der Schweiz war sie alleine immer für drei oder fier Wochen unterwegs. Diesmal hoffte sie anzukommen. Doch dafür musste sie einen Schnitt von über dreißig Kilometern täglich einhalten. Kurz nachdem sie uns das erzählt hatte, stand sie auf und marschierte strammen Fußes weiter.

Es fiel uns schwer, die Frau zu verstehen. Viele Jahre lang war sie auf dieses Ziel hin gewandert und jetzt, so kurz vor Santiago, setzte sie sich selbst so unter Stress. Warum? Wäre es nicht viel schöner, den Weg zu genießen und ganz in Ruhe so weit zu kommen, wie sie eben kam? Wenn sie es nicht nach Santiago schaffte, dann hatte sie etwas, worauf sie sich beim nächsten Urlaub freuen konnte. So aber war sie drauf und dran, sich selbst das Finale einer langen und erfahrungsreichen Reise zu verderben.

Nach dem die Frau verschwunden war, kamen wir ins Gespräch mit zwei Einheimischen, die am Nachbartisch saßen. Es war das erste Mal, dass wir auf Spanier trafen, die von sich aus ein ehrliches Interesse an uns und unserer Reise zeigten, ohne dass wir sie angesprochen hatten. Sie waren freundlich, sympathisch und dazu auch noch wirklich hilfsbereit. Der Pfarrer dieses Ortes sei ein wirklich netter Mann und nähme immer wieder auch Pilger auf. Außerdem könnten sie uns die Adresse eines tollen Pfarrers in Gijon geben, bei dem wir mit Sicherheit die kommende Nacht verbringen konnten.

Beides stellte sich als absolut wahr heraus. Pater Enrique stellte uns die Sakristei seiner Kirche als Schlafplatz zur Verfügung und versorgte uns außerdem noch mit Zutaten für ein Abendessen. Er freute sich darüber, dass wir kamen und empfing uns mit offenen Armen. Als wir ihn baten, den Pfarrer von Gijon anruzufen, um zu fragen, ob er ebenfalls einen Schlafplatz für uns hatte, freute er sich gleich noch mehr. Die beiden Geistlichen hatten gemeinsam studiert, sich dann aber aus den Augen verloren. Seit acht Jahren hatten sie nun keinen Kontakt mehr. Unsere Bitte war nun ein Anlass, seinen alten Freund wieder einmal anzurufen und das tat den beiden Männern sichtlich gut.

Spruch des Tages: Die meisten jagen so sehr dem Genufl nach, dafl sie an ihm vorbeilaufen. (Sören Kierkegaard)

 

 

Höhenmeter: 800 m

Tagesetappe 22 km

Gesamtstrecke: 2738,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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