Heckenarbeiter

von Franz Bujor
24.05.2014 20:32 Uhr

Ganz so unendlich wie gedacht, war unser Glück am Ende des Tages dann leider doch nicht. Wir dürfen uns wirklich nicht beschweren denn alles hatte bisher super geklappt, nur ums Abendessen blieb es etwas mau. Im Hotel hatten wir bereits den Schlafplatz umsonst bekommen, ein zusätzliches Abendessen war also ein bisschen viel verlangt. Nicht das wir es nicht versucht hätten.

Da es keine weiteren Bars oder Restaurants gab, mussten wir uns an die Dorfbewohner halten.

„Vielleicht ist der starke Regen ja sogar hilfreich dafür!“ meinte Heiko, „das gibt bestimmt einen Mitleidsbonus!“

Da kannte er die Spanier schlecht! Von Mitleid konnte hier keine Rede sein. Im Gegenteil, von den 10 Häusern, die wir fragten, wurde uns bei dreien die Tür vor der Nase zugeschlagen, noch ehe wir unsere Frage auch nur beendet hatten. Fünf Bewohner behaupteten kein einziges Lebensmittel im Haus zu haben, nicht einmal ein altes Stück Brot oder einen Apfel. Erst bei den letzten beiden am Ortsausgang hatten wir Erfolg. Wir bekamen ein Stück Baguette mit Wurst, eine halbe Packung Schmelzkäse und einen schimmeligen Hartkäse. Letzter wäre in Frankreich wahrscheinlich eine Delikatesse gewesen. Hier jedoch hätte er laut Hersteller kein Fitzelchen Schimmel haben sollen.

Als Nachspeise fanden wir noch einige Erdbeeren am Wegesrand. Es war kein Highlight, aber wir wurden satt.

Heute hätte eigentlich wieder ein entspannter Tag werden sollen, vor allem weil das Wetter einen neuen Rekord im Ungemütlichsein aufstellte. Doch in Spanien herrschten einfach andere Gesetze als in Frankreich und in Deutschland. Dort war die Suche nach einem Schlafplatz umso leichter gewesen, je kleiner die Ortschaft war. Wenn irgendwo nur ein einziger Mensch lebte, dann war es fast eine Gewissheit, dass sich dieser über den Besuch zweier Reisender freute. Hier war es jedoch genau andersherum. Je kleiner ein Ort war, desto schwieriger wurde es. Bei Privatpersonen hatte man als Reisender äußerst schlechte Chancen. Natürlich gab es Ausnahmen, doch wenn unter 10.000 Einheimischen einer war, der Wanderer beherbergte, dann war das viel. Und diesen einen musste man erst einmal erwischen. Infrastrukturen wie Pfarrer, Altenheime, Hotels und der gleichen, gab es jedoch fast nur in größeren Ortschaften. Auch hier gab es Ausnahmen, doch diese waren so rar gesät, dass man zum Teil dreißig oder vierzig Kilometer weit wandern musste, um sie zu erwischen. Und selbst wenn man sie fand stand die Chance bei weniger als 30%, dass sie einen wirklich aufnahmen. Im Schlimmsten Fall konnte das bedeuten, dass es gut dreißig oder vierzig Kilometer bis zur nächsten Chance waren. Für jemanden, der im Schnitt nur 20km am Tag läuft ist das etwas zu weit weg. Für heute bedeutete das, dass wir gut 27km machen mussten, bis wir eine Übernachtungsmöglichkeit hatten. Wir hätten das Wandern auch schon vorher beendet und ein Zelt aufgebaut, wenn es nicht durchgängig in einer Tour geschüttet hätte und wir nicht so durchgefroren gewesen wären, dass wir befürchteten, im Zelt einfach nicht mehr warm zu werden.

Doch bevor es soweit war, wurden wir Zeuge einer äußerst lustigen Szene, die die Mappetshow bei weiten in den Schatten stellte.

In einer sonnigen Minute am frühen Nachmittag machten wir eine kleine Rast auf einer Bank. Wenige Meter entfernt versuchten einige Straßenarbeiter eine Hecke zu stutzen, wofür sie ihre ganz eigene Technik entwickelt hatten. Die wichtigste Arbeit wurde von zwei Männern übernommen. Sie waren dafür zuständig, das Geschehen aus sicherer Entfernung mit der professionellen Hände-in-den-Hosentaschen-Haltung zu beobachten, und gegebenenfalls intelligente Kommentare abzuliefern, sofern dies von Nöten war. Der dritte Arbeiter war für das eigentliche Stutzen der Hecke verantwortlich. Für diese Arbeit war er natürlich nicht mit so etwas lächerlichem wie einer Heckenschere, sondern mit dem typisch spanischen Allzweckgerät ausgestattet: Einem Freischneider. Genau, jenem Gerät, dass dazu dient, Grashalbe an Stellen zu stutzen, an die man mit einem normalen Rasenmäher nicht hinkommt. Hierzulande wird es jedoch für nahezu jede Arbeit benutzt, die man sich vorstellen kann. Es ersetzt den Rasenmäher vollständig, es dient zur Entfernung von Unkräutern zwischen Steinplatten und sogar zum Schneiden von Fußnägeln. Heute wurden wir davon überzeugt, dass man damit auch ganz hervorragend Hecken beschneiden kann. Mit hervorragend meine ich Folgendes: Man hebt das Gerät, dass normalerweise für den Gebrauch in Bodennähe vorgesehen ist, auf eine Höhe von rund 1,5 Metern, wodurch jede Sicherheitseinrichtung nutzlos wird, und drückt dann auf den Einschalter. Nun presst man es so lange gegen jedes einzelne Ästchen, bis dieses vor lauter Angst Selbstmord begeht und abbricht. Die Prozedur dauert etwa drei Mal so lange, als wenn man die Hecke komplett ohne technische Hilfe stutzen würde. Dafür ist sie aber auch drei mal so laut wie jede handelsübliche Heckenschere. Die Hecke selbst ist danach natürlich nicht mehr zu gebrauchen. Sie sieht aus, als hätte man sie gerade durch den Fleischwolf gedreht und löst bei den Passanten vor allem ein Gefühl des Mitleids und der Trauer aus. Hinzu kommt, dass der Freischneider bei dieser Anwendung auch sämtliche Kleinpflanzen vernichtete, die in der Mauer unterhalb der Hecke wuchsen. Darunter befanden sich viele äußerst seltene Pflanzen, die einen wichtigen Beitrag zu dieser ökologischen Nische leisteten.

Doch der Höhepunkt der Show kam erst noch. Der vierte Mann im Bunde war für die Aufräumarbeiten zuständig. Dafür hatte er sich mit einem Laubbläser und einer kompletten Schutzausrüstung bewaffnet. Den Laubbläser hielt er in der rechten Hand, die Schutzbrille hielt er in der linken. Das war auch deutlich sicherer, denn so konnte er sie vor den ganzen kleinen Pflanzenteilen schützen, die ihm ins Gesicht flogen. Hätte er die Brille auf der Nase getragen, hätte sie am Ende noch etwas abbekommen. Da der Laubbläser natürlich einen Heidenlärm verursachte und zu diesem Zweck wahrscheinlich mit einem 5000 Watt Verstärker ausgestattet worden war, trug der Mann vorschriftsmäßig Mickymaus-Kopfhörer. Selbst verständlich trug er sie auf den Wangen, denn die Ohren brauchte er ja, um die volle Dröhnung an Lärm genießen zu können. Damit sich seine Arbeit auch lohnte, verteilte er das Laub mit Hilfe seines Bläsers zunächst gleichmäßig auf der Straße und ging dabei von oben nach unten vor. Anschließend pustete er alles wieder an die Mauer, wobei er sich diesmal von unten nach oben voran arbeitete. Unterstützt wurde er bei seiner Arbeit von den orkanartigen Windböen, die alles immer und immer wieder über die Straße verteilten. Das hielt den Mann jedoch nicht davon ab, mit äußerster Gründlichkeit vorzugehen, und auch die drei Blätter weg zu pusten, die sich hinter einen Müllcontainer verirrt hatten. Beim Versuch den Blättern zu folgen, blieb er zwischen Container und Wand stecken. Es kostete ihn einiges an Kraft, sich aus seiner misslichen Lage wieder zu befreien.

Kurze Zeit später lernten wir Charly kennen, einen kleinen Hundewelpen, den wir beinahe adoptierten. Er war so niedlich, dass wir einfach nicht umhinkamen, ihn einzuladen, sie auf einen unserer Wagen zu setzten. Er hätte die Einladung wahrscheinlich auch angenommen, wenn das Wetter nicht so unsagbar grausig gewesen wäre. Es war ein Wetter, bei dem man seinen Hund nicht vor die Tür jagte. Das dachten wir uns, und der Hund dachte es sich auch. Der Hund jedoch war schlauer und suchte sich ein gemütliches Plätzchen im Trockenen, während wir uns wieder auf Wanderschaft begaben.

Es dauerte gut 24 Kilometer, bis wir das erste Mal eine Stadt erreichten, die groß genug war, dass sie ein Altenheim, einen Pfarrer, Hotels und eine Pilgerherberge beheimatete. Das Hotel lehnte uns ab. Das Altenheim bat um 15 Minuten Bedenkzeit und der Pfarrer war wieder einmal ein Sonderfall. Wir nutzten die 15 Minuten, um ihn ausfindig zu machen und landeten dabei am Ende wieder im Altenheim. Hier hatte auch der Pfarrer seine Residenz und die Heimleiterin hatte aus keinem anderen Grund um die 15 Minuten gebeten, als dass sie in dieser Zeit den Geistlichen kontaktieren wollte. Dieser meinte jedoch, dass sie uns zu Essen und zu Trinken, aber auf keinen Fall einen Schlafplatz geben solle. Warum er das tat, wusste weder ich noch die Heimleiterin. Der Pfarrer selbst ließ sich entschuldigen und war nur über sein Handy erreichbar. Wo er sich aufhielt wusste niemand. So kam es, dass wir nach einer guten halben Stunde Wartezeit mit einer Tüte voller Milch und Essen wieder im Regen und Wind auf der Straße standen. Immerhin mussten wir nun nicht mehr hungern. Trotzdem war ich sauer und frustriert. Ich spürte deutlich, dass meine Frustrationstoleranz in Bezug auf die Absagen in den letzten Tagen recht niedrig geworden war. Es störte mich nicht, dass die Menschen „Nein“ sagten, das war ihr gutes Recht. Doch es störte mich gewaltig, dass sie dafür so viel Zeit in Anspruch nahmen, dass sie ständig nach Ausflüchten suchten und dass vor allem die Pfarrer so oft ihre Hilfe verweigerten, einfach weil sie keine Lust darauf hatten.

„Weißt du,“ sagte Heiko, „Ich glaube dich regt die ganze Sache hier gerade deshalb so viel mehr auf als mich, weil du noch nie in diesem Bereich gearbeitet hast. Bei meiner Allianzzeit musste ich mich schnell daran gewöhnen, dass ich ununterbrochen von tausenden von Leuten abgelehnt wurde. Es gehörte einfach zum Job. Nichts anderes ist es hier. Aber mach dir nichts draus, du gewöhnst dich schon auch noch daran!“

Der Besuch im Altenheim war jedoch noch aus einem anderen Grund spannend gewesen. Hier, wie auch in allen anderen Altenheimen in Spanien hatte ich beobachtet, dass die Bewohner immer in langen Reihen vor die Fenster gesetzt wurden. In jedem Heim gab es eine Fensterfront und davor standen nebeneinander Stühle, auf die sich die Alten setzen konnten um hinauszuschauen. Diejenigen, die nicht mehr laufen konnten wurden im Rollstuhl in die gleiche Position geschoben. Warum man mit den Alten hier so verfuhr wusste ich nicht, doch es war noch einmal eine ganz andere Art des Umgangs als in Frankreich oder Deutschland. Zur Kommunikation trug sie jedoch nichts bei.

Da uns keine andere Option mehr blieb, machten wir uns auf zur Herberge, in der Hoffnung, dass wir vielleicht dort übernachten durften. Auf dem Weg dorthin kamen wir dann an einem Haus vorbei, das uns aus irgendeinem Grund anzog. Eine Jakobsmuschel hing am Zaun, im Schuppen stand eine Matratze und irgendwie sah alles einladend aus. Wir beschlossen, hier nach einem Schlafplatz zu fragen und tatsächlich handelte es sich bei der Bewohnerin um eine der wenigen Personen, die sich über Wanderer in ihrem Haus freuten. Wir bekamen ein Gästezimmer und wurden später zum gemeinsamen Abendessen eingeladen. Unser Altenheimessen steuerten wir dazu bei, wenngleich sich die anderen freundlich davon distanzierten. Wir brauchten nur wenige Bissen um zu verstehen, warum sie das taten. Das Essen schmeckte genauso grausam, wie man es von einem spanischen Krankenhausfraß hätte vermuten können.

Beim Essen erfuhren wir noch einige weitere spannende Details über die Altenheime und die Kirche in Spanien. Ein verhältnismäßig guter Altenheimplatz kostete hier rund 1200 € im Monat, was deutlich günstiger war, als in Deutschland. Die meisten Heime wurden dabei von der Kirche, bzw. von Nonnen- oder Mönchsklostern geführt. Hatte ein potentieller Bewohner kein Geld und keine Familie, die für ihn zahlen konnte, so konnte er einen Wohnheimplatz bekommen, wenn er dem Kloster dafür seinen Besitz überschrieb. Die Kirche konnte dann entscheiden, ob sie die Wohnungen oder Häuser der Alten selbst benutzen, sie vermieten oder verkaufen wollte. Viele Häuser stehen aus genau diesem Grund zum Verkauf. Da der Immobilienmarkt jedoch auf einem absoluten Tiefpunkt steht, können die meisten Häuser nicht verkauft werden. Die Nonnen bewohnen sie dann für eine Weile und lassen sie schließlich verfallen. Immerhin kommen ständig neue alte Menschen, die wieder neue Immobilien mitbringen. Warum sollte man die alten also pflegen?

Langsam leuchtete uns immer mehr ein, warum die Kirche hier so agierte, wie sie agierte. Die Pfarrer, Nonnen und Mönche waren die einzigen im Land, die noch wirklich reich waren und die trotz der schlechten Wirtschaftslage ständig reicher wurden. Dass sie sich von nervigen Wanderern nur ungern in die Karten schauen ließen, war da also kein Wunder.

Spruch des Tages: Warum einfach, wenn man es auch kompliziert machen kann?

 

Höhenmeter: 710 m

Tagesetappe 26 km

Gesamtstrecke: 2896,07 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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