Tag 272: Touristenstädte

von Heiko Gärtner
30.09.2014 20:09 Uhr

„Wach auf! Das musst du dir ansehen!“ riss mich Heikos Stimme mitten in der Nacht aus dem Schlaf.

Es dauerte nur einige Sekunden, bis ich hellwach war und ebenfalls aus dem Bett sprang. Draußen peitschte ein Unwetter, wie wir es noch nicht oder zumindest lange nicht mehr erlebt hatten. Alle paar Sekunden peitschte der Donner und der Himmel flackerte fast wie ein Stroboskoplicht im Schein der Blitze. Der Regen trommelte auf das Dach, so dass wir uns kaum mehr verständigen konnten. Begeistert liefen wir zur Tür und stellten uns unter den Dachüberstand. Im ganzen Hof standen gut 20 Zentimeter Wasser und die Straßen hatten sich in reißende Flüsse verwandelt. Das Hotel lief auf Notstrom, denn in der ganzen Gegend war das Stromnetz zusammengebrochen. Erst zwei Stunden später wurde der Strom wieder eingeschaltet. Das wissen wir deshalb, weil Heiko seinen Lichtschalter auf „ein“ gelassen hatte und plötzlich vom grellen Licht seiner Deckenlampe geweckt wurde.

Nachdem wir uns nun auf eine komplett tote Küste eingestellt haben, ist heute dann plötzlich doch der Tourismus aufgetaucht. Mit Benicassim erreichten wir die erste typisch spanische Strandtouristenstadt, wie man sie von den Postkarten her kennt. Schöne, weite Sandstrände vor einem noch schöneren Bergpanorama und dazwischen unästhetische Hochhaus-Bettenburgen, die alles verschandeln. Spanier leben hier im Verhältnis eher weniger, dafür gibt es jede Menge Deutsche, Holländer und Franzosen, die meist nach der Rente hierher ausgewandert sind. Um die Ehre der Spanier wieder etwas zu rehabilitieren, müssen wir sagen, dass die Deutschen, denen wir heute begegnet sind keinen Deut angenehmer oder freundlicher waren als unsere spanischen Bekanntschaften.

„Wo habt´ne ihr euer Rad?“ schrie ein älterer Herr quer über die Straße um damit ein Gespräch zu eröffnen. Es unterschied sich um nichts zu dem Gespräch mit dem Lehrer, der uns vor einigen Tagen mit seinem „Zu Fuß?“ anschnauzte, im Glauben, damit besonders freundlich zu wirken. Auch bei den anderen Begegnungen kam kaum Interesse herüber, zumindest keines, das über eine kurze Sensationslust hinausreichte.

Dafür war die Unterhaltung mit Gerdy, einer Rentnerin aus Holland, die vor knapp zwei Jahren hierher gezogen war, umso angenehmer. Sie war eine offene und warmherzige Frau und es machte Spaß sich mit ihr zu unterhalten.

Das zweite positive Gespräch hatten wir mit einem Spanier, der in der Schweiz aufgewachsen war und der uns im Feuer für seinen Joint bat. Er war ein sanfter und ruhiger Mensch, dem es sichtlich schwer fiel, hier ohne eine gute Portion Marihuana zurecht zu kommen. Im Gespräch mit ihm wurden wir immer wieder von dem lauten Zwitschern eines Vogels unterbrochen, der irgendwo ganz in unserer Nähe sitzen musste. Wir konnten ihn jedoch nicht sehen. Plötzlich tauchte er dann an einer Stelle auf, an der wir ihn als letztes erwartet hatten. Er watschelte aus der Tasche unseres Gesprächspartners hervor.

Der kleine Kerl war ein Wildhuhn-Küken und gehörte zu der großen Gruppe, die der Mann bei sich zuhause hielt. Trotz seiner schmerzhaft lauten Rufe, mit der es seine Mutter heranlocken wollte, war das kleine Wollknäuel so süß, dass wir uns sofort verliebten. Wir durften es sogar in der Hand halten und streicheln, während es mit seinen überdimensioniert großen Füßen auf uns herumtippelte.

Zwischen Benecassim und Oropesa konnten wir auf der Via Verde wandern, einer ehemaligen Zugstrecke, die für die Touristen zu einem Fahrradweg umgebaut worden war. Die Zugstrecke war wir mit einem Messer in die Felsen geschnitten worden, was ebenso brutal wie beeindruckend wirkte und für uns natürlich den Vorteil hatte, dass wir uns die steilen Anstiege über die Berge sparten.

Es war nach all den lauten und grässlichen Wegen der letzten Tage endlich mal wieder ein Weg, den wir richtig genießen konnten. Am Ende des Weges kam ein langer, dunkler Tunnel, der nach dem Regenguss der letzten Nacht eher einer Tropfsteinhöhle glich. Auf der anderen Seite erwarteten uns die ersten Häuser von Oropesa. Kurz darauf erreichten wir eine kleine Bucht, die vor der Verschandelung durch die Hochhäuser sicher eine der schönsten Buchten an der gesamten, spanischen Mittelmeerküste war.

Direkt am Strand stand das Hotel Marina, dessen freundliche Besitzerin uns ein schönes Doppelzimmer für die Nacht zur Verfügung stellte. Nach dem Gewitter in der letzten Nacht, waren wir heilfroh, wieder einen so schönen und warmen Schlafplatz zu haben, der uns vor einem möglichen Unwetter schützen würde.

Bevor wir uns an unsere Arbeit machten, nutzten wir das schöne Wetter und die schöne Bucht um unser erstes Bad im Meer zu nehmen. Es war recht frisch und wir hatten nach kurzer Zeit harte Nippel und eine Gänsehaut, aber es war ein tolles Gefühl nach 5300km in dem Meer zu baden, das wir zu Fuß erreicht haben.

Wieder im Hotel widmeten wir uns noch einmal dem Toilettenpapierthema.

Heute ist die Benutzung von Toilettenpapier so normal geworden, dass die meisten Menschen ihr ganzes Leben hinter sich bringen, ohne auch nur ein einziges Mal darüber nachzudenken.

Wie aber kam es dazu?

Denn wir werden uns ja wahrscheinlich nicht von einem Tag auf den anderen dabei ertappt haben, dass unser Stuhlgang plötzlich an unserem Hintern kleben bleibt und haben daraufhin Toilettenschüsseln und Klopapier erfunden. Es wird eher ein schleichender Prozess gewesen sein. Je weiter wir uns von unserer eigenen Natur entfernten, desto schlechter wurde auch unsere Verdauung. Es mussten also Lösungen her, wie wir damit umgehen konnten. Dazu gab es die unterschiedlichsten Ideen. Die Griechen und Anatolia verwendeten flache Steine, die Römer bevorzugten kleine Schwämmchen, die sie auf Stöcke aufspießten, im französischen Königreich verwendete man Seidentücher, auf Hawaii Kokosnussrinde und die Inuit nutzen bis heute entweder Schnee oder Tundramoos. Auch wir haben bei unseren Wildnisseminaren meist Moos verwendet und selbst die skeptischsten Teilnehmer waren davon bereits nach wenigen Versuchen überzeugt. Es ist einfach weicher und deutlich angenehmer als unser fasriges Papier. In anderen Kulturen verwendete man Gras, Fell, Blätter, Heu, Stroh, Merinowolle, Muschelschalen oder eingeweichte Maiskolben. Einige Nomadenvölker nutzen auch einfach Sand und bei den Indern und Arabern werden vor allem Wasser und die Hände hergenommen.

Wer hätte gedacht, dass allein die Art wie man kackt so viel über eine Gesellschaft aussagt?

So gibt es im Arabischen beispielsweise einen ganzen Berg an Regeln und Richtlinien rund um die Entrichtung der Notdurft. Diese sogenannten Ausscheidungsregeln gehören zu den Regeln der Rituellen Reinheit im Islam und hören sich zum Teil für Nichtmuslime recht witzig an, während andere absolut sinnvoll und übernehmenswert sind.

Der Besuch der Toilette ähnelt hier ein bisschen einem Gebet, wenngleich er auch hier mit einer gewissen Ablehnung betrachtet wird. So darf man beispielsweise keine Gegenstände mit aufs Klo nehmen, auf denen der Name Allahs steht. Außerdem sollte man sich beim Kacken oder Pinkeln weder mit dem Gesicht noch mit dem Hintern in die Gebetsrichtung also Richtung Mekka drehen. In den muslimischen Ländern stehen sind die Toiletten daher fast immer so ausgerichtet, dass sich die Frage von alleine erledigt. In anderen Regionen ist das natürlich nicht der Fall und so muss man sich als gläubiger Muslime hin und wieder damit zufrieden geben, sich einfach quer auf die Toilette zu setzen. Das Urinieren im Stehen ist im Islam generell verpönt, so dass sämtliche Urinale eigentlich aus dem Rahmen fallen. Auf wasserundurchlässigen Boden zu pinkeln oder in ein Gewässer, vor allem wenn es ein stehendes Gewässer ist, gehört sich ebenfalls nicht. Abgesehen davon darf man laut Koran keine Exkremente auf einem Grundstück hinterlassen, wenn der Besitzer damit nicht einverstanden ist. Dies gilt auch dann, wenn auf dem Grundstück eine Toilette steht. Auch auf Friedhöfen oder anderen Plätzen, an denen ein Toilettengang „entwürdigend“ sein könnte, hat man seine Verdauungsprodukte bei sich zu behalten. Das Pinkeln oder Scheißen unter einen Obstbaum ist ebenso tabu, wie ein Toilettengang mit vollem Mund.

Auf der anderen Seite ist es aber auch verpönt, seinen Harn- oder Stuhldrang hinauszuzögern und ihm nicht nachzugehen. Auch sollte man mit voller Blase kein Ritualgebet ausüben. Daher wird empfohlen, vor jedem Ritualgebet, vor dem Schlafen, vor dem Geschlechtsverkehr und nach jedem Orgasmus zu urinieren.

Bevor man dann wirklich auf die Toilette geht, spricht man ein Bittgebet für Allah. Anschließend betritt man die Toilette idealerweise mit dem linken Fuß zuerst. Wenn man sein Geschäft beendet hat, werden die entsprechenden Körperstellen mit Wasser gereinigt. Dies ist die Voraussetzung für die rituelle Reinheit und tatsächlich ist diese Art der Analhygiene deutlich reinlicher als unsere Toilettenpapier-Methode. Auch wenn es sich im ersten Moment vielleicht nicht so anhört.

Wir sind bei unseren Recherchen übrigens auf den Text eines Arztes gestoßen, der sich so abfällig uns herablassend zu diesem Thema geäußert hat, das wir es kaum glauben konnten. Seiner Ansicht nach, wären die islamischen Reinigungsmethoden im Zeitalter des Toilettenpapiers komplett hinterwäldlerisch und die Reinigung mit Wasser sei sowohl unzureichend als auch ekelig. Das alles schrieb er, ohne sich je mit dem Islam oder dem Toilettenpapier auseinandergesetzt zu haben.

Zur Körperreinigung nach dem Toilettengang wird normalerweise die sogenannte Shataffa benutzt, eine kleine Dusche, die neben der Toilette hängt. Nach dem Urinieren lassen sich Frauen dabei das Wasser über die Scheide laufen, während Männer den Penis auch vom letzten Tropfen befreien sollten um dann auch den hintersten Teil der Harnröhre auszuspülen. Nach dem Pinkeln reicht in der Regel ein einmaliges Ausspülen. Nach dem kacken wäscht man so lange, bis alle Spuren beseitigt sind. Dabei nimmt man, wenn möglich immer die linke Hand zu Hilfe und wäscht sich im Anschluss beide Hände gründlich mit Wasser und Seife ab.

Wenn alles gereinigt ist, verlässt man die Toilette mit dem rechten Fuß und spricht ein zweites kurzes Bittgebet. Während der Toilettenzelebration selbst, sollte hingegen nicht gesprochen werden.

Heiko hat an unserem ersten Tag des Klopapierverzichtes seinen Waschlappen in einem Restaurant nicht dabei gehabt und musste daher auf diese Form der Reinigung mit Wasser und der linken Hand zurückgreifen. Es hat funktioniert aber seine Lieblingsmethode wurde es nicht.

Die muslimische Methode ist deutlich älter als unsere Toilettenpapiernutzung und zu Zeiten in denen man sich im Islam bereits mit der rituellen Reinigung beschäftigte, schwor man in Europa noch darauf, auf die Straße zu kacken und den eigenen Gestank mit ausreichend Parfüm zu überdecken, anstatt ihn abzuwaschen. Wie kam es also, dass bei uns das Toilettenpapier so berühmt wurde, dass wir uns heute nicht einmal mehr vorstellen können, das es auch andere Methoden gibt. Dieser Frage werden wir uns morgen noch einmal genauer widmen.

Spruch des Tages: Nicht die Jahre in unserem Leben zählen, sondern das Leben in unseren Jahren zählt. (Adlai E. Stevenson)

 

Höhenmeter: 10 m

Tagesetappe: 22 km

Gesamtstrecke: 5311,87 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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