Tag 344: Die Mauer (Teil I)

von Heiko Gärtner
13.12.2014 21:37 Uhr

Dass der Winter so hart ist, hatten wir nicht mehr in Erinnerung gehabt. Gerade sitzen wir bei etwa drei Grad Innenraumtemperatur dicht an einen kleinen Ofen gedrängt und warten darauf, dass sich unser Zimmer langsam erwärmt. Ob es heute noch wirklich warm werden wird ist jedoch fraglich.

Der Raum ist eigentlich ein kleiner Bungalow auf dem Gelände des Klosters „Saint Betlehem“ in dem wir heute zu Gast sind. Es ist das Haus, in dem normalerweise die Familien der Nonnen wohnen, wenn sie die Schwestern besuchen. Abgesehen von der Kälte ist es einer der schönsten Plätze, die wir in der letzten Zeit besuchen durften. Es ist ein großes Gelände mitten zwischen den Hügeln und es herrscht hier eine absolute Stille und Friedlichkeit, die man sonst in Europa kaum noch finden kann. Das Gelände ist so groß, dass wir das eigentliche Kloster noch gar nicht zu Sicht bekommen haben. Nur die Räume für die Gäste und die Klosterkirche, in der es heute Abend um 17:15 Uhr eine Messe geben wird, zu der wir ebenfalls eingeladen wurden.

Unsere Gastgeber von Gestern leiteten nicht nur eine Pension, sondern bauten auch ihren eigenen Wein an. Aus einem Grund, den wir nicht so ganz verstanden haben, begannen sie mit der Pflege des Weins, also mit dem Stutzen der Triebe, bereits um kurz nach vier Uhr in der Nacht. Dies galt zumindest für den Vater. Um 7:30Uhr musste die Tochter in die Schule gebracht werden und anschließend begann auch die Mutter mit der Arbeit auf den Weinfeldern. Es gab definitiv unterschiedliche Lebensrhythmen! Für uns war es unvorstellbar, wie man sich als sein eigener Chef einen Arbeitstag aussuchen konnte, der um 4:00Uhr in der Nacht begann. Als wir unsere Bürozeiten der Wildnisschule selbst wählten, hatten wir eher den umgekehrten Rhythmus. Wir schliefen meist bis zum Mittag und arbeiteten dann bis nachts um 4:00Uhr. So wirklich sinnvoll war das wahrscheinlich auch nicht, aber es ist schon spannend, wie unterschiedlich sich die Menschen ihre Zeit einteilen.

Für uns bedeutete die frühe Arbeitszeit unserer Gastgeber natürlich ebenfalls, dass wir schon um 7:30 auf der Piste stehen mussten. Eine Zeit in der zwar eine schöne Morgenstimmung leider aber auch der ganze Morgenverkehr vorherrschte. Und natürlich eine Zeit, in der es sackkalt war.

Erst gegen Mittag taute es etwas auf und die Sonne verwandelte den frischen Wintertag in ein angenehm warmes, goldenes Land aus Weinfeldern und Kiefernhainen. Nach einer ausgedehnten Pause in der Sonne wanderten wir die letzten Kilometer bis zum Kloster und wurden hier ebenso freundlich aufgenommen wie von Schwester Tamara vor zwei Tagen.

In der kurzen Nacht, auf dem ganzen Weg hierher und auch jetzt in der Kälte vor dem Kamin, gingen mir die Worte meiner Mutter noch einmal durch den Kopf. Um zu verstehen, was gerade in mir und in meiner Familie los ist, möchte ich einmal ganz von vorne beginnen. Ich weiß, dass meine Eltern nicht damit einverstanden sein werden, wenn ich unsere Familiengeschichte hier erzähle. Ich halte es jedoch für wichtig, den ganzen Kontext zu verstehen, um nicht nur auf der Ebene von Schuld und Unschuld, Bewertung und Verurteilung stehen zu bleiben. Außerdem ist meine Familie nur ein Beispiel für die Familiensystematiken, die in jeder Familie herrschen und so hilft euch meine Geschichte vielleicht auch ein bisschen dabei, eure eigenen zu verstehen. Es ist die Geschichte meiner Familie, so wie ich sie verstanden habe und damit ist es meine persönliche Wahrheit, die nicht mit der meiner Eltern oder anderer Familienmitglieder übereinstimmen muss.

Als meine Mutter geboren wurde, war mein Großvater gerade erst volljährig geworden und es war nicht unbedingt sein Plan, eine Familie zu gründen. Auch in ihm schlug das Herz eines Abenteurers und eines Reisenden, der die Welt sehen wollte. Doch nach dem Krieg musste er sich zunächst um seine Mutter und seine beiden kleinen Brüder kümmern und ehe er sich versah, tauchte nun auch noch ein Baby auf. In der damaligen Zeit war es keine Frage, ob er die Mutter heiratete oder nicht. Es blieb keine Wahl, denn wo ein Baby ist, da musste auch eine Hochzeit her.

Die Folge war eine Ehe zwischen zwei Menschen, die sich nicht besonders mochten und zwischen denen fast ständig ein Krieg herrschte. Nach dem, was ich von meiner Mutter weiß, waren knallende Türen, laute Wortgefechte und zerschmissenes Porzellan keine Seltenheit. Als meine Mutter 7 Jahre alt war folgte die Trennung der Eltern. Es war nicht einfach eine Scheidung, sondern ein Bruch, wie er härter nicht hätte sein können. Meine Großmutter beschloss, dass sie mit Mamas kleinem Bruder ausziehen und den Kontakt zu ihrer Tochter und ihrem Ex-Mann für immer beenden würde.

Durch diese Situation lernte meine Mutter, dass Streit und Meinungsverschiedenheiten in einem erbitterten Krieg enden müssen, der dazu führte, dass man von einem geliebten Menschen verstoßen und für immer verlassen wurde. Geliebt werden kann man also nur dann, wenn man immer auch die gleiche Meinung und die gleichen Ansichten hat. Auf ihrem Schulweg kam sie regelmäßig an der neuen Wohnung von ihrer Mutter und ihrem Bruder vorbei, doch es war ihr verboten, sie zu besuchen oder auch nur länger stehen zu bleiben und nach ihrem Bruder Ausschau zu halten.

Damals wurde für sie klar, dass sie einmal eine Familie gründen würde, in der es keinen Streit und keinen Krieg gab, die harmonisch und friedlich verlief. Gleichzeitig steckte die Angst davor, dass ein Streit automatisch dazu führte nicht mehr geliebt zu werden, so tief in ihr, dass es für sie unmöglich war, Meinungsverschiedenheiten zuzulassen. Und noch etwas passierte in jener Zeit. Meine Mutter verlor das Urvertrauen darin, dass es so etwas wie eine bedingungslose Liebe geben könnte. Denn wenn sie nicht von ihrer eigenen Mutter geliebt wurde, wo hätte sie das Gefühl der Liebe da aufbauen können? Liebe war also direkt an Bedingungen gebunden und dazu musste man sich so verhalten, wie es andere von einem erwarten. Und man kann auch nur die Menschen lieben, die sich so verhalten, wie man selbst er von ihnen erwartet. Ohne ein Vertrauen in die Schöpfung und darin, dass es eine Urliebe auf der Welt gibt, war es für sie natürlich auch unmöglich, die Dinge fließen zu lassen. Wenn etwas gut werden sollte, dann musste sie es kontrollieren und dazu zählte auch das Leben ihrer Kinder, denn wir lagen ihr ja besonders am Herzen.

Mein Vater sehnte sich aufgrund seiner eigenen Familiengeschichte ebenfalls nach einer heilen Familie und da es seine Strategie war, die Entscheidungen der Frau zu überlassen, fügte er sich gerne in das Bild ein, das Mama von unserer Familie malte.

Viele Jahre ging das gut und unser Familienleben wirkte wirklich für uns selbst ebenso wie nach außen hin, als wäre es perfekt. Der Preis dafür war nur, dass keiner von uns wirklich zu sich stehen konnte, weil es in allem eine Familienmeinung geben musste. Im nachhinein fällt mir auf, dass sich das in vielen Kleinigkeiten zeigte, die ich damals jedoch nicht verstand. So war es für mich lange Zeit unmöglich, einen eigenen Musikgeschmack zu entwickeln, weil es hierfür keine allgemeinverständlichen Regeln gab. Meine Eltern mochten bestimmte Arten von Musik und somit war es meine Pflicht als Sohn, der geliebt werden wollte, diese Musik ebenfalls zu mögen. Gleichzeitig gab es jetzt aber Freunde und Schulkameraden, die eben jene Musik grässlich fanden und die dafür Musik mochten, die meinen Eltern ganz und gar nicht gefiel. Da ich jedoch gelernt hatte, dass man nur dann gemocht wird, wenn man mit jemandem einer Meinung ist, stand ich nun vor dem Dilemma, dass ich weder meine Freunde, noch meine Eltern verlieren wollte. Also blieb eine permanente Unsicherheit in mir. Erst in der 10. oder 11. Klasse begann ich zu verstehen, dass ich meinen eigenen Geschmack haben konnte und dass dieser nicht von anderen geteilt werden musste. Das gleiche System steckt bis heute in nahezu jedem Bereich meines Lebens. Ich weiß noch, dass wir mit der Schulklasse einmal einen Besuch ins Kino gemacht haben und dass ich anschließend gefragt wurde, wie mir der Film gefallen hat. Ich hatte damals solche Angst, dass ich etwas Falsches sagen könnte, dass ich mich verzweifelt bemühte, unauffällig herauszufinden, was die anderen von dem Film hielten. Erst als ich mir sicher war, dass sie ihn mochten, begann ich, Begeisterung zu äußern.

Jetzt aber ging es nicht mehr nur um Details, sondern um wirklich große Lebensentscheidungen. In ihrer Mail von gestern sagte mir meine Mutter noch einmal ganz deutlich, dass Liebe für sie bedeutet, dass man einander kritiklos so annimmt und akzeptiert wie man ist und dass man seine Meinung widerspruchslos teilt. Die Angst, verlassen zu werden ist so groß, dass selbst die kleinste Meinungsverschiedenheit eine Gefahr darstellt. Es gibt kein Vertrauen in das Leben und daher muss alles kontrolliert werden. Es ist, als hätte sie bei meiner Geburt gesagt: „Danke, liebe Schöpfung, du hast den kleinen Embryo in meinem Bauch bis hier her gut wachsen und gedeihen lassen, doch von nun an übernehme ich das Kommando und bestimme, was nun weiter aus ihm wird. Wie als Symbol dieser erstickenden, mütterlichen Für-Sorge, wickelte sich bei meiner Geburt die Nabelschnur um meinen Hals und erwürgte mich fast. Als ich auf die Welt kam, war mein Kopf bereits blau und rot vom Sauerstoffmangel und die Ärzte mussten erst einmal zusehen, dass ich wieder genügend mit Luft versorgt wurde. In dieser Phase meines Lebens muss auch meine Trichterbrust entstanden sein, die wie als Zeichen des fehlenden Vertrauens in die Schöpfung auf meine Lunge drückt und mir den Atem der Freiheit nimmt. Es ist jenes Thema des fehlenden Vertrauens an die Schöpfungsliebe, die das Kernthema im Leben meiner Mutter ist und die ich von ihr übernommen habe. Denn ihr Thema begann ja auch nicht erst mit der Trennung ihrer Eltern. Selbst wenn sie versucht haben, für sie da zu sein, so lag doch immer unbewusst das Gefühl in ihnen, dass sie der Grund war, weswegen die beiden Streithähne mit den Eheringen aneinander gekettet wurden. Unterbewusst spürte sie also schon von der ersten Sekunde nach der Zeugung an, dass sie nicht geliebt wurde und dass sie Schuld am Unglück ihrer Eltern hatte. Es mag sein, dass ihre Eltern ihr das Gefühl im Streit sogar einmal bewusst gegeben haben, doch auch wenn das nicht der Fall war, so spüren wir diese Dinge als kleine Kinder überdeutlich.

So steckte die Angst, dass sie von jedem geliebten Menschen verlassen und verstoßen würde auch noch bei meiner Geburt tief in ihr und es war ihr unmöglich zu vertrauen, dass ich mich schon auf einen gesunden Weg begeben und mich von selbst dazu entscheiden würde, sie bedingungslos zu lieben. Von diesem Moment an, versuchte sie daher, meinen Lebensweg so zu gestallten, dass ich der perfekte Sohn für die perfekte Familie wurde.

Mein Vater hingegen nahm eher die Rolle eines Freundes für mich ein. Schon als ich noch im Bauch meiner Mutter war, klopfte er oft vorsichtig darauf und sagte: „Na, Kumpel!“

Als Kind war mein Vater immer ein guter Spielgefährte gewesen, mit dem ich gemeinsam Staudämme bauen und Lego-Landschaften erschaffen konnte. Er war ein bisschen das dritte Kind in der Familie. Vielleicht war er auch deswegen neben meiner Schwester der einzige Mensch, mit dem ich mich zumindest manchmal streiten konnte, ohne dabei ein schlechtes Gefühl zu haben. Unser Verhältnis war nie besonders intensiv. Wir haben nie über Gefühle, Ängste oder Wünsche gesprochen. Bis vor kurzem war das für mich auch vollkommen in Ordnung gewesen, weil ich ja wusste, dass es ihm nicht lag. Wir waren eben einfach Kumpel, die gemeinsam etwas unternahmen, die aber ansonsten nicht viel über einander wussten. Jetzt erst fiel mir auf, wie sehr sich mein Vater durch seine Harmoniesucht und durch die Bereitschaft die Meinung meiner Mutter zu übernehmen, auch zu einem Sklaven gemacht hat. Meine Mutter schrieb in ihrer Mail, dass die größten Werte meines Vaters seine Zuverlässigkeit, seine Hilfsbereitschaft und seine Art seien, immer und jederzeit für alle da zu sein, wenn man ihn um Hilfe bat. Das waren auf der einen Seite noble Werte, es bedeutete jedoch auch, dass man ihn herumkommandieren und verbiegen konnte, so wie man es brauchte. Es war für ihn leichter, ja und ahmen zu sagen, als seine eigene Meinung offen zu legen und eine Bitte, die er nicht erfüllen wollte auch einmal auszuschlagen. Und genauso geht es auch mir. Wie oft habe ich in meinem Leben aus Bequemlichkeit und Harmoniesucht einfach die Meinungen und Einstellungen anderer kopiert, um nicht zu riskieren, alleine da zu stehen? Ich habe mich immer dafür verurteilt, konnte es jedoch nicht ändern, weil ich die Mechanismen nicht verstand. Jetzt wird mir klar, dass es ein Lernprozess ist, den ich als Kind verpasst habe. Und genau wie es als Kind tausendmal leichter ist, eine Sprache zu erlernen, denn als Erwachsener, ist es nun auch für mich schwieriger zu lernen, zu mir zu stehen, als es das als Kind gewesen wäre.

Fortsetzung folgt....

 

Spruch des Tages: Schließe ab mit dem was war, sei glücklich über das was ist, bleibe offen für das was kommt. Das Leben ist schön, von einfach war nie die Rede.

Höhenmeter: 95 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 6390,37 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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