Tag 352: Das Wunder von Lourdes

von Heiko Gärtner
20.12.2014 22:57 Uhr

Noch 5 Tage bis Weihnachten.

Nach allem, was uns in diesem Jahr bereits wiederfahren ist, hätten wir nie gedacht, dass wir ausgerechnet zu Weihnachten in die härtestes Region kommen. Spanien hatte wirklich viele grausame Ecken und Portugal hat uns mehr als nur einmal an die Verzweiflungsgrenze gebracht. Auch Andorra war mehr als grenzwertig, doch das hier übertrifft noch einmal alles. Seit Saint Raphaël wandern wir nun nur noch an der Küstenstraße entlang, an der es schlimmer zugeht als auf den Autobahnen bei San Sebastian. Doch anders als an vielen anderen Orten haben wir hier keine Chance auszuweichen. Rechts ist das Meer und links sind die Alpen, auf denen bereits Schnee liegt. Auch durch Andorra gab es nur einen Weg und der war genauso laut und unangenehm. Doch damals wussten wir, dass die Hölle nach rund 40km wieder enden würde. Hier jedoch lässt sich noch lange kein Ende absehen. Auf Canne folgte Nice, dann kommt Monaco, dann Monte Carlo und in Italien geht es dann gleich mit San Remo und Maurizio weiter. Hinzu kommt, dass es in diese Gegend so ziemlich jeden Reichen Menschen Europas verschlagen hat, was leider bedeutet, dass die Hilfsbereitschaft ins bodenlose sinkt.

Es ist, als wollte uns die Schöpfung noch einmal vor eine finale Prüfung in Sachen Vertrauen stellen. Und wenn das ihre Absicht ist, dann muss man sagen, hat sie dafür alle Achtung verdient. Genialerweise klappt es dann ja auch immer wieder. Irgendwo her tauchen doch wieder Menschen auf, die uns helfen. Der Mann, der uns bereits auf die Villa Saint Camille aufmerksam gemacht hat, hatte uns auch einen Zettel mit Notfallnummern in der Gegend gegeben. Darauf war unter anderem auch eine für Nice verzeichnet. Der Mann, der sich unter der Nummer meldete sprach einige Sätze in kaum verständlichem Französisch und alles was ich heraushören konnte war, dass er uns mit einem Motorrad endgegenkommen würde. Eine vage Hoffnung, bei dem vielen Verkehr. Doch bereits eine knappe Stunde später gabelte er uns an der Strandpromenade auf. Er selbst konnte uns nicht beherbergen, da er nur eine winzige Wohnung in einem Wohnblock mit über 60 Parteien besaß. Doch er hatte eine Adresse in den Bergen für uns, etwa drei Kilometer hinter Nice.

Das klang zunächst großartig und im nachhinein, jetzt wo wir in einem gemütlichen Zimmer mit zwei Betten und einer Heizung sitzen, ist es das auch. Doch zwischenzeitig gab es Momente in denen wir die Idee verfluchten, hierher wandern zu wollen. Denn nach den ersten 12km waren es nun noch knapp 10km bis nach Nice am Meer entlang und dann weitere drei ins Landesinnere. Von diesen drei Kilometern waren die ersten 1,5 relativ harmlos, wenn man mal von dem üblichen Verkehrschaos absieht. Dann aber mussten wir mit dem letzten Stückchen Weg gute 300 Höhenmeter überwinden. Eine Aufgabe, die uns mit Muskelschmerzen, Erkältungserscheinungen, allgemeinem Energietief und verspannten Schultern nicht gerade angenehm war. Zunächst ging es über einen ebenso steilen wie schmalen Pfad nach oben, auf dem alle eineinhalb Meter eine Treppenstufe zu überwinden war. Dann wand sich die Straße in steilen Serpentinen bis auf die Bergspitze hinauf. Richard, der Jakobspilger, der uns die Adresse herausgesucht hatte, begleitete uns den ganzen Weg vom Strand bis auf den Berg hinauf. Unterwegs trafen wir noch einen Radfahrer aus Südafrika, der nun seit 18 Monaten unterwegs war. Er war ein gemütlicher Teddybärentyp, den man sofort gernhaben musste. Vielleicht treffen wir ihn morgen auf dem Weg noch einmal, denn er fährt ebenfalls in Richtung Monaco.

Mit jedem Schritt den wir gingen konnten wir immer weniger verstehen, warum die Menschen hier lebten. In den Yachthäfen standen Boote, deren gemeinsamer wert im mehrfachen Milliardenbereich lag. Auf den Straßen tummelten sich die Ferraris, Porsches und was weiß ich nicht noch alles. Und auf dem Flughafen von Nice standen neben den Linienmaschinen auch einige Privatjets. Doch wenn man so viel Geld für all diesen Luxus hatte, warum suchte man sich dann ausgerechnet einen Strand aus, der im Winter nicht einmal gepflegt wurde und der daher voller Müll war? Warum lebte man dann in einer Stadt, deren Straßen und Fußwege löchriger waren als ein Schweizer Käse? Und warum baute man sich seine Luxusvilla dann direkt zwischen eine Zuglinie, einen Flughafen und eine 6-10-spurige Hauptstraße? War das wirklich das Ziel, auf das man mit jahrelanger Arbeit als Bankmanager oder Konzernchef hinarbeitete, für das man seine Seele verkaufte und einen Herzinfarkt oder ein Magengeschwür riskierte? Mag sein, dass die Geschmäcker verschieden sind, aber wenn ihr mich fragt, dann wurden die Reichen hier genauso verarscht wie die Ottonormalverbraucher, die im Supermarkt Energiesparlampen oder Lebensmittel kaufen, die laut Gesetz ohne Konservierungsstoffe sind.

Unsere Gastgeberin in dem kleinen Häuschen hoch über der Stadt war davon überzeugt, das Nice die lauteste Stadt in ganz Frankreich war. Sie lebte hier bereits seit einigen Jahren und hatte bis zu ihrer Rente als Krankenschwester gearbeitet. Ihr Mann war Jurist im Umweltrecht gewesen, war jedoch vor ein paar Jahren an Hautkrebs verstorben. Sie erzählte uns, dass ihr Mann aus erster Ehe zwei Söhne hatte. Einer war bereits verstorben und der zweite hatte den Kontakt zu seinem Vater bereits als Jugendlicher abgebrochen. Als der Vater nun im Sterben lag schrieb seine Frau einen Brief an den Sohn und bat ihn, den Streit beizulegen und seinen Vater zu besuchen. Zunächst weigerte er sich, doch schließlich kam er trotzdem. Nur wenige Tage vor dem Tod des Juristen. Als sich die beiden sahen, war es, als hätten die 25 Jahre seit ihrer Trennung nie stattgefunden. Es gab keinen Groll und keine Wut mehr, weder von der einen, noch von der anderen Seite und keiner wusste mehr, worum sich der Streit damals eigentlich gedreht hatte.

Als die Frau diese Geschichte erzählte, hatte ich das Gefühl, dass sie nicht zufällig davon sprach. Sie erinnerte mich zu sehr an meine eigene Situation, denn genaugenommen gibt es ja auch bei mir keinen wirklich erkennbaren Grund für den Streit zwischen mir und meinen Eltern. Es sind nur Sturheiten und Glaubensmuster in unseren Köpfen und doch scheinen sie für den Moment unüberwindbar zu sein.

Doch die Krankenschwester erzählte uns noch eine andere interessante Geschichte. Vor dem Start unserer Reise hatte Heiko von seinem alten Mentor eine Liste mit Orten bekommen, an denen im Laufe des Jahres etwas besonderes passieren würde. Für den 6. Juli hatte er dabei Lourdes eingetragen, doch für uns war es unmöglich gewesen, den heiligen Pilgerort an diesem Termin zu erreichen. Unsere Gastgeberin war jedoch mit einigen befreundeten Schwestern genau an besagtem Datum dort gewesen. In der Nacht vom 5. Auf den 6. Juli waren sie in eine Grotte gewandert. Vonhier aus sahen sie einen Kometen, der einmal quer über den Himmel flog, dann eine Kurve machte und genau auf sie zukam, bevor er schließlich verglühte. Die drei Frauen konnten es kaum glauben und waren völlig aus dem Häuschen. Am nächsten Tag erzählten sie begeistert davon, doch wen sie auch trafen, außer ihnen hatte den Kometen sonst noch gesehen, weil er nicht von der Stadt sondern nur von der Grotte aus sichtbar war.

Wie es der Zufall wollte, waren wir also nicht selbst an dem Ort gewesen, hatten jetzt aber vor Weihnachten doch noch erfahren dürfen, was uns dort erwartet hätte. Wirklich nur ein Zufall?

Spruch des Tages:

Die zwei Wölfe

Ein alter Cherokee-Indianer sitzt mit seiner kleinen Enkelin am Lagerfeuer. Er möchte ihr etwas über das Leben erzählen. Er sagt: „Im Leben gibt es zwei Wölfe, die miteinander kämpfen. Der eine ist Hass, Mistrauen, Feindschaft, Angst und Kampf. Der zweite ist Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Hoffnung, Hingabe und Friede.“

Das kleine Mädchen schaut eine Zeitlang ins Feuer und dann fragt sie: „Opa, welcher Wolf gewinnt denn?“

Der alte weise Indianer schweigt. Nach einer ganzen Weile meint er zur Enkelin: „Es gewinnt der, den du fütterst!“

Höhenmeter: 340 m (Davon 310 auf den letzten 1,5km) Tagesetappe: 30 km Gesamtstrecke: 6544,37 km  
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare