Tag 483: Die Geistermast

von Heiko Gärtner
29.04.2015 19:59 Uhr

Zum Abendessen wurden wir von unserer Gastfamilie noch einmal in ihr Restaurant eingeladen. Es gab eine Backforelle die so unvergleichlich lecker zubereitet worden war, dass wir uns am liebsten hineingesetzt hätten. Der Fisch war so gut, dass wir dabei sogar die knusprigen Pommes vergaßen, die mitserviert wurden. Man spürte bei jedem Bissen, dass dieser Fisch im glasklarem Wasser eines Bergbaches aufgewachsen war und nicht in der chemikalienverpesteten Mündung eines Flusses in einer Industriestadt. Dazu gab es eine Paste aus frischem Knoblauch und Olivenöl. Ein Traum!

Unser Dolmetscher kam auch wieder auf einen Sprung vorbei. Diesmal erzählte er uns von drei Hippies, die er vor einer Woche hier im Ort getroffen hatte. Die Gruppe aus einem Mann und zwei Frauen war mit einem alten Planwagen unterwegs, der von einem Pferd gezogen wurde. Auch der Hotelbesitzer vom Vortag hatte uns bereits davon erzählt. Sie mussten also in der gleichen Richtung wie wir unterwegs sein. Mit etwas Glück treffen wir sie ja vielleicht sogar. Spannend wäre es auf jeden Fall.

Nach dem Frühstück wollte uns vor allem unsere Gastmama kaum gehen lassen. Obwohl sie ungefähr so viel Deutsch sprach wie wir Slowenisch, hatte sie uns richtig ins Herz geschlossen. Als wir sie zum Abschied umarmten hatte sie sogar Tränen in den Augen.

Nach dem fiesen Regen von gestern war es heute wieder angenehm sonnig und warm. Der Weg führte uns diesmal durch eine flachere Ebene und vorbei an einigen Feldern und Plantagen. Auch diese waren nicht gerade klein, doch es gab einen deutlichen Unterschied zu denen in Frankreich, Italien und Spanien. Hier wurde das angebaut, was man in Slowenien zum Essen brauchte. Es waren natürlich noch immer Monokulturen die genauso mit Gift behandelt wurden wie überall sonst, aber sie waren nicht mehr so überdimensioniert, dass sie das ganze Landschaftsbild zerstörten. Das meiste davon waren Gemüsefelder, die noch von richtigen Bauern betreut wurden. Und selbst bei einem großen Weizenfeld sahen wir einen älteren Herren, der mit seinem Rad hierher gefahren war, um nach seinen Pflanzen zu schauen. Es mochte nicht viel gesünder sein, wie hier angebaut wurde, doch die Menschen hatten zumindest noch einen direkteren Bezug zu dem was sie taten. Das machte es allerdings auf der anderen Seite auch gleich noch ein bisschen erschreckender, wie effektiv Monsanto und Konsorten mit ihrer Giftmittelpropaganda waren. Selbst oben in den Bergen liefen die Weinbauern durch ihre Felder und verteilten das Gift mit Handspritzen und ohne Atemschutz auf den jungen Reben.

Als wir am Fluss nach einem Picknickplatz Ausschau hielten, wurden wir jäh von dem lauten Knattern einer Kettensäge aufgeschreckt. Hier schien also für eine ruhige Pause nicht der richtige Ort zu sein. Kaum hatten wir die nächste Ecke umrundet, stellten wir fest, dass die vermeintliche Kettensäge überhaupt keine Kettensäge sondern ein Grasschneider war. Es war schon verrückt, dass man dank der Technik heute mehr Lärm verursachte, wenn man einen Grashalm durchtrennte, als wenn man einen Baumstamm fällte.

Einige Kilometer weiter fanden wir unseren ruhigen Picknickplatz dann aber doch noch. Direkt unten am Flussufer stand eine kleine Bank mit Blick über das Wasser. Jugendliche hatten hier eine Schwimminsel in den Fluss gebaut, auf der man sich im Sommer sonnen konnte. An einem Baum hatten sie außerdem ein Schwungseil installiert, mit dem man ins kühle Wasser springen konnte. Der ganze Platz wirkte ein bisschen wie aus Peter Pan oder aus einer anderen Abenteuergeschichte in irgendeinem Märchenland. Es machte Spaß, hier zu sitzen und hin und wieder einem Fisch dabei zuzuschauen, wie er aus dem Wasser sprang. Warum machten die Menschen wohl Reisen nach Indien um dort die Erleuchtung zu finden, wo es doch hier, so in der Nähe, ein solches Paradies gab?

Wenig später durften wir dann sogar noch einige Pferde auf einer großen Weide beobachten, die ihren Fohlen das Galoppieren beibrachten. Es war das erste Mal, dass ich ein solches Schauspiel zu sehen bekam. Die erwachsenen Tiere rannten in vollem Galopp über die Weide und kehrten dann zu den Jungtieren zurück. Anschließend amten diese ihre Eltern nach und wurden mit jedem Mal ein bisschen sicherer und eleganter. Es war eine richtige Unterrichtsstunde im Familienverband.

Zunächst wunderten wir uns etwas darüber, dass eines der älteren Pferde einen so sonderbaren Laufstiel hatte. Erst beim Näherkommen erkannten wir, dass man ihm die Vorderbeine zusammengebunden hatte. Offensichtlich hatte der gute bereits einen oder mehrere Fluchtversuche hinter sich und sollte nun gezähmt werden. Doch die Wildheit in seinen Augen verriet ganz deutlich, dass er nicht der Typ war, der sich zähmen ließ.

Die Situation zeigte jedoch auch noch einmal wie wichtig es ist, dass Kinder nicht nur von ihren eigenen Eltern sondern von einem Klan aufgezogen werden. Wäre das Pferd mit den zusammengebundenen Beinen das einzige Vorbild fürs Galoppieren gewesen, dann hätten die Jungtiere es kaum richtig lernen können. So aber hatten sie mehrere Anschauungsobjekte und konnten sich alles abschauen, was sie für ihre eigene Entwicklung brauchten.

Bei unserer zweiten Pause stolperten wir dann jedoch ausversehen in einen weniger paradiesischen Ort. Hier kamen keine Bilder von Märchen und Abenteuer auf, sondern viel mehr von Horrorszenarien, Gewalt und Elend. Über eine kleine Brücke erreichten wir ein verlassenes Gehöft mit lauter leerstehenden Gebäuden. Zunächst dachten wir uns nicht viel dabei, doch unsere Neugier war geweckt. Vorsichtig lugten wir in eines der Gebäude, das früher offensichtlich einmal ein Verwaltungsgebäude gewesen sein musste. Überall auf dem Boden lagen Quittungen und andere Papiere verstreut, darunter auch einige Eierkartons. Im Hinterzimmer befand sich eine Packstation für Hühnereier.

Offensichtlich waren wir in einem geschlossenen Betrieb für Legehennen gelandet. Wir schauten uns noch etwas weiter um und entdeckten die alten Hallen, in denen die Hühner ihr Dasein fristen mussten. Der Gestank von Kot und Verwesung schlug uns aus der Dunkelheit entgegen. Als sich unsere Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, erblickten wir die Legebatterien. Wir hatten solche Anlagen schon des Öfteren in Filmen und Dokumentationen gesehen, doch wirklich einmal darin zu stehen war etwas völlig anderes. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Die engen Drahtkäfige mit dem scharfkantigen Gitterboden waren gerade groß genug für eine Henne. Vor den Käfigen befanden sich Laufbänder, in denen das Futter vorbeigefahren wurde.

Wenn ein Huhn ein Ei legte, dann kullerte dieses in eine Rinne unterhalb des Käfigs und konnte dort von einem Arbeiter entnommen werden. In einem der Käfige lag noch immer ein totes Huhn. Es war fast vollständig verwest, stank aber noch immer erbärmlich. Bei allem, was wir bereits über die Hühnermast und die industrielle Massenproduktion von Eiern wussten, waren wir noch immer schockiert. Es war einfach unfassbar, was wir mit Tieren anstellten, um Profit zu machen. Dabei war dies sogar noch ein moderner und relativ kleiner Betrieb gewesen. Gerne hätten wir uns eingeredet, dass er aufgrund der üblen Bedingungen geschlossen wurde und dass heute so eine Tiermisshandlung nicht mehr vorkommt. Doch das wäre einfach zu naiv gewesen. Der Betrieb musste vor rund zwei Jahren geschlossen worden sein und wahrscheinlich deshalb, weil er mit größeren und noch grausameren nicht mehr konkurrieren konnte. Dies war nicht die schreckliche Ausnahme. Es war der schreckliche Standard.

Wir brauchten eine Weile, bis wir uns von unserem düsteren Fund wieder erholt hatten. Als wir ein kleines Dorf erreichten, wurden wir auf eine Frau aufmerksam, die neben der Kirche wohnte und gerade nach Hause gekommen war. Vielleicht gab es hier ja einen Pfarrer und wenn ja, dann wusste sie sicher, wo er wohnte.

Die Vermutung war richtig und die Dame sprach darüber hinaus auch noch hervorragend Deutsch. Der Pfarrer war ihrer Meinung nach ein absolutes Zuckerstück und beherrschte neben Slowenisch und Deutsch auch noch Italienisch und Englisch. Er war gerade nicht zuhause, wollte aber in gut zehn Minuten zurückkommen. Bis dahin wurden wir von der Dame auf ein Wasser auf ihrer Terrasse eingeladen. Wie sich herausstellte hatte sie in Bezug auf den Pfarrer nicht übertrieben. Er war wirklich ein herzensguter Mensch und hatte dazu noch etwas drolliges, so dass man ihn sofort gern haben musste. Wir bekamen ein Gästezimmer bei ihm und durften uns wie zuhause fühlen. Kaum zehn Minuten nachdem wir gekommen waren, fuhr er noch einmal davon und vertraute uns nicht nur sein komplettes Haus sondern auch seine achtzigjährige Mutter an, die ihn gerade besuchte. So unterschiedlich kann Vertrauen sein.

Als die Dame von zuvor erfuhr, dass wir hier übernachten durften, freute sie sich mindestens ebenso sehr wie wir. Sie wünschte uns eine schöne Zeit und schenkte jedem von uns zum Abschied zwanzig Euro und eine Packung mit Tee.

„Versteckt dass aber ganz schnell!“ raunte sie uns dabei zu. „Nicht das mein Sohn dass sieht, der meckert dann wieder!“

Spruch des Tages:

Höhenmeter: 240

Tagesetappe: 9 km

Gesamtstrecke: 8740,77 km

Wetter: sonnig

Etappenziel: Pfarrhaus, 8263 Cerklje ob Krki, Slowenien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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