Tag 484: Ameise auf Abwegen

von Heiko Gärtner
30.04.2015 14:07 Uhr

Heute war ein gemütlicher, ruhiger und weitgehend unspektakulärer Tag. Wir haben unsere Wanderung fortgesetzt und sind weiter am Fluss entlang gelaufen. Alle paarhundert Meter gab es kleine Rast- und Campingplätze an denen Kanus gelagert wurden. Sie weckten in uns neue Ideen des Reisens und ließen uns von einer Kanudurchquerung von Kanada und Alaska träumen. Doch zunächst sollten wir vielleicht erst mal in Schweden und Norwegen üben, bevor wir uns an Gebiete wagen, die dreimal so groß sind wie Deutschland, ohne dass auch nur ein einziger Mensch darin lebt.

Bei unserem Picknick am Flussufer konnten wir eine verwirrte Ameise beobachten, die offensichtlich vollkommen die Orientierung verloren hatte. Sie war gerade auf den Tisch geklettert und hatte ein Samenkorn erbeutet, als wir uns an den selben Tisch setzten und unser Frühstück auspackten. Die vielen neuen Gerüche mussten ihre Duftspur überlagert haben, die sie sich als Heimwegmarkierung gelegt hatte. Wohin sie auch kam, sie stieß an Erdnüsse, Salami oder eingelegte Paprika, die sie zum verweilen und schlemmen verführten. Doch die kleine blieb hart. Sie hatte ihr Samenkorn gefunden und gab es nicht wieder her. Auch nicht im Tausch gegen eine Erdnuss oder eine Salamischeibe. Es war wie verhext! Irgendwie musste doch dieser Weg zurück in den Bau zu finden sein! War es hier lang? Nein! Dort lang? Auch nicht! Vielleicht hier rüber? Wieder nichts! Die Ameise war kurz vor der Verzweiflungsgrenze. Noch einmal lief sie hektisch über den ganzen Tisch und wieder zurück. Dann blieb sie stehen und schien über ihr weiteres Vorgehen nachzudenken.

In der Zwischenzeit kam ein schwarzes Fliegewesen auf uns zugeflogen, das etwa dreimal so groß war wie die Ameise. Es setzte sich ebenfalls auf den Tisch, krabbelte auf Heikos Hand zu und verprügelte dessen Fingernagel mit seinen langen Fühlern. Was ihn zu diesem Akt der Aggression veranlasste ist bis heute ungeklärt. Einige Experten gehen davon aus, dass es sich vielleicht auch um ein Zeichen der Zuneigung gehandelt haben könnte. In diesem Fall war es vielleicht eine Art dreiste Anmache, ähnlich wie wenn man einer hübschen Frau auf den Arsch haut, um ihr zu zeigen, dass man sie toll findet.

Doch bevor wir die Absichten des kleinen Käfers klären konnten, verabschiedete er sich schon wieder und suchte das weite. Was immer er Heiko auch mitteilen wollte, er war mit dessen Reaktion offenbar nicht sonderlich zufrieden.

Die Ameise hatte nun wieder neuen Mut gefasst und setzte zu einem weiteren Fluchtversuch an. Ihr Nachteil gegenüber dem Flühlerstupser war, dass sie keine Flügel hatte, und daher zurück laufen musste. Ich versuchte ihr zu helfen und gab ihr ein paar Tipps: „Halten wir doch einmal fest, was wir sicher sagen können. Auf diesem Tisch ist dein Ameisenbau schon einmal nicht. Der erste Schritt ist es also, dass du wieder nach unten auf den Boden kommst. Dass ist ja nicht so schwer, du musst nur an eine Kante kommen und dann am Tischbein hinabklettern. Unten kannst du dann ja noch immer verwirrt in der Gegend herumlaufen, aber da steigen die Chancen, dass du über irgendetwas stolperst, dass dich weiterbringt!“

Die Ameise schaute mich verwirrt an, überlegte einen Moment und entschied sich dann dafür, meinen Rat zu ignorieren und mit ihrer bisherigen Strategie fortzufahren. Schließlich landete sie dabei auf der Unterseite des Tisches. Ob sie es von dort auf den Boden und vom Boden in ihren Bau geschafft hat, wissen wir leider nicht. Was wir aber sicher sagen können ist, dass sie bis zuletzt ihren Samen stolz über dem Kopf getragen und nicht eine Sekunde abgelegt hat.

Der weitere Weg führte uns wieder durch ein Waldstück und diesmal kamen wir an einem Bärlauchfeld vorbei, das sogar noch größer war, als alle bisherigen. Der Unterschied war diesmal jedoch, dass das Feld bereits vor strahlend weißen Blüten leuchtete. Es war wohl die sicherste Zeit für eine Bärlauchernte, denn die Blüten ließen sich anders als die Blätter nicht mit denen von Maiglöckchen oder Schlüsselblumen verwechseln. Für heute Abend haben wir also wieder eine gute Portion an Wildgemüse. Als wir Brezice erreichten verschafften wir uns zunächst einmal eine Orientierung über den weiteren Weg. Eigentlich war es noch etwas zu früh um anzukommen, doch wie wir feststellen mussten, war dies die letzte Ortschaft vor der Grenze. Morgen würden wir bereits nach Kroatien einreisen und wir haben noch keine einzige Vokabel übersetzt. Daher entschieden wir uns, zunächst einmal hier zu bleiben und den letzten Tag in Slowenien zu genießen. Dafür wurden wir sogar zum zweiten Mal von einem Pfarrer eingeladen. Diesmal bekamen wir wieder einen Raum für den Kommunionsunterricht. Sie schienen wirklich überall gleich zu sein, denn es fühlte sich sofort wieder an wie in Italien. Sogar das Brummen der Lampen war identisch.

Spruch des Tages: Man muss das Eisen schmieden wie sich selbst und seinen Nächsten lieben, solange er warm ist. (Spruch an der Wand im Keller des Pfarrers)

Höhenmeter: 110

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 87451,77 km

Wetter: sonnig, leicht bewölkt

Etappenziel: Pfarrhaus, 8250 Brezice , Slowenien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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