Tag 510: Zurück in die Zivilisation

von Heiko Gärtner
25.05.2015 20:53 Uhr

In nicht einmal mehr zwei Monaten wird Paulina zu uns stoßen. Grund genug um sie schon einmal mit einem kleinen Video willkommen zu heißen:

https://www.youtube.com/watch?v=3l2a3tfQAfA

Nach der kurzen Nacht und dem anstrengenden Tag vielen wir in einen tiefen und festen Schlaf. Ob es in der Nacht noch einmal regnete weiß ich nicht, aber die Feuchtigkeit, die wir selbst mit ins Zelt gebracht hatten, hatte ausgereicht um alles nass zu machen. Die Daunen in den Schlafsäcken waren zu kleinen weißen Knöllchen zusammengefallen, die kaum noch wärmen konnten. Heute Abend wäre ein Platz, an dem wir alles trocknen konnten mal wieder mehr als nur angebracht. Doch bevor wir uns darüber Gedanken machen konnten, mussten wir erst einmal einen Weg hier heraus finden. Unsere Nahrungsvorräte waren nahezu aufgebraucht. Eine weitere Nacht in der Wildnis, ohne dass wir zuvor an einem Dorf vorüber kamen, würde mau aussehen.

Wir schlugen den Weg ein, den Heiko am Abend bereits ausprobiert hatte und standen kurz darauf in der verborgenen Siedlung. Sie wirkte, als wäre sie vor rund zweihundert Jahren stehen geblieben und hätte sich seither nicht mehr verändert. Wie immer der Krieg in Bosnien auch ausgesehen hatte, hierher war er nicht gekommen. Wir waren unsicher, ob diese Menschen hier überhaupt in irgendeiner Statistik auftauchten, ob überhaupt jemand wusste, dass sie hier lebten. Sicher war jedenfalls, dass sie hier vollkommen Autark waren. Das Wasser kam aus dem Felsen und ihr Essen wuchs auf den Feldern, graste auf der Weide oder wurde im Wald geschossen. Wenn unsere Zivilisation unterging oder man einfach keine Lust mehr auf sie hatte, dann konnte man hier definitiv ganz in Ruhe weiterleben.

Aus einem Schornsteine kam leichter Rauch. Die Chancen, jemanden anzutreffen, den man nach Wasser und dem Weg fragen konnte, waren also recht gut. Zu meiner Überraschung hatte das Haus sogar eine Klingel. Und diese funktionierte. Strom gab es also. Klar, es hatten ja auch Stromleitungen vorbeigeführt. Ob sie offiziell ans Netz angeschlossen waren bezweifelten wir zwar noch immer, aber es war sicher nicht allzu schwer, sich etwas Strom abzuzapfen.

Die Tür öffnete sich und eine alte, zahnlose Frau trat heraus. Sie hatte einen Kehlkopftumor, durch den ihr Hals auf eine Größe angeschwollen war, die die ihres Kopfes übertraf. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Hätte sie in Deutschland oder in einem anderen Land mit einem hochentwickelten, medizinischen System gelebt, in dem man ihr eine Diagnose für ihre Krankheit gegeben hätte, dann wäre sie sicher längst tot. Man hätte ihr durch den Voodoo-Zauber der Prognose „Sie haben noch X Monate zu leben“, mit Bestrahlungen und Chemotherapien den Rest gegeben. Aber hier mitten in den Urwäldern Bosniens hatte sie einfach einen geschwollenen Hals, über den sich niemand groß einen Gedanken machte. Wahrscheinlich konnte sie 100 Jahre alt damit werden. Vielleicht war sie es bereits.

Sie erlaubte uns, unsere Flaschen am Brunnen aufzufüllen und deutete auf einen Trampelpfad, der unterhalb des Dorfes nach rechts führte. Donja Becka lag irgendwo auf der anderen Seite des Tals.

Für uns folgte nun der mit abstand abenteuerlichste Abstieg unserer ganzen Reise. Auf einer Strecke von gut vier Kilometern schlugen wir uns mitten durch den Wald. Die Büsche waren vom Regen durchtränkt und gaben ihr Wasser bereitwillig bei jeder Berührung an uns ab. Der Boden war uneben, schlammig und voller versteckter Felsen. Immer wieder gabelte sich der Weg, so dass wir die Wagen abstellen und ohne sie auf Erkundungsreise gehen mussten. Unzählige Male konnte ich meinen Wagen gerade noch in letzter Sekunde vor dem Kippen retten. Drei Mal schaffte ich es nicht und landete mitsamt des Gepäcks im Schlamm. Meine beige kurze Hose war nun so voller Schlamm, dass es aussah, als hätte ich es mit einem fiesen Durchfall nicht mehr rechtzeitig zur Toilette geschafft. Ungünstig, wenn man keine Möglichkeit zum Waschen hat. Immerhin wischte die ständige Nässe das meiste davon wieder weg.

Schließlich erreichten wir eine Baustelle, die hier mitten im Wald errichtet worden war. So wie es aussah gehörte sie zu der anderen Seite der Straße, die gestern mitten im Nichts geendet war. Dummerweise lag sie rund vier Meter unter uns. Unser Trampelpfad endete an einem Steilhang.

„Das ist ungünstig!“ kommentierte Heiko sarkastisch. „Wenn wir Pech haben, müssen wir wieder umkehren!“

Doch ganz so viel Pech hatten wir nicht. Immerhin war der Pfad auch der Zugang für die Leute im Dorf, inklusive der 100jährigen mit dem geschwollenen Hals. Wenn sie hier einen Ausgang gefunden hatten, dann mussten wir doch auch einen finden.

Nach etwas Suchen entdeckten wir eine Stelle, die flach genug war, dass wir die Wagen zu zweit vorsichtig herunterlassen konnten. Dann hatten wir es geschafft. Nach gut zwei Stunden der Zitterpartie, voller schweißtreibender Manöver zwischen Felsvorsprüngen und Abgründen hatten wir nun endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Es war noch immer keine Straße sondern eine schlammige Baustellenzufahrt, doch es fuhren wieder Autos und an dem Ende mit der Sackgasse waren wir bereits. Irgendwie musste es also einen Ausgang geben.

Genau in dem Moment, in dem wir den ersten Fuß auf die Schlammstraße setzten, begann es zu regnen. Kurz ärgerten wir uns darüber, dass es schon wieder losging, doch dann überwog die Dankbarkeit dafür, dass der Regen bis zu diesem Moment gewartet hatte. Es war kein Pech, dass wir nun nass wurden. Es war ein Geschenk, dass der Regen damit gewartet hatte, bis wir in Sicherheit waren. Hätte er uns mitten im Dschungel erwischt, weiß ich nicht, ob wir es daraus geschafft hätten.

Die Baustellenarbeiter waren leider auch nicht viel Hilfreicher als die Dorfbewohner. Ortsangaben waren einfach nicht ihre Stärke. Doch es gab eh nicht viel mehr Möglichkeiten, als der Schlammstraße zu folgen, wo immer sie auch hinführte. Merkwüdig war jedoch die Baustelle selbst. Direkt unter dem Hang, den wir herabgestiegen waren, wurde ein Tunnel gebaut. Er war jedoch zu klein um ein Straßentunnel zu werden. Allenfalls konnte es eine Einbahnstraße oder ein Zugtunnel werden. Doch wo sollte er hinführen? Die Straße auf der anderen Seite war ebenso serpentinig und steil, die es der Trampelpfad auf dieser Seite gewesen war. Warum also baute man einen Tunnel durch den einen Berg, nicht aber durch den anderen? Auch eine vollkommen neue Stromversorgung wurde hier gelegt. Direkt neben die alte. Uns fiel auf, dass die meisten Baufahrzeuge, die es hier gab, eigentlich Militärfahrzeuge waren. Irgendetwas passte hier nicht zusammen. Wir hatten nur keine Ahnung, was es war. Ging es vielleicht um die Aussiedler oben auf dem Berg? Was war, wenn sie der Regierung ein Dorn im Auge waren, weil sie hier lebten, ohne dass sie dem Staat etwas brachten und ohne dass man sie kontrollieren konnte?

Nach gut 5km mündete sie auf eine Teerstraße. Der Regen hatte nun wieder aufgehört und da wir noch nichts gegessen hatten, legten wir unsere erste und einzige Pause des Tages ein. Links von uns lag Donja Becka. Heiko begann damit, die letzten Orangen zu schälen, die wir noch hatten und ich ging die paar Meter bis in den Ort, um dort nach etwas zu Essen zu fragen. Bei einer älteren Dame bekam ich zwei Stücken frisch gebackenen Pflaumenstrudel. Als sie mir den Kuchen anbot, musste ich grinsen. Gestern Abend hatten wir uns darüber unterhalten, dass wir nun seit Kroatien zwar ständig gegen unseren Essensplan verstießen, dabei aber kaum etwas leckeres bekamen.

„Wenn wir schon sündigen,“ hatte ich gemeint, „dann wäre es doch schön wenigstens etwas zu haben, das richtig gut schmeckt und nicht nur trockenes oder labbriges Brot mit billiger Wurst aus Tierabfällen.“

„Stimmt!“ hatte Heiko geantwortet, „Weißt du worauf ich echt mal wieder Lust hätte? Auf einen richtig guten Strudel!“

Jetzt hielt ich ihn in der Hand und er war sogar noch ein bisschen warm. Als ich zu Heiko zurückkehrte, saßen auf der anderen Straßenseite noch drei weitere Wanderer. Sie machten ebenfalls eine Pause, hatten Heiko aber nicht einmal gegrüßt und schienen auch sonst nicht in Plauderlaune zu sein. Kurz bevor wir weiterzogen, brachen auch sie wieder auf und schlugen den Pfad ein, auf dem wir gekommen waren. Ob sie wohl wussten, was sie da erwartete?

Nach unserer Pause folgten wir der Straße nach rechts und kamen wieder in einen Canyon. Die Felsen ragten weit ins Tal hinein und waren eine ideale Kulisse zum Klettern. Auch hier standen einige Häuser, die so malerisch lagen, dass man es sich kaum vorstellen konnte. Eine Frau saß direkt vor ihrer Tür und schaute uns an, als hätte man sie für 70 Jahre nach Guantanamo verbannt. Wussten die Menschen wirklich nicht, was für einen Reichtum sie hier hatten?

Als sich der Canyon wieder öffnete kamen wir an einem Sägewerk vorbei. Es war nur ein kleines Werk, doch die Holzmassen, die hier verarbeitet wurden, sprachen für sich. Die Wälder waren alle staatlich und so wie das Holz aussah, war es für den Export bestimmt. Ging es vielleicht darum? Sollten die Straßen vielleicht gar nicht für die Menschen gebaut werden, sondern um das Land für die Holzindustrie zu erschließen? Ging es vielleicht auch um eine großflächige Abholzung wie in Rumänien und Finnland, damit wir im Sommer grillen und im Winter unsere Öfen anschüren konnten?

Traurig stellten wir fest, das auch mit dem Holz überaus achtlos umgegangen wurde. Es stand ungeschützt im Regen, vieles war schon so durchweicht, dass es zu modern begann. Teilweise waren die Stapel so aufgeschichtet, dass die Bretter dadurch verbogen oder brachen. Riesige Mengen an Bruch- oder Restholz waren aussortiert und auf große Haufen getürmt worden, wo sie verrotteten. Diese Holzabfälle waren einmal lebende Bäume gewesen, die das Land zu dem machten, was es ist. Sie waren es, die dem Land seinen Reichtum schenkten, den niemand erkennen konnte. Hatten sie es da nicht verdient, mit ein bisschen mehr Achtung behandelt zu werden?

Der Himmel zog sich bereits wieder zu und wir beeilten uns, das nächste Dorf zu erreichen. Hier gab es neben vier leerstehenden Gebäuden von der Stadt auch ein Motel. Als ich dort nach Zimmern fragte erklärte man mir jedoch, dass diese nicht mehr vermietet wurden. Englisch sprach niemand und auch mit der Erklärung auf unseren Zetteln kamen wir nicht weiter. Es mochte hier nun wieder Straßen geben, doch die Mentalität hatte sich dadurch nicht verändert. Fremde waren einfach nicht willkommen und man wollte möglichst nichts mit ihnen zu tun haben. Hilfsbereitschaft wurde nicht besonders groß geschrieben.

In einem Laden, in dem ich erfolglos nach etwas zu essen fragte, traf ich ein junges Mädchen, dass versuchte für mich zu übersetzen. Sie schlug vor, dass wir doch ihren Englischlehrer um Hilfe fragen konnten. Nachdem sie mich hingeführt hatte, klingelte ich an seiner Tür.

„Ich muss mich beeilen und schnell nach Hause!“ rief das Mädchen und rannte davon. Der Vater des Lehrers öffnete die Tür. Er bat mich einen Moment zu warten, ging ins Nebenzimmer und sprach mit seinem Sohn. Dann kam er zurück und erklärte: „Mein Sohn schläft, er kann leider nicht mit ihnen sprechen!“

Niedergeschlagen schaute ich zu Boden. Bislang hatten wir hier immer recht gute Erfahrungen gemacht, wenn jemand zumindest schon mal eine Sprache sprach, die wir auch konnten. Doch wenn sich jemand mit einer so faulen Ausrede entschuldigen ließ, obwohl er nicht einmal wusste, worum es überhaupt ging, dann brauchte man wohl nicht auf viel Hilfe zu hoffen.

Heiko hatte in der Zwischenzeit eine junge Frau kennengelernt, die in der nähe klettern war. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs und sprach sogar wirklich gut Englisch. Auf irgendeine Art versuchte sie uns glaube ich wirklich zu helfen, doch letztlich machte sie die Lage nur noch schlimmer, indem sie lange um den heißen Brei herumredete und am Ende doch keine Idee hatte. Dadurch verloren wir genau die wertvollen Minuten, die sich der Regen noch zeitgelassen hatte, bis er von neuem begann. Und diesmal war es eine wahre Sintflut. Im strömenden Regen bauten wir unser Zelt auf einem Sportplatz auf und schafften so schnell es ging alles ins innere. Doch das Zelt war von der letzten Nacht noch immer nass und nun gab es fast nichts mehr, das noch einigermaßen trocken war. Während Heiko versuchte, den Innenraum so gut es ging trockenzulegen und einzurichten, zog ich mit einer Tüte von Haus zu haus und frage nach essen. Zwei Mal bekam ich eine spontane Zusage und ein freundliches Lächeln. Die anderen Male wies man mich sofort ab, wobei es mir hin und wieder gelang, sie doch noch zu etwas Brot oder einem Apfel zu überreden. Doch von der Herzlichkeit die wir in den vergangenen Tagen hin und wieder erlebt hatten und mit der man uns in Slowenien ständig begegnete, war nun nichts mehr zu spüren.

Halb erfroren und vollkommen durchnässt kehrte ich ins Zelt zurück. Im Vorraum zog ich mich splitternackt aus und trocknete mich mit einem klammen Handtuch so gut es ging ab. Dann schlüpfte ich in die trockenen Wechselkleider und hüllte mich in den klammen Schlafsack. Heiko hatte zuvor das gleiche getan und schaute nur noch mit der Nasenspitze daraus hervor. Noch über eine Stunde prasselte der Regen wütend auf unser Zelt ein. Dann ließ er nach und hörte schließlich ganz auf. Bevor er es sich anders überlegen konnte, huschte ich aus dem Zelt in die nächste Baar, um dort das Handy und die Computer wieder zu laden und um diesen Bericht hier zu schreiben. Ich sitze oben im Billardzimmer, das bis auf eine kleine Unterbrechung zum Glück leer ist. Unter mir sitzen rund 15 volltrunkene Männer, die ihr Bier so auf dem Tisch stapeln mussten, dass keine Zwischenräume mehr existieren. Anders hätte der Platz nicht ausgereicht. Gerade ist es halbwegs ruhig aber noch vor wenigen Minuten haben sie sich im Wechsel angeschrien und lauthals miteinander gegrölt. So angenehm die Trockenheit und Wärme hier in der Baar auch ist. Gegen die Idylle und die Friedlichkeit der Natur kommt sie einfach nicht an.

Spruch des Tages: Kann so viel regen wirklich noch natürlich sein?

 

Höhenmeter: 130m

Tagesetappe: 20km

Gesamtstrecke: 9215,77 km

Wetter: Starkregen ohne Pause

Etappenziel: Motel Tetrijeb, Šolaje bb, 70270 Šipovo, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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