Tag 511: Regentage

von Heiko Gärtner
31.05.2015 21:18 Uhr

Montag 25. Mai 2015

Heute ist nun der 5. Tag in Folge, an dem es fast ununterbrochen regnet. Langsam fragen wir uns, wo das viele Wasser her kommt, das da Ständig vom Himmel fällt. Wahrscheinlich ist der Meeresspiegel gerade um einen Meter gesunken, da alles Wasser in den Wolken ist. Doch die Erde scheint hier daran gewöhnt zu sein. In Italien hätte ein zehntel dieses Unwetters ausgereicht, um eine Naturkatastrophe auszulösen. Hier jedoch saugt der Boden alles auf wie ein Schwamm und man sieht nur an wenigen Stellen, dass es seit fast einer Woche durchregnet.

Während ich mich in der Bar dem fiesen Zigarettenrauch und den betrunkenen Einheimischen stellen durfte, hatte Heiko das Vergnügen mit einer Gruppe Jugendlicher, die unser Zelt belagerten. Kaum hatte es für einen Moment zum Regnen aufgehört, schon krochen alle aus ihren Löchern und begannen uns anzustarren. Die Halbstarken versuchten eine ganze Weile Heiko mit irgendwelchen Sprüchen zu nerven, liefen um das Zelt herum und brüsteten sich damit, wer die dreistesten und dümmsten Kommentare in seine Richtung abgeben konnte. Heiko sah das zunächst recht gelassen, schob sich die Ohrenstöpsel in die Gehörgänge und versuchte zu lesen. Doch die Kids wurden immer dreister und schließlich fing einer sogar an, gegen das Zelt zu klopfen und an unseren Schnüren zu ziehen. Das war definitiv eine Grenze, die sie besser nicht überschritten hätten. In Heiko war der Geduldsfaden gerissen. Wenn den Gören langweilig war uns die nichts besseres zu tun hatten, als hier herumzustehen und zu nerven, dann war das eine Sache. Doch sich an unserem Eigentum zu vergreifen, war etwas vollkommen anderes. Heiko sprang in seine Schlappten und stand Sekunden später in Unterhose vor dem Zelt um den Störenfrieden die Hölle heiß zu machen. Mit wütendem Gesicht und fletschenden Zähnen brüllte er los und es spielte keinerlei Rolle mehr, dass die Teenager seine Worte nicht verstanden. Die Botschaft, die er vermitteln wollte war eindeutig und sie wurde verstanden. Die Kids rannten um ihr Leben und tauchten den Rest des Abends auch nicht mehr auf.

Später reflektierten wir noch einmal über die Begegnungen, mit den Menschen in diesem Land. Das Resümee war traurig. Hin und wieder gab es einige Menschen, wie beispielsweise die beiden Mädels aus Novi Grad, den Schlosser aus dem kleinen Dorf oder den Angler, der uns unter seiner Hütte hatte schlafen lassen, die wirkliche Seelen waren und die man sofort in sein Herz schloss. Doch die meisten anderen begegneten uns mit so einer Kälte, dass wir es kaum glauben konnten. In Spanien hatten wir bereits oft das Gefühl gehabt, dass die Menschen einander sterben lassen würden, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch hier waren wir nun in einem wirklich gefährlichen Gebiet. In den Wäldern konnte man schneller verloren gehen, als man bis drei zählen konnte. Es gab kaum Möglichkeiten, sich etwas zum Essen zu kaufen, selbst wenn man Geld hatte. Es regnete seit Tagen und hatte Temperaturen unter 10°C, was bedeutete, dass man bereits erfrieren konnte. Und immer wieder kam es zu heftigen Gewittern, die einem das Blut in den Adern stocken ließen. Hätte man mich zuhause gefragt, wann es wahrscheinlicher ist, dass einem jemand hilft, in so einer Situation oder bei strahlendem Sonnenschein auf einer reifen Obstplantage, dann hätte ich auf jeden Fall auf die Gefahrensituation getippt. Doch leider ist genau das Gegenteil der Fall. Je schlechter die Bedingungen sind, desto weniger kann man auf die Unterstützung von Menschen bauen. Auch in der Früh standen wieder mehrere Leute an den Fenstern oder in ihren Türen und starrten uns an, ohne auch nur zu grüßen. In Italien hatten sie uns wenigstens einen Kaffee angeboten.

Wäre mein T-Shirt nicht bereits in der Früh beim Anziehen komplett nass gewesen, wäre es in der ersten Viertelstunde durchgeweicht. Es hörte einfach nicht auf. Zum Glück führte uns unser Weg heute konstant auf einer geteerten Straße entlang, so dass wir weder navigieren noch uns irgendwo durchs Unterholz schlagen mussten. Entlang der Straße bekamen wir einige Angebote für Schlafplätze. Hier stand eine verlassene Garage, dort ein halb verfallenes Überdach. Doch nichts schien wirklich funktional zu sein. Schließlich kamen wir an einen Fluss, der bereits weit über seine Ufer getreten war. Er wirkte, als wollte er noch weiter ansteigen und versaute uns somit die Partie in Bezug auf eine kleine Anglerhütte. Sie war bis auf eine Türöffnung rings herum geschlossen und groß genug, um unser Zelt darin aufbauen zu können. Doch sie lag gerade einmal rund 40cm über dem Wasserspiegel und die Fluten rauschten mit einer Geschwindigkeit von gut 50km ins Tal hinunter. Es war also zu riskant, darauf zu spekulieren, dass wir hier nicht überflutet wurden.

Einige hundert Meter weiter kamen wir dann jedoch bereits an den Rand von Šipovo und eines der ersten Häuser war das Motel Tetrijeb. Hier bekamen wir vom Besitzer dank der freundlichen Übersetzung seiner Tochter die Zusage für ein Zimmer. Unser Schlafquartier befand sich im obersten Stock. Selbst wenn es heute also noch eine richtige Überschwemmung geben sollte, dann sind wir hier wohl an dem einzigen Ort, der wirklich sicher ist. Als wir in unserem Zimmer alleine waren, freuten wir uns über nichts mehr, als aus den nassen Klamotten herauszukommen, sie zum Trocknen aufhängen zu können und uns unter die heiße Dusche zu stellen. Mit etwas Glück können wir so genug trocknen, um uns für den morgigen, prophezeiten Regentag wieder neu zu wappnen.

Dienstag, 26. Mai 2015

Tatsächlich hatten wir heute sogar etwas mehr Glück, als der Wetterbericht hätte vermuten lassen. Es nieselte zwar immer mal wieder eine Weile, doch im Vergleich zu den letzten Tagen konnte man das schon als absolute Trockenheit durchgehen lassen. Leider galt das nicht für unsere Kleidung und auch nicht für unsere Schuhe. Ein bisschen trockener als am Vortag mochten sie geworden sein, doch sie waren noch immer kalt und nass. Es fühlte sich ein bisschen so an, wie wenn man am Badesee nach einer längeren Sonnenpause wieder in die nasse Badehose schlüpft. Nur ohne Sonne und dass alles Nass war. Angefangen von der Unterhose, über das T-Shirt und die Regenjacke bis hin zu Socken, Schuhen und Hose. Wenn es der Raum nicht geschafft hatte, die Kleider zum Trocknen zu bringen, dann musste es nun wohl unsere Körperwärme schaffen.

Mit dem schlechten Wetter schwand auch die schlechte Laune der Menschen wieder ein bisschen. In der Früh wurden wir von den Besitzern eines kleinen Supermarktes gleich mit Obst, Gemüse, Erdnüssen und Chips für zwei Tage ausgerüstet. Dann gelangten wir in ein langgezogenes Tal, das sich immer weiter zu einem Canyon verengte, bis links und rechts von uns die steilen Felswände zweihundert Meter in die Höhe ragten. Links von uns tobten die Wassermassen in einem reißenden Wildwasserfluss ins Tal hinunter. Hier mit einem Rafting-Boot entlangzufahren musste wirklich Spaß machen. Immer wieder blieben wir stehen und stellten uns die Szenarien vor. Ungefährlich wäre es nicht, aber spaßig.

Kurz bevor sich die Straße die Felshänge emporzuwinden begann, kamen wir an einem kleinen Restaurant vorbei, in dem wir ein spätes Frühstück oder frühes Mittagessen bekamen. Es brannte sogar ein Kamin, vor dem wir uns ein bisschen wärmen konnten. Am liebsten hätten wir unsere Schuhe ausgezogen und direkt vors Feuer gestellt, doch der Gestank hätte unsere Gastgeber sicher getötet. Wenn es eine Sache gibt, die auf der Welt wirklich unangenehm riecht, dann sind es trockengelaufene Schuhe.

Am Ende des Canyons deutete ein Wegweiser links in eine kleine Nebenstraße, auf dem ein Bild mit einigen Wasserfällen zu sehen war. Er führte die komplette Steigung, die wir bereits nach oben gegangen waren wieder hinunter, sah aber irgendwie einladend aus. Daher ließen wir unsere Wagen stehen und riskierten einen Blick hinab. Zunächst kamen wir an ein paar freilaufenden Hühnern vorbei. Also an wirklich freilaufenden, nicht diese gefakete Art der Freilandhaltung, wie sie immer auf den Eierkartons steht. Dann kamen wir zu einem der faszinierendsten Plätze, die wir auf der ganzen Reise gesehen hatten. Der Fluss hatte sich hier mehrfach geteilt und lief über lauter kleine Terrassen und Wasserfälle, die alle irgendwie mit einander verbunden waren. Mitten in dieses Schauspiel hatte man lauter kleine Hütten, Wassermühlen und Häuschen gebaut, die man als Feriendomizil mieten konnte. Normalerweise waren die Wasserläufe hier nur kleine, sanfte Bächlein, doch durch die Sintflut der letzten Tage hatten sie sich in brodelnde und tobende Naturgewalten verwandelt. Es war wunderschön, gleichzeitig aber auch so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte.

Nach dem wir unsere Wagen wieder erreicht hatten, begann der eigentlich Aufstieg. Auf den kommenden 8km galt es mehr als 350 Höhenmeter zu überwinden. Das, was wir bislang durch unsere Körperwärme hatten trocknen können, wurde nun durch unseren Schweiß wieder komplett nass. Irgendwann waren wir so kaputt, dass wir sogar von einer Kuh überholt wurden, die hier ebenso frei herumlief, wie die Hühner.

Nach 15km erreichten wir das kleine Dorf Strojice. Zum ersten Mal in Bosnien trafen wir hier einen Pfarrer an und dazu noch einen sehr netten und freundlichen. Es ist wirklich spannend, wie schnell man manchmal erkennen kann, ob ein Mensch freundlich ist, oder nicht. Bei diesem hier reichte ein einziger Blick und es war sofort klar, dass er uns helfen würde. So war es auch. Wir bekamen ein Holzhaus, das erst ganz neu gebaut worden aber noch nicht ganz fertig gestellt war. Um es wirklich zu vollenden fehlte das Geld. Wir hatten auf jeden Fall genug Platz, um alles zum Trocknen auszubreiten. Strom und Wasser gab es nicht, doch zumindest den Strom konnten wir uns von einer Straßenlaterne abzapfen.

Spruch des Tages: Danke Regen, es war nett dass du da warst, aber langsam darf gerne auch die Sonne mal wieder vorbeischauen.

 

Höhenmeter: 420m

Tagesetappe: 15km

Gesamtstrecke: 9230,77 km

Wetter: Bewölkt mit leichtem Nieselregen

Etappenziel: Gemeindehaus, Strojice, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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