Tag 520: Rosenkäfer

von Heiko Gärtner
08.06.2015 01:04 Uhr

Plötzlich begann es zu regnen. Wir konnten es nicht glauben, obwohl wir es sahen. Die Sonne brannte vom Himmel, Wolken waren fast nicht zu sehen und trotzdem prasselten dicke Tropfen auf uns herab. Schnell sprangen wir auf und stellten all unsere Sachen in der kleinen Hütte unter. Dann hörte es wieder auf, nur um wenig später neu zu beginnen. Das ganze Spiel geschah noch drei oder vier mal und einmal donnerte es dabei sogar. Der Jäger, der uns zuvor mit Essen versorgt hatte, kam wieder an uns vorbei, zeigte auf das Wetter und machte dabei eine Grimasse, die verdeutlichte, dass er ebenso irritiert war, wie wir.

Als es wieder einmal trocken wurde, bekamen wir Besuch von einigen Rosenkäfern. Wir hatten die kleinen Tierchen mit dem metallic grünen Panzer bereits auf der Wanderung schon etliche Male gesehen, ebenso wie die vielen Maikäfer, die teilweise in solchen Mengen in den Büschen saßen, dass man sie für deren Früchte halten konnten. Jetzt machten sie es sich auf unserem Tisch und manchmal auch in unseren Haaren gemütlich. Besonders begeistert waren sie jedoch, als sie unser Brot entdeckten. Einer von ihnen krabbelte eine Weile darauf herum, bis er eine Stelle in der Mitte gefunden hatte, die ihm besonders gut gefiel. Dann steckte er seinen Kopf hinein und begann damit, sich ins Innere des Brotes durchzufressen. Es dauerte gut eine halbe Stunde, bis der Käfer nicht mehr zu sehen war. Vorsichtig schüttelten wir das Brot ein wenig, so dass die Krümel aus dem Loch herausfielen und schon kam der Hintern des Käfers wieder zum Vorschein. Als wir später noch einmal etwas essen wollten, achteten wir darauf, dass wir sorgsam um den Käfer und seine Höhle herumschnitten, um ihn nicht zu verletzen. Am Abend hatte er sich dann bis in die Mitte des noch vorhandenen Brotstückes durchgearbeitet.

Kurz bevor es dunkel wurde begannen wir damit, unser Zelt unter dem Dachüberstand aufzubauen. So konnten wir sicher gehen, dass wir es am Morgen nicht wieder nass einpacken mussten und hatten trotzdem Schutz vor Mücken und Wind. Da der Untergrund unter dem Dach aus Beton bestand, konnten wir keine Heringe in den Boden schlagen, sondern mussten das Zelt mit Schnüren und Steinen befestigen. Heiko nahm einen großen Ziegelstein, der in einer Ecke des Unterstandes lag, um ihn an die Stelle zu tragen, an der wir ihn brauchten. Plötzlich aber ließ er ihn wieder fallen und schnellte zurück.

„Was ist los?“ fragte ich erschrocken.

„Ein Skorpion!“ rief er, „da saß wirklich ein Skorpion in dem Stein! Ich hätte nicht gedacht, dass es die hier gibt.“

Das kleine Zangentier hatte sich in Sekundenschnelle wieder in sein Versteck zurückgezogen, doch Heiko hatte ihn lange genug gesehen um zu erkennen, dass er einen relativ kleinen Schwanz und relativ große Scheren hatte. Tendenziell also eher eine ungefährliche Sorte. Trotzdem achteten wir in dieser Nacht ganz besonders darauf, dass wir das Zelt richtig verschlossen.

Der Jäger hatte einen sehr freundlichen und hilfsbereiten Eindruck gemacht und so beschlossen wir, ihn noch einmal aufzusuchen und ihn um Wasser und Strom, sowie um die Benutzung seiner Küche zu bitten, damit wir unseren Reis zubereiten konnten. Er wirkte leicht überrascht, als ich an seiner Tür klingelte, doch er schien sich auch über die unerwartete Ablenkung zu freuen. Die alternative Abendbeschäftigung, bei der ich ihn unterbrach hatte aus Fernsehschauen und Biertrinken bestanden, also aus nichts, das man nicht auch am nächsten Abend noch nachholen konnte.

Unsere Verständigung bestand noch immer fast nur aus Pantomime und Worten, die der jeweils andere nicht verstand. Dafür aber verstanden wir uns prächtig. Ich deutete auf meinen Wasserbeutel, sagte „Voda?“ – „Wasser?“ und er nickte und bedeutete mir mitzukommen. Dann holte er einen Trichter und einen Eimer, den er in einen Brunnen tauchte. Anschließend füllten wir meinen Wasserbeutel. Als ich mir den Brunnen jedoch noch einmal genauer anschaute, stellte ich fest, dass es kein richtiger Brunnen, sondern ein Auffangtank für Regenwasser war. Für die Menschen hier, die daran gewöhnt waren, machte das natürlich keinen Unterschied, doch für uns war es durchaus nicht ganz ungefährlich das Wasser zu trinken. Es war im Moment immerhin tagsüber schon mächtig warm und wir hatten keine Ahnung, welche kleinen Lebewesen es sich in dem Wasser gemütlich gemacht hatten. Natürlich war die Infektionstheorie nichts als Humbug, aber das hieß nicht, dass es nicht trotzdem Parasiten und andere Kleinstlebewesen gab, die einem zumindest einen ordentlichen Durchfall bereiten konnten. Wir beschlossen daher später, das Wasser vorsorglich noch einmal zu entkeimen. Sicher ist sicher.

Doch zunächst einmal kümmerte ich mich gemeinsam mit dem Hausherren um unser Abendessen und um frischen Saft für unsere Elektrogeräte. Der Strom reichte hier gerade so eben aus, um alles einigermaßen am Laufen zu halten. Als wir die kleine Herdplatte einschalteten, wurde damit automatisch das Licht schwächer. Als dann noch die Ladegeräte für die Laptops hinzu kamen, wurde es ein weiteres Mal dunkler. Mehr hätten wir nun wirklich nicht anschließen dürfen.

Das Haus des Jägers bestand, soweit ich es erkennen konnte, nur aus dem Eingangsbereich, einem Schlafzimmer im Obergeschoss, einer Abstellkammer und dem Wohnzimmer, in dem wir uns befanden. Die Küche war ein alter Holzofen, auf den er eine Elektroherdplatte gestellt hatte. Eigentlich waren es zwei Platten, aber die eine funktionierte nicht. An Gewürzen gab es Pfeffer, Salz und Paprika, sowie einen Glutamatstreuer, von dem ich mich lieber fern hielt. Im Fernsehen lief nebenbei eine Dokumentation über die Nazi-Zeit in Deutschland, was der ganzen Situation irgendwie etwas skurriles verlieh. Der Sprecher erklärte im typischen Geschichts-Doku-Ton den wohl alle Sprecher in allen Sprachen bei solchen Reportagen verwenden. Dazwischen kamen dann immer wieder Originalreden, in denen Hitler seine Kriegseuphorie zum Besten gab und anschließend ins Kroatische übersetzt wurde.

Da ich weder Bier noch Slivovic (oder wie immer man ihn schreibt) wollte, bot er mir selbstgemachten Honig an, den er stolz präsentierte. Zu Recht, denn er war wirklich gut.

Schließlich kehrte ich mit vollen Akkus und voller Essensbox in unser Lager zurück, wo wir uns über das Abendessen stürzten. Der Wind hatte nun etwas aufgefrischt und plötzlich war ein lautes, permanentes Rauschen zu hören, das wir uns erst nicht erklären konnten. Dann wurde uns klar, dass es von den Windrädern herrührte, die gut zwei Kilometer weiter auf dem Bergkamm standen. Wir hatten schon oft gehört, dass sie für die Menschen in ihrer Nähe unangenehm laut sein sollten, doch dass es so krass war, das war uns bislang nicht klar gewesen. Eine Autobahn in gleicher Entfernung hätte nicht mehr Lärm machen können.

Nach den doch recht kurzen und unruhigen Nächten in der letzten Zeit schliefen wir heute einmal wieder richtig aus. Dann brachen wir auf und wanderten die 11km bis nach Grab. Der Weg war ebenso schön wie an den vorherigen Tagen, jedoch so steinig, dass es schwierig war, auf ihm zu gehen, ohne sich die Füße zu verknacksen. Umso mehr waren wir froh, dass wir von pedag die guten Einlagen bekommen hatten, die die spitzen Steine davon abhielten, sich zu sehr in unsere Füße zu drücken und Heikos Hühneraugen zu malträtieren. Eines musste man ihnen lassen, auch nach nun gut 2000km hatten sie noch nichts von ihrer Polsterung verloren.

In Grab bekamen wir dann einen Platz beim Pfarrer. Er war nicht allzu leicht zu finden und deshalb mussten wir uns ein paar Mal im Grab umdrehen, bis wir den Weg zur Kirche entdeckten. Gästezimmer oder Pilgerherbergen scheint es hier nicht zu geben, was es für Pilger, die nicht ganz so abenteuerlich unterwegs sind wie wir, etwas schwierig macht. Der Pfarrer ist zwar ein netter Kerl, doch die Räumlichkeiten, die er den Wanderern zur Verfügung stellt, gleichen eher einer Abstellkammer für Sondermüll, als einem Schlafplatz. Ihr kennt sicher diese Filme über alte Spukhäuser, in denen die Spinnenweben von der Decke hängen und in denen die Geister der brutal ermordeten Vorbesitzer ihr Unwesen treiben, weil ihre Seelen den Ort nicht verlassen können. Ungefähr so sah es hier auch aus, nur ohne die Geister, denn die zogen es definitiv vor, gegenüber auf dem Friedhof abzuhängen, als hier in diesen Räumen. So ein Geist hat schließlich auch seine Würde.

Wir hielten es übrigens ähnlich wie die Geister und schlugen unser Nachtlager zwar nicht auf dem Friedhof, aber unten im Flur auf. Dort war es zwar eng und nachdem wir unsere Matten ausgebreitet hatten konnte man die Tür nicht mehr öffnen, dafür war es aber wenigstens sauber. Zum Arbeiten zogen wir es dann aber wirklich vor, uns an die Friedhofsmauer zu lehnen und das gute Wetter zu genießen.

Später kam der Pfarrer noch einmal vorbei und fragte, ob wir etwas zum Essen brauchten. Alle Läden hatten geschlossen und das einzige Restaurant wollte uns nichts geben, deshalb waren wir dem Angebot nicht abgeneigt. Er bat uns in sein Auto einzusteigen und fuhr mit uns zu einem Restaurant außerhalb der Stadt. Hier bestellte er uns eine überdimensionierte Grillplatte mit Pommes und Salat und fuhr dann wieder zurück nach Hause.

„Den Weg kennt ihr ja!“ meinte er nur und verschwand.

Das Essen war super, nur die Sache mit dem Heimweg kam etwas überraschend. Wenn er zuvor einen Ton darüber gesagt hätte, hätten wir vielleicht nicht unsere Laptops mitgeschleppt und wir wären sicher auch nicht ohne Schuhe und nur mit Hausschlappen aufgebrochen.

„Hättest du gedacht, dass heute noch so ein Schlemmertag wird?“ fragte ich Heiko, als der Kellner die Grillplatte vor uns abgestellt hatte.

„Nein, aber ich hätte auch nicht gedacht, dass ich mir heute noch so viel Volksmusik reinziehen würde“, antwortete er mit einem Blick in Richtung der Lautsprecher, aus denen ein merkwürdiges, kroatisches Gedudel kam, das ein bisschen nach den Lauten von Klageweibern am Grabe eines Kaisers klang. „Und ich hätte auch nicht gedacht, dass wir heute noch einmal 2km in Badeschlappen wandern würden!“ fügte er hinzu.

Spruch des Tages: Man findet immer dort besonders viel Chaos, wo man nach Ordnung sucht. Das Chaos besiegt die Ordnung, weil es besser organisiert ist.

(Terry Pratchett)

Höhenmeter: 90m

Tagesetappe: 11km

Gesamtstrecke: 9392,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Abstellkammerähnliches Gemeindehaus, 21242 Grab, Kroatien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare