Tag 521: Sinj

von Heiko Gärtner
08.06.2015 01:24 Uhr

Die deutsche Genauigkeit in der Baukunst findet man wie es aussieht wirklich vor allem in Deutschland. Hier wird es damit nicht allzu eng genommen und so entstehen auch schon mal Spaltmaße von 2 Zentimetern unter einer Tür. Genug Platz, damit im Winter kalter Wind hereinwehen kann. Jetzt im Sommer hätten wir uns darüber sogar vielleicht ein bisschen gefreut. Doch Wind kam nicht. Dafür kamen die verschiedensten Besucher, die bei unserem Videoabend dabei sein wollten. Zunächst waren es einige Spinnen, die auf ein Pläuschchen vorbeischauten, dann ein blauer Riesenkäfer und schließlich ein Miniskorpion. Letzter hielt sich aber zum Glück bedeckt, so dass wir ihn erst am nächsten Morgen entdeckten. Sonst hätten wir wahrscheinlich nicht so ruhig schlafen können. Tagsüber, wenn man weiß wo sie sitzen und wenn man sie in Ruhe beobachten kann, sind es wirklich faszinierende Tiere. Aber wenn sie nachts in deinen Schlafsack krabbeln oder über dein Kopfkissen huschen, dann können sie einem schon einen kalten Schauer über den Rücken jagen.

Der restliche Weg nach Sinj führte uns wieder über Felder und Wiesen, diesmal durch relativ flaches Land. Auf etwa halber Strecke kamen wir durch den Ort Otok. Hier machten wir eine kleine Pause und fragten bei einer ansässigen Familie nach etwas zum Essen. Die beiden luden uns auf ihre Terrasse ein und die Frau machte uns Brot mit Wurst und Schinken, sowie ein Omelette. Aus irgendeinem Grund wirkte sie recht verschüchtert und verängstigt, ein bisschen so als würde sie häufig geschlagen oder misshandelt. Doch ihr Mann war sicher nicht der Grund dafür, denn er war ein Kerl, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte.

Die beiden Besaßen eine große Voliere, direkt im hinteren Teil der Terrasse, in dem sie sich rund 20 Wellensittiche und Kanarienvögel hielten. Die Hälfte von ihnen waren Jungvögel und drei waren gerade erst frisch geschlüpft. Auf der einen Seite hatte es natürlich etwas, die Vögel so nah beobachten zu können, auf der anderen Seite machten sie aber auch einen Radau, dass man sich kaum noch unterhalten konnte. Sie verhielten sich genau wie die Hunde, die man in enge Zwinger steckte, oder auch wie Menschen, die auf engem Raum zusammengepfercht werden.

Sinj selbst erwies sich als nicht allzu spektakulär und ist nicht gerade ein würdiges Pilgerziel für so einen schönen Weg. Der Großteil der Stadt besteht aus den gleichen praktischen Wohnblöcken, die in der UdSSR so beliebt waren und die diesem typischen Ost-Block-Charme verbreiten, der überall auf der Welt berühmt ist. Im Zentrum steht ein Kloster mit einer Kathedrale darin. Sie ist nicht übermäßig beeindruckend und auch nicht hässlich. Eben eine Kathedrale. Links vom Altar hängt hier ein kleines Bild von Mutter Maria, das in Gold eingefasst ist. Dieses Bild ist der Grund für die Berühmtheit von Sinj und für ihren Status als Pilgerziel. Das Bild hing ursprünglich in einer Kirche in Rama-Šcit, einer kleinen Stadt in Bosnien, die nun das andere Ende des Pilgerweges markiert. Vor vielen Jahrhunderten kam es in jener Kirche zu einem Brand, der alles zerstörte, bis auf dieses Marien-Bild. Die Menschen waren überzeugt, dass es von Gott gerettet worden sein musste und dass es sich bei dieser Rettung um ein Wunder handelte. Seither sprach man ihm daher eine besondere Heiligkeit zu. Als dann später die Türken in Bosnien einfielen, rettete man das Bild nach Sinj. Vor einer großen Schlacht, bei dem die winzige slawische Armee mit 300 Mann rund 30.000 Türkischen Soldaten gegenüberstand, erschien den Einheimischen am Himmel die Mutter Maria, genau so, wie sie auf dem Bild zu sehen war. Sie sprach den Soldaten Kraft zu und angeblich soll sie auch so etwas gesagt haben wie: „Macht sie Platt Jungs! Ihr packt dass!“ Ich bin allerdings Unsicher, ob Maria in einer solchen Situation wirklich Partei ergriffen hätte. Wie dem auch sei, die Soldaten waren so voller Mut und Tatendrang, dass sie die unmögliche Schlacht gegen die absolut unvorstellbare Übermacht tatsächlich gewannen. Danach wollte Sinj das Bild nicht mehr zurückgeben und seither hängt es hier in der Kirche.

Gerade als ich die Kirche das erste Mal erreichte, um hier nach einem Pfarrer zu suchen, wurde direkt vor den Kirchentoren eine Filmszene gedreht. Ich unterhielt mich mit einer jungen Frau namens Mira, die dafür Zuständig war, auf das Pferd achtzugeben, das für die Szene bunt geschmückt vor dem Kirchenportal auf und abtraben musste. Auf dem Pferd saß ein Reiter, der ebenso bunt geschmückt war und eine lange Lanze in der Hand trug. Obwohl die junge Dame direkt am Dreh beteiligt war, war sie noch nicht auf die Idee gekommen zu fragen was hier eigentlich gedreht wurde. Sie vermutete, dass es vielleicht ein Musikvideo werden würde, aber mehr wusste sie nicht. Anhand der Verkleidung des Pferdes und des Reiters würde ich jedoch vermuten, dass es mit der anstehenden Dreihundertjahrfeier jener gewonnenen Schlacht zu tun hat. Denn die Legende geht noch ein bisschen weiter, wie wir von einem anderen Mann erfuhren.

In jener großen Schlacht, soll der Hauptmann der Türken eine Rüstung getragen haben, auf der ein Ring in der Mitte der Brust abgebildet war. Einer der kroatischen Reiter nahm einen Speer und schleuderte ihn direkt in die Mitte dieses Ringes. Daraufhin waren die Türken ohne Anführer und zogen sich zurück. Diesem gezielten Wurf wird bis heute in einem Spiel gedacht, dass hier in der Region zu solchen Veranstaltungen immer wieder gerne gespielt wird. Dabei geht es darum, dass die Teilnehmer vom Pferd aus mit einem Speer die Mitte eben jenes Ringes treffen, der einst auf der Brust des Türken war. Heute hängt dieser Ring dabei jedoch in der Luft und es befindet sich kein Mensch mehr dahinter, wodurch das Sterberisiko drastisch reduziert wird. Bei diesem Spiel tragen die Teilnehmer die gleichen bunten Gewänder, wie der Reiter, der hier vor der Kirche gefilmt wurde.

Außer dem Filmteam war auch ein Mönch anwesend, den ich nach einem Schlafplatz fragen wollte. Da er kein Englisch sprach, übersetzte Mira für mich. Der Mönch war sicher, dass es kein Problem sein dürfte, doch er selbst konnte nicht das absolute Ja-Wort geben, da sein Obermönch nicht anwesend und telefonisch auch nicht erreichbar war.

Wir konnten jedoch unsere Sachen im Kloster stehen lassen, uns die Stadt in Ruhe ansehen und später noch einmal wiederkommen um mit dem Superior persönlich zu sprechen. Als wir die Wagen unterstellten kamen wir auch an der Küche vorbei, wo uns die Köchin schon mal mit etwas Obst versorgte und meinte: „Wir sehen uns sicher später, denn wenn der Chef da ist und ihr hier übernachtet, dann werden wir euch noch ein richtiges Abendessen kochen.

Den Nachmittag verbrachten wir dann damit, auf den Kreuzberg emporzusteigen, die verschiedenen Parks zu durchschlendern und die wenigen Gassen der Innenstadt zu inspizieren. Viel Erwähnenswertes gab es dabei nicht. Nur die Aussicht oben vom Kreuzberg neben der kleinen Kapelle hinunter auf die Stadt und auf das ganze Tal, die ist absolut beeindruckend. Man merkt, dass der Ort als Pilgerziel noch immer im Aufbau ist und es wird noch einiges getan. Mit etwas Glück, wird in ein paar Jahren ja sogar ein echtes Pilgerziel daraus.

Gegen 17:00 Uhr kehrten wir wie vereinbart zum Kloster zurück. Dann wurden wir jedoch noch einmal um eine komplette Stunde vertröstet, bis sich der Superior wirklich blicken lies. Er traf sich mit uns auf einer Bank vor dem Kloster. Links von uns poste gerade eine Hochzeitsgemeinschaft vor der Marienstatue während ein alter Mann auf einer Ziehharmonika spielte und gemeinsam mit einer Fangemeinde laut und schief dazu grölte.

Der Superior lehnte sich selbstgefällig zurück und wirkte wie jemand, der einem Diener eine Audienz gab, ohne dass er auch nur das geringste Interesse daran hatte, was dieser ihm mitteilen wollte. Am Ende entschuldigte er sich und teilte mit, dass dieses Kloster leider keine Plätze für Reisende hatte. Es sei eine reine Klausur, also ein geschlossener Bereich nur für die einheimischen Mönche und die Pfarrersanwerter, die hier zur Schule gingen. Er könne da nichts für uns tun.

Wir waren kurz davor, wieder eine längere Diskussion über den Auftrag der Kirche mit ihm zu beginnen, sahen aber ein, dass es keinen Zweck hatte. Dennoch schaffte ich es nicht so bald, den Groll über den Mann wieder loszulassen. Es war gar nicht so sehr, dass er uns nicht aufnehmen wollte, sondern viel mehr die Dreistigkeit uns eine Stunde warten zu lassen und uns dann mit dieser Arroganz und dieser Genugtuung abzusagen, wobei er sich selbst noch als Wohltäter hinstellen wollte. Gleichzeitig verstanden wir auch seine Beweggründe nicht. Das Kloster profitierte ja von dem neuen Pilgerweg, der hier gerade entstand und wir hatten ihm angeboten, ihn bei der Bekanntwerdung des Weges zu unterstützen. Doch daran hatte er offensichtlich kein Interesse. Es ist wirklich schade, dass ein so schöner Pilgerweg seine Wanderer am Ende so schlecht empfängt. Die einzige Alternative hier in der Stadt ist ein Hotel, das uns aber auch nicht aufnehmen wollte und das auch nicht im Geringsten auf Pilger ausgelegt ist.

Wir kehrten der Stadt also den Rücken und zogen weiter in Richtung Küste. Da es Freitag Abend war, konnten wir nicht einfach so zwischen den Häusern zelten, denn das war aufgrund von betrunkenen Partygängern am Wochenende einfach zu gefährlich. Hinter der Stadt führte der Pilgerweg nun aber wieder an der Hauptstraße entlang und das in einem Gebiet, in dem es nun keine ebene Stelle mehr gab. Erst nach gut 7km kamen wir in ein verlassenes Industriegebiet, in dem wir uns einen Zeltplatz hinter einer Fabrikhalle suchen konnten, die den Straßenlärm etwas abschirmte.

Spruch des Tages: Zum Glück ist der Weg das Ziel, denn wenn das Ziel das Ziel wäre, würde sich der Weg dahin oft nicht lohnen.

 

Höhenmeter: 40m

Tagesetappe: 28 km

Gesamtstrecke: 9420,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: lehmiger Erdplatz hinter einer halbfertigen Fabrikhalle, 7km hinter 21230 Sinj, Kroatien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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