Tag 522: Das Thema mit der Küste

von Heiko Gärtner
08.06.2015 01:38 Uhr

Es war ungefähr 7:00 Uhr in der Früh, als die Sonne unser Zelt in einen Backofen verwandelte. Noch ehe wir erwachten, waren wir bereits gegrillt wie zwei Hühnchen im eigenen Saft. Unsere Kraft reichte gerade aus, um das Zelt zu öffnen und dann erschöpft liegen zu bleiben und bis um kurz nach 8:00 Uhr weiter zu dösen. Unsere Wasservorräte waren nahezu erschöpft. Das meiste hatten wir am Vorabend bereits auf dem Weg hierher verbraucht, ein Teil ging beim Reiskochen drauf und ein weiterer Teil verschwand in der Nacht in unseren ausgedörrten Kehlen. Nun hatte jeder von uns gerade noch eine halbe Flasche und die nächste Stadt lag noch 5km von uns entfernt. Die Sonne brannte auf unsere Köpfe als wollte sie uns zu Boden werfen. Sogar unsere Packsäcke waren schon ganz weich und die Wagengriffe waren so heiß, dass wir sie kaum anfassen konnten. Seit wir Sinj verlassen hatten, wurde der Pilgerweg leider konstant schlechter. Er war noch immer schön und weitgehend auch gut ausgeschildert. Doch die Wege ähnelten nun immer mehr einfachen Geröllfeldern und hin und wieder kamen wir an Stellen, an denen es keine Wegmarkierung mehr gab. Die erste davon befand sich gleich in unserem Industriegebiet, so dass wir uns in dieser Affenhitze gleich als aller erstes einmal verliefen. Doch was sich zunächst wie ein Fluch anfühlte erwies sich plötzlich als Segen. Denn vor uns tauchte eine Firma auf, die tatsächlich noch in Betrieb war. Hier konnten wir unsere Wasservorräte auffüllen und uns damit bereit machen für die Etappe bis in die nächste Ortschaft. Anschließend entdeckten wir dann auch unseren Weg wieder. Die Wegweiser waren nicht verschwunden, sie hatten nur nicht auf einen der beiden Wege gezeigt, sondern auf das Dickicht dazwischen. Wenn man sich hier durchschlug kam man tatsächlich wieder von Wegweiser zu Wegweiser und nach einiger Zeit erschien auch wieder so etwas wie ein Weg. Als man diesen Teil der Strecke neue gemacht hatte, war hier sicher alles ausgeschnitten worden, doch das Pflanzenvolk holte sich sein Territorium wieder zurück und damit wurde der Weg immer mehr unter hohen Gräsern begraben. Dies ist das Problem, das entsteht, wenn ein Weg wie dieser einmal mit europäischen Fördergeldern aufgezogen, anschließend aber nicht mehr gepflegt wird.

Wie sich herausstellte handelte es sich bei der nächsten Ortschaft auch wieder in erster Linie um ein Industriegebiet, das an der Schnellstraße lag. Wirklich einladend sah es daher nicht aus. Wir setzten unseren Weg ohne Pause fort und kamen bald auf einen ehemaligen Bahndamm. In Frankreich, Italien und Spanien waren dies häufig die besten Wege gewesen, da sie sich schön gerade durch die Landschaft zogen. Hier jedoch hatte man einfach nur die Schienen und die Bahnschwellen entfernt, so dass man sich nun über den groben, holprigen Bahnkies schlagen musste. Besonders angenehm war das leider nicht.

Schließlich endete der Bahndamm und es ging wieder einmal einen steilen Abhang hinauf. Das letzte Wasser, das in unseren Körpern noch enthalten war schoss nun durch jede Pore, als würde es einen Preis dafür gewinnen. Oben kamen wir an eine kleine Wanderhütte, wo wir uns von der Anstrengung erholen konnten. Mein T-Shirt war nun so nass, dass ich es auswringen konnte. Galant wie zwei frisch erschossene Gazellen ließen wir uns auf die Bänke fallen und schliefen nach wenigen Minuten ein. Die Nächte im Zelt und in der Hitze zerrten doch mehr, als wir es vermutet hatten.

Erst nach etwas über einer Stunde zogen wir weiter bis in die nächste Stadt. Die Kirche strahlte uns bereits von weitem entgegen, doch als wir ankamen fanden wir sie einsam und verlassen vor. Räumlichkeiten zum Übernachten gab es hier genug, aber niemanden, der und die Türen öffnen konnte. Die Stadt selbst bestand wie die letzte fast ausschließlich aus großen Industriehallen, sowie einem Metro-Superstore und einige andere Großmärkte. Früher musste es einmal ein richtig schönes Bergdorf gewesen sein, doch der Handelshafen von Split und die Autobahn hatten es in einen kalten, ungemütlichen Umschlagplatz verwandelt. Das einzige Hotel, das es hier gab wollte uns nicht aufnehmen und die vielen kleinen Apartments waren bereits mit den Arbeitern ausgebucht, die hier für den Bau von noch mehr Industriehallen beschäftigt waren. Wir zogen also weiter und wurden von unserem Weg nun an der Autobahn entlang geführt, bis kurz vor die kleine Ortschaft Klis. Hier gaben die Berge zum ersten Mal den Blick auf das Meer frei. Es war ein überwältigender Anblick! Weit unter uns lag die Stadt Split mit ihren Hochhäusern auf einer Halbinsel, davor schoben sich die rauen Felswände und im Hintergrund auf dem Meer sah man die Inseln, die der Küste vorgelagert sind. Klis selbst ist ein kleiner Ort, der um einen der Berggipfel herumgebaut wurde. Auf dem Gipfel des Berges stehen noch immer die Ruinen einer einst stolzen und trotzigen Burg.

Nur zu gerne hätten wir noch einen Spaziergang auf die Burg gemacht, doch das war uns leider nicht vergönnt. Denn auch hier konnten wir noch immer keinen Übernachtungsplatz finden. Die Herren von der freiwilligen Feuerwehr wollten uns hier leider nicht aufnehmen und die einzige Pension die es gab lehnte uns mit der Begründung ab, das gerade renoviert würde. Auch damit dass wir unser Zelt im Garten aufschlagen war die Besitzerin nicht einverstanden. Ein alter Mann versuchte uns weiterzuhelfen, ebenso wie der Barkeeper einer kleinen Kneipe, doch die jeweiligen Verantwortlichen machten ihre Bemühungen immer wieder zunichte. Langsam wurde es spät und hier oben auf dem Berg standen die Chancen mehr als nur schlecht, einen geeigneten Schlafplatz zu finden. Es war wieder das gute alte Spiel. So schön die Küste auf ihre Art auch war, sie machte die Sache jedes Mal bedeutend komplizierter. Es schien langsam fast zu einem Gesetz zu werden, dass man nicht so entspannt und locker am Meer unterwegs sein kann, wie im Inland.

Auf der anderen Seite des Berges konnten wir ins Tal hinunterblicken und stellten fest, dass zwischen dem Fuß des Berges und Split noch eine beachtliche Grünfläche lag, die von hier oben zumindest einigermaßen eben erschien. Wenn man irgendwo einen Zeltplatz finden konnte, dann hier. Das einzige Problem war nur, dass wir irgendwoher noch etwas zum Essen und zum Trinken auftreiben mussten. So wie gestern wollten wir jedenfalls nicht enden. Der Barmann versorgte uns zunächst mit kaltem Wasser, doch der kleine Supermarkt unterstützte uns nicht. Daher fragten wir beim Abstieg ins Tal an verschiedenen Häusern nach einer kleinen Nahrungsspende. Eine alte Dame schaute mich freundlich an und lud uns gleich zu einem richtigen Abendessen ein. Es dauere nur eine Stunde, dann sei sie fertig und so lange könnten wir uns ja bei ihr auf die Terrasse setzen. So lieb das Angebot war, wir konnten es nicht annehmen, da die Sonne bereits Anstalten machte unterzugehen und wir nicht einmal eine Idee für einen Schlafplatz hatten. Es war jedoch fast unmöglich, der Frau diesen Umstand trotz Sprachblockade mitzuteilen und als ich es schließlich schaffte, hatte ich dafür so viel Zeit gebraucht, dass wir die Einladung auch fast hätten annehmen können. Immerhin hatten wir nun bereits eine Tüte mit Obst. Später kamen noch drei Tafeln Schokolade, etwas Brot und Käse sowie einige Pasteten hinzu. Als wir bei einer jungen Mutter nachfragten, die gerade mit einer Freundin und ihrer eigenen Mutter auf ihrer Terrasse saß, wurden unsere Zeitpläne dann aber doch noch vollkommen über den Haufen geworfen. Die Oma der Kinder lief „kurz“ nach Hause, um uns Brot und Würstchen zu holen. Als sie schließlich zurückkehrte brachte sie gekochte Putenbockwürste mit, sowie Brot, Senf und hartgekochte Eier, alles so serviert, dass wir es gleich an Ort und Stelle essen mussten. Vor ein paar Monaten, hätte uns das sicher noch ziemlich in Aufruhr versetzt, doch heute waren wir dabei irgendwie seltsam entspannt. Das Licht würde schon noch reichen, um unser Zelt aufzubauen. Während wir aßen tollten die beiden kleinen Jungen über die Terrasse. Ihre Mutter war mit den Nerven ziemlich am Ende und man sah ihr deutlich an, dass es ungefähr 5 Jahre her war, dass sie das letzte Mal richtig geschlafen hatte. Heute hatte sie ihre Wohnung putzen wollen und dies war auch der Grund, warum die beiden anderen Frauen hier waren. Denn nur solange diese die Kinder ablenkten, hatte sie die Zeit zum Putzen. Obwohl sie und ihre Freundin fließend Englisch sprachen, ergab sich in der ganzen Zeit, die wir dort saßen kein Gespräch, weil die beiden Jungs die ganze Aufmerksamkeit für sich forderten.

Der ältere von ihnen hatte eine Gehirn-OP hinter sich, bei der man ihm den hinteren Schädel aufgeschnitten hatte, um ihm einen Gehirntumor zu entfernen. Gerne hätte Heiko mit der Mutter über dieses Thema gesprochen, denn sowohl sie als auch der Junge litten noch deutlich darunter, doch es war einfach nicht möglich. Dabei waren die Hintergründe seiner „Krankheit“ so offensichtlich. Er hatte den Tumor bekommen, kurz nachdem sein Bruder geboren wurde, soviel konnten wir herausfinden. Dass dies für den älteren ein schwieriges und einschneidendes Erlebnis war, sah ein blinder mit ´nem Krückstock, denn der kleine war eine Naturgewalt, die kaum zu bändigen war. All die Aufmerksamkeit, die der ältere zuvor bekommen hatte, ging nun zwangsläufig auf den jüngeren über. Hinzu kamen die Lebensumstände, die es beiden Kindern und auch der Mutter nicht gerade leicht machten. Die Wohnung der kleinen Familie war von der Lage her vielleicht die schönste in der ganzen Gegend, denn sie lag direkt am Hang, so dass man über das Meer und über ganz Split sehen konnte, ohne den Lärm der Stadt abzubekommen. Doch in ihrem Inneren war es einfach unmöglich, sich wohl zu fühlen. Es gab so gut wie keine Einrichtung, nur weiße Wände und alles sah aus, als handele es sich um eine Gummizelle oder zumindest ein Zimmer in einem Irrenhaus. Wie wollte man hier gesund aufwachsen?

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, wanderten wir weiter ins Tal hinab und kamen schon kurz darauf an ein kleines, frisch gemähtes und einigermaßen ebenes Feld, auf dem wir unser Lager aufbauen konnten. Das Sonnenlicht reichte, bis wir fertig waren und ich hatte sogar noch etwas Zeit, um noch einmal auf Essenssuche zu gehen. Die Schokolade, die wir bekommen hatten, wollten wir nach Möglichkeit nicht essen, da wir es mit dem Zucker nicht übertreiben wollten. Also nahm ich sie mit und versuchte sie gegen etwas anderes einzutauschen. Doch die Bemühungen waren vergebens. Ich bekam zwar etwas zu essen, aber meine Schokolade wollte niemand. Schließlich beschloss ich, sie einfach in einen Briefkasten zu stecken, doch selbst dabei wurde ich unterbrochen und eine alte Frau drohte mir mit dem Zeigefinger, weil sie dachte ich wollte irgendjemandem etwas Böses. So kehrte ich also mit der Schokolade zurück und hatte dazu noch einen Zuckersirup geschenkt bekommen, den die Menschen hier in ihr Wasser gossen, um eine ekelhaft süßlich, chemische Pampe daraus zu machen, die sie dann Saft nannten.

Spruch des Tages: Wir sind wieder am Meer

 

 

Höhenmeter: 210m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 9441,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: kleines Feld hinter 21231 Klis, Kroatien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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