Tag 541: Die Höhle des Windes

von Heiko Gärtner
27.06.2015 02:16 Uhr

Noch 21 Tage bis zum Treffen mit Paulina!

Pünktlich um 10:00 Uhr standen wir am Eingang der Höhle. Allein. Außer uns war niemand da. Die erste Viertelstunde machten wir uns deswegen noch keine Gedanken, schließlich waren wir in Bosnien und hier war Zeit generell eine sehr relative Sache. Wir setzten uns auf eine Bank, aßen eine Banane und schauten den Schwalben zu, die sich im Kassenhäuschen der Höhle eingenistet hatten. Dann wurde Heiko langsam etwas unruhig und vermutete bereits, dass man uns reingelegt hatte. Vielleicht hatte man uns ja ganz bewusst auf den nächsten Tag vertröstet, da der Mann genau wusste, dass niemand kommen würden. Ich glaubte nicht an diese Theorie und beschloss, noch einmal zum Restaurant zurückzukehren um dort nachzufragen, wann die Höhle üblicherweise geöffnet wurde. Doch die Frage war gar nicht mehr nötig. Die junge Frau, die an der Bar stand und einen Kaffee trank entpuppte sich als Höhlenführerin und als sie mich sah, nahm sie mich gleich mit dem Auto zurück zur Höhle mit.

Dort bekamen wir jeder einen coolen, gelben Helm und durften die Höhle betreten.

„Wenn ihr möchtet, und vorsichtig seit,“ sagte die Führerin, nachdem sie erfahren hatte, dass Heiko ausgebildeter Höhlenretter war, „dann könnt ihr gerne auch in den nicht öffentlichen Teil der Höhle gehen. Aber wie gesagt, seit vorsichtig und achtet darauf, dass euch nicht die Lichter ausgehen! Die Höhle ist insgesamt mehr als 7km lang. Das heißt der erforschte Teil. Wie lang sie wirklich ist, weiß kein Mensch!“

Voller Begeisterung und Tatendrang betraten wir die Höhle. In ihrem inneren herrschte rund ums Jahr eine permanente Temperatur von etwa 11°C währen die Außentemperatur ständig schwankte. Dadurch ergab sich eine Thermik, die im Eingangsbereich einen permanenten Wind erzeugte. Dieser Wind, der einem völlig überraschend entgegenschlug war es, der der Höhle ihren Namen eingebracht hat.

Zunächst kamen wir in einen niedrigen breiten Gang, den wir nur gebückt durchqueren konnten. Dann öffnete sich die Höhle zu einem größeren Raum, in dem uns die ersten Tropfsteine erwarteten. Hier waren die Wege noch mit regelmäßigen kleinen Lämpchen beleuchtet, doch schon bald kamen wir an die erste Abzweigung, die mit einem Seil für Touristen gesperrt war. Mein Herz schlug höher. Ich hatte schon immer davon geträumt, eine Höhle wirklich zu erkunden. Also nicht nur einem Führer hinterherzulaufen oder mich an einem Geländer entlang zu hangeln, sondern wirklich auf eigene Faust darin herumzuwandern. Einige Male hatte ich das auch bereits gemacht, doch bislang waren es immer kleine Höhlen gewesen, die lediglich ein paar Meter weit in den Fels reichten und denen es nichts wirklich zu entdecken gab. Diesmal aber war es anders. Erst am Abend hatten wir im Schlafsaal der Mönche den ersten Teil von Indiana Jones gesehen, um uns von den Pissflecken auf der Decke abzulenken. Nun durfte ich selbst ein bisschen wie Indy sein.

Zumindest was unsere Ausrüstung anbelangte waren wir allerdings eher mit McGyver zu vergleichen, denn da der eine Packsack noch immer kaputt war, kamen wir nicht an unsere guten Stirnlampen. Unsere einzige Beleuchtung war daher die Taschenlampe in unserem Handy. Als ausgebildeter Höhlenretter konnte Heiko diese Aktion natürlich ganz professionell als absolut unintelligent beschreiben und wir möchten an dieser Stelle wirklich jedem davon abraten das zuhause nachzumachen. Also für den Fall, dass ihr eine 7km lange Höhle zuhause habt. Wenn die Taschenlampe im inneren der Höhle plötzlich versagen sollte, ist es mit einem Schlaf stockdunkel. Im günstigsten Fall bedeutet dass, das es Stunden dauern kann, bis man sich wieder zurück in den beleuchteten Teil getastet hat. Im ungünstigsten Fall findet man den Ausgang überhaupt nicht oder aber man rutscht in einen der Schlufe, die immer wieder in der Höhle versteckt lagen. Schlufe sind schmale Höhlengänge durch die man hindurchrobben oder kriechen muss und die teilweise sehr steil und sehr tief nach unten führen können. In unserem Fall hatten wir jedoch noch zwei Kameradisplays als Notfallbeleuchtung und wie gesagt einen ausgebildeten Höhlenretter, der sich auch in Notsituationen zurechtgefunden hätte. Glaube ich jedenfalls, denn ausprobieren mussten wir es ja nicht.

Der erste Seitengang war nicht besonders lang und führte uns lediglich um einige Tropfsteine herum, so dass wir Gesteinsformationen betrachten konnten, die den Besuchern normalerweise verborgen blieben. Und ich kann euch sagen, dass sich dieser kleine Abstecher gelohnt hat!

Wirklich spannend wurde es aber erst an dem Punkt, an dem die Höhlenbesichtigung für normale Besucher endete. Hier führte der ausgebaute Weg nämlich noch einen guten Kilometer weiter ins innere des Berges hinein, ohne dass er mit Lampen beschienen wurde. Bewaffnet mit unserer Handyfunzel machten wir uns auf den Weg. Es reichte gerade einmal eine einzige Biegung, um die Lampen hinter uns verschwinden zu lassen. Probeweise löschte Heiko das Licht der Lampe. Es war stockdunkel. Mit etwas Glück hätten wir den steinigen Pfad vielleicht noch zurück ertasten können, doch wirklich sicher war ich mir bereits jetzt schon nicht mehr. Wir machten das Licht wieder an und gingen weiter. Tropfsteine wurden zunächst immer seltener, dann aber kamen wir an eine richtige Orgel aus stein, die von der Wand aus in den Weg ragte. Immer wieder tauchten auch kleine Seen auf. Dann endete der Weg. Von hier aus musste man sich selbst zurechtfinden und teilweise sogar zwischen den Felsen hindurchkrabbeln. Doch das wäre mit ausgelatschten Schuhen, ohne Sicherungsmaterial und ohne richtige Beleuchtungsausrüstung zu riskant gewesen. So schön das Entdecken und Erforschen der Höhle auch war, man musste wissen wann das Risiko zu hoch wurde. Außerdem hatten wir der netten Dame am Empfang versprochen spätestens um 13:00 Uhr wieder draußen zu sein und wir hatten es bereits kurz nach 12:00.

Wir machten uns also auf den Rückweg. Bei all der Begeisterung, mit der wir jeden Meter der Höhle erkundet hatten, hatten wir gar nicht gemerkt, wie tief wir schon gekommen waren. Wir brauchten über eine halbe Stunde um wieder zum Eingang zu kommen.

„Ich habe mir schon Sorgen um euch gemacht!“ rief uns die Frau aus dem Kassenhäuschen entgegen, „Ist alles in Ordnung?“

„Ja! Und wie!“ riefen wir begeistert. Dann tauschten wir uns mit ihr über unsere Erfahrungen aus, wobei wir erfuhren, dass hinter dem Teil, den wir für uns als unpassierbar anerkannt hatten, ein weiterer, größerer See gekommen wäre. Hier lagen die Gänge dann teilweise komplett unter Wasser, jedenfalls die meiste Zeit des Jahres. Wenn sie passierbar waren, dann fand man hier die schönsten Steinformationen, die die Höhle zu bieten hatte. Doch bis dahin hätten wir um diese Jahreszeit ohne Taucherausrüstung nicht gelangen können, selbst wenn wir es versucht hätten.

Außer uns hatten in der ganzen Zeit nur drei weitere Menschen die Höhle besichtigt. Viel Tourismus gab es also nicht und das obwohl die Höhle wirklich sehenswert war. Vielleicht auch gerade weil man hier noch so ursprünglich herumwandern konnte. Auch die Führerin erzählte, dass die Gegend gerade am Aussterben war. Es gab kaum mehr Menschen, die hier wohnen wollten, warum auch immer. Der Krieg hatte viel kaputt gemacht. Teilweise durch die Waffen und die Mienen, größtenteils aber in den Köpfen der Menschen.

„Die Natur hier ist unglaublich reich, doch niemand kann diesen Reichtum heute mehr sehen!“ sagte sie traurig, „die Menschen fühlen sich arm und glauben, dass sie ihr Glück eher in Städten wie Dubrovnik finden.“

Sie erzählte uns auch, dass es hier die Tradition gab, dass man das Elternhaus immer halten musste. Wer als Kind wegzog, musste trotzdem immer wieder zum Haus der Eltern zurückkommen, selbst wenn es eigentlich sinnvoller war, woanders ein neues zu bauen.

Schließlich verabschiedeten wir uns und suchten unseren Weg durch das Tal zurück auf die andere Seite. Auf einem der Weinfelder entdeckten wir dabei ein gutes Dutzend dunkelhäutiger Arbeiter, die in der prallen Sonne Unkraut jäteten. Im Schatten unter den Bäumen an der Seite saß eine Frau, die die Männer dabei beobachtete. Sie hatte einen Block mit verschiedenen Formularen in der Hand und eine Art Stoppuhr. Wir sprachen mit niemandem doch für uns wirkte das Ganze ein bisschen nach Zwangsarbeit unter einer strengen Aufsicht. Als wir kurz darauf in das erste Dorf kamen um dort nach Essen zu fragen, fanden wir es komplett leer vor. Die Fenster und Türen standen offen und die Zimmer bestanden nur aus leeren Räumen mit Mattratzen auf dem Boden und einigen verstreuten Klamotten. Ob dies die Baracken für die Arbeiter waren? Unten an der Straße gab es ein einziges Haus, das nicht ganz so heruntergekommen aussah. Hier öffnete uns ein grimmiger, muskelbepackter Mann, der uns sofort wieder vertrieb, ohne dass wir ihn auch nur nach Essen fragen konnten. Wie gesagt, wir konnten nichts in Erfahrung bringen, aber vom Bauchgefühl her würde ich sagen, dass es sich dabei um den Mann der Aufseher-Frau handelte. Sicher war jedoch, dass auch er nicht der Besitzer des Weinbauern war, sondern nur ein Angestellter. Der wirkliche Nutznießer der ganzen Aktion hatte sein Haus sicher irgendwo, wo er mit dem ganzen hier nicht in Kontakt kam.

Auch die kommenden Dörfer erwiesen sich als nahezu ausgestorben. Wenn wir Glück hatten, dann trafen wir ein oder zwei Anwohner, die uns aber nichts geben wollten. Eine ältere Dame bot mir Schnaps und Kaffee an, aber als ich sie nach Brot, Zwiebeln oder Obst fragte, lehnte sie vehement ab. Irgendwie schienen wir gerade eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben, denn die Menschen waren sonderbar verändert. Sie lebten zurückgezogen und wollten niemanden sehen. Die Hilfsbereitschaft, mit der man uns in den letzten Tagen so schön begegnet war, war plötzlich verschwunden und wurde gegen eine Grundfeindseligkeit getauscht, die man fast nicht durchbrechen konnte. Sie richtete sich nicht gegen uns, sondern gegen Menschen im Allgemeinen, aber das machte es für uns natürlich nicht besser. Seit dem Ekelfrühstück am Morgen und der Banane vor der Höhle hatten wir nichts mehr gegessen. Auch zelten konnten wir nirgends, da die Landschaft inzwischen wieder so trocken und dröge war, wie in der spanischen Steppe. Alles war entweder ein Hang, eine Felsenpiste oder so voller Dornen, dass unsere Luftmattratzen die Nacht niemals überlebt hätten.

Schließlich entdeckten wir doch eine ebene grüne Wiese, die in Frage kam, doch zu unserer Überraschung gab es keine Möglichkeit dort hinzugelangen. Sie lag etwa zwei Meter unterhalb der Straße und war von einer hohen Böschung umgeben, duchr die es keinen Eingang gab. Das gleiche entdeckten wir noch rund ein weiteres Dutzend Mal. Warum man diese Wiesen pflegte, sich aber selbst den Zugang verbaute war uns ein Rätsel. Noch größer war jedoch das Rätsel, wie man sie Pflegte, denn ums sie zu mähen musste man ja auch irgendwie hinkommen. Gerade als wir schon aufgeben wollten Kamen wir an eine Bienenwiese, die tatsächlich auch einen Eingang hatte. Der Imker war gerade dabei, den Honig einzusammeln. Seinen Segen hatten wir, doch die Bienen waren nach dem Verlust ihrer Waben nicht mehr allzu gut auf Menschen zu sprechen und so kam diese Wiese auch nicht in Frage. Der Mann erzählte uns jedoch, dass unsere Straße wieder einmal ein paar hundert Meter weiter im Nichts verschwinden würde und man von da an nur noch über einen steinigen Trampelpfad weiterkam. Das wollten wir uns nicht noch einmal antuen, vor allem nicht ohne Wasser und Nahrung. Also kehrten wir zur Hauptstraße zurück und versuchten unser Glück in einer anderen Richtung. Langsam waren wir nicht nur erschöpft und hungrig sondern auch frustriert. Die Sonne wanderte auf den Horizont zu und wir hatten noch immer seit dem Frühstück nichts gegessen. Als sich die Straße teilte schaute Heiko ein Stück den Berg hinunter und ich ein Stück hinauf, ob wir nicht doch noch etwas zu Essen und einen Zeltplatz finden würden. Dabei entdeckte ich jemanden, der uns wahrscheinlich gerne eingeladen hätte, wenn er nicht selbst nur ein Haus gehabt hätte, in das er gerade so eben hineinpasste. Er war eine kleine Schnappschildkröte, die vor mir auf dem Weg entlangwanderte. Als ich näher kam versteckte er sich jedoch im Gebüsch. Ein Stück weiter oben kam ich wieder in ein Dorf, in dem mir dann drei alte Damen doch noch ein Stück Brot und etwas Schinken schenkten. Heiko hatte in der Zeit einen Zeltplatz gefunden. Er war nicht ideal, denn es handelte sich um ein reines Geröllfeld, das dazu noch direkt an der Hauptstraße lag. Doch es war Dornenfrei und eben genug, um darauf schlafen zu können.

Spruch des Tages: Es gibt immer etwas Neues zu entdecken

 

Höhenmeter: 190m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 9769,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz auf einer Schafsweide, Bitunja, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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