Tag 555: Die Goldmiene

von Heiko Gärtner
11.07.2015 17:01 Uhr

Noch 6 Tage bis zum Treffen mit Paulina!

Dusina entpuppte sich ein bisschen als ein magischer Ort. Tagsüber war es ein friedliches kleines Bergdorf, das fast verlassen aussah. Doch des Nachts verwandelte es sich in einen turbulenten Marktplatz in dem mehr los war als beim Sommerschlussverkauf in der Nürnberger Innenstadt. Zum Glück waren es keine Zombies, die aus ihren Verstecken krochen sondern hauptsächlich Kinder und Jugendliche, die plötzlich wie aus dem Nichts auf die Straße wuselten und das kleine Dorf vollständig in Besitz nahmen. Es gab nur eine einzige Straße, die einmal durch das Tal führte und an der alle Häuser, der Sportplatz, die drei Bars und auch das verlassene Sanitätshaus mit der Wiese befand, die uns als Zeltplatz diente. Den ganzen Tag hatte es nicht so ausgesehen, als gäbe es mehr als 10 Menschen in diesem Ort, doch nun tollten sich alleine 60 bis 70 Kinder nur auf dem Fußballplatz. Der Volleyballplatz beherbergte noch einmal ein weiteres Dutzend. Der Basketballplatz war leer, denn der Korb war kaputt und man konnte nichts mehr damit anfangen. Die Eltern, die es mit den Ballspielen nicht mehr so hatten verbrachten ihre Freizeit stattdessen mit Traktorfahren und dazu nutzten sie die einzige Straße, die es eben gab. Mit der idyllischen Ruhe der Berge war es nun also vorbei.

Doch noch ein anderes Phänomen überraschte uns, mit dem wir in diesem Ort nicht gerechnet hatten. Als wir angekommen waren, hatte man uns zwar wie üblich skeptisch beäugt, dann aber wieder ignoriert. Mohamet hatte uns Eier, Wassermelone, Brot und etwas Wurst geschenkt und von den Nachbarn gegenüber hatten wir zwei Fladenbrote mit Ayran bekommen. Damit schien es, als hätten wir die Ressourcen hier vollkommen ausgeschöpft, was ja auch ok, war, da wir nun alles hatten, was wir brauchten. Als wir jedoch mit dem Kochen anfingen, kamen plötzlich die verschiedensten Menschen und schenkten uns weitere Lebensmittel. Am Anfang freuten wir uns tierisch darüber, doch dann wurde es langsam etwas viel. Wie sollten wir das alles Essen? Vor allem hatten wir unseren Reis ja bereits gekocht und konnten ihn nicht wieder trocknen und zurück in die Tüte kippen. Bis unser Essen fertig war hatte sich ein Berg vor unserem Zelt aufgetürmt, der aus 16 Eiern, 2l Milch, 2 Stücken Kuchen, 3 Teigschnecken mit Schafskäsefüllung, einer Tüte Gemüse, einem weiteren Brot, einer Tüte Schokokeksen und einigem mehr bestand. Milch und Eier konnten wir bei der Hitze unmöglich transportieren, also blieb uns nicht anderes übrig, als uns Rührei aus 16 Eiern zu machen und unsere Reisgemüsepfanne mit einer Sauce aus 2l Milch zu verfeinern.

Eine knappe halbe Stunde später lagen wir im Zelt und hatten das Festmahl in der Mitte zwischen uns aufgebahrt. Es dauerte jedoch nicht lange, bis unsere Mägen verwirrt aufschrien, da sie die Welt nicht mehr verstanden. Wochenlang hatte es so gut wie keine tierischen Produkte und vor allem kein Eiweiß mehr gegeben und nun kamen für jeden gleich 8 Eier auf einen Schlag. Wer sollte damit zurechtkommen? Nach der Hälfte der Portion mussten wir uns eingestehen, dass es zu viel war und dass wir unmöglich weiteressen konnten. Vielleicht überstand es die Nacht ja und dann konnten wir es am Morgen zum Frühstück essen.

Bereits am Nachmittag hatte plötzlich wieder der Muhizin zu Schreien begonnen. Dusina war ein muslimisches Dorf und wurde dementsprechend von einer Moschee beherrscht, die gegenüber des Sportplatzes an der Straße stand. Der Koran schreibt vor, dass ein gläubiger Moslem 5 Mal am Tag beten muss und die muslimischen Glaubensvertreter haben einen ganz speziellen Weg gefunden, dieses Gesetz auch durchzusetzen. So wie es an jeder Kirche einen Glockenturm gibt, der die Menschen, die sich in der Nähe befinden in regelmäßigen Abständen in den Tod nervt, gibt es auch an jeder Moschee einen langen, dünnen und beeindruckend spitzen Turm, der einem schon von weitem entgegenstrahlt. Jedenfalls strahlt er in den meisten Fällen. In diesem Fall war seine weiße Farbe zu großen Teilen abgeblättert und von einem Strahlen konnte kaum mehr die Rede sein. Früher war dieser Turm dazu da, dass der muslimische Pfarrer, den man Muhizin ausspricht (wie man ihn schreibt habe ich keine Ahnung), oben auf ein Podest steigen konnte, dass ein bisschen an das Krähennest auf einem Segelschiff erinnert. Von diesem Podest aus konnte er dann laut sein Gebet über das ganze Dorf sprechen, so dass sich jeder daran beteiligen konnte. Heute wird wie in jedem anderen Bereich der Welt auch hier so viel Personal wie möglich gespart und durch Technik ersetzt. So wie es viele Kirchen gibt, die keine Glocken mehr haben, sondern nur noch ein Glockenspiel vom Tonband über einen Lautsprecher hinausposaunen, befinden sich heute auch auf dem Podest am Turm statt echten Vorbetern nur noch Lautsprecher. Und in diesem Fall lag die Betonung wirklich auf LAUTsprecher. Stellt euch ein Festival vor, wie etwa die Love Parade oder das Hurrikane. Die Boxen oben auf dem Turm der Moschee waren in etwa der gleichen Lautstärke eingestellt. Nur dass hier keine tanzende Menschenmasse mit mehreren 100.000 Köpfen beschallt werden sollte, sondern lediglich ein kleines Bergdorf in einem Tal, das so gebaut war, dass ein Handylautsprecher gereicht hätte, damit es alle mitbekommen. Selbst wenn man sich die Ohren zuhielt, tat es noch weh.

Am Nachmittag kamen wir nun also das erste Mal in den Genuss dieses Angriffes auf unser Trommelfell. Das zweite Mal erklang der Lautsprecher um 22:30 Uhr, als wir gerade mit unserem Abendessen fertig waren. Das dritte Mal riss uns der Muhizin dann mit seinem Holzhammergebet um 02:30 Uhr aus dem Schlaf.

Es liegt mir fern, irgendeine Religion zu kritisieren oder auf jemandem herumzuhacken, aber das ist doch der Wahnsinn! Das kann doch nichts mehr mit dem Glauben zu tun haben. Egal wie gläubig ein Mensch auch ist, es ist meiner Meinung nach unmöglich, dass er keinen Hass auf seinen elektronischen Vorbeter bekommt, wenn dieser ihn nachts um halb drei aus der Tiefschlafphase reißt und ihn zum Beten verdonnert. Man muss genervt sein dadurch. Doch wie soll mich ein Gebet näher zu Gott bringen, wenn ich dabei die ganze Zeit innerlich am Fluchen bin. Und selbst wenn ich das wirklich gut wegstecke, dann ist es einfach gegen den natürlich Schlafrhythmus, um diese Uhrzeit von einer Stimme geweckt zu werden, die einen Ausbilder beim US-Militär wie eine heisere Libelle erscheinen lässt. 22:30 Uhr war zudem die Zeit, in der die Kinder gerade alle im Bett lagen. Vor allem für die kleinen muss es doch die Hölle sein, dann sofort wieder wachgeschrien zu werden. Doch selbst wenn das alles noch Ok ist und wenn dieser Rhythmus aus irgendeinem Grund wichtig ist, um den richtigen Draht zu Gott zu bekommen, was ja durchaus sein kann, dann muss es doch trotzdem nicht in dieser Lautstärke sein. Für uns war es schon unerträglich und wir waren gerade einmal eine Nacht hier. Wie musste es sein, an diesem Ort zu leben und das täglich zu haben. Früher oder später war es unvermeidbar, dass man davon einen Gehörschaden bekam. Das konnte Allah ganz sicher nicht wollen. Denn auch wenn ich keine Ahnung vom Koran habe, bin ich doch sicher, dass die Verbindung zu Gott wie auch in jeder anderen Religion durch Stille zustande kommt. Vielleicht sehe ich das falsch, aber muss ich ein Gebet nicht ernst meinen, damit es funktionieren kann? Und ist es nicht wichtig, dass ich auch beten will, damit ich es ernst meinen kann? Aber dann muss die Bereitschaft dafür doch von innen heraus kommen und ich bete, weil es meine Überzeugung ist und nicht, weil oben von einem Turm heruntergeschrien wird und ich nur deshalb bete, weil ich eh nichts anderes mehr machen kann. Das ergibt doch keinen Sinn, oder? Klar ist es in der christlichen Kirche ähnlich und die Glocken sind vielerorts keinen Deut besser. Aber was hat das alles dann noch mit Glauben zu tun? Vielleicht sind ja unter euch auch ein paar Muslime. Wenn ja, würden wir uns sehr freuen, wenn ihr uns diese Tradition erklären könntet. Es interessiert mich wirklich, was die Idee dahinter ist und warum es so gemacht wird. Vielleicht hilft es uns ja auch, diese Dinge besser anzunehmen.

www.jack-wolfskin.de

Was man dem Muhizin lassen muss ist jedoch, dass er in der Früh auf ein Lautsprechergebet verzichtete. Das wiederum machte ihn dann gegenüber den Katholiken doch noch ein bisschen sympathisch, denn diese lieben es ja meist ihr größtes Glockenkonzert um 6:00 Uhr in der Früh zu veranstalten. Auch die Sonne ließ uns ausschlafen und verzichtete darauf und zu braten. Der Himmel war bewölkt und es blieb auch den ganzen Tag über angenehm kühl. Trotzdem hat unser Reisgericht die Nacht leider nicht überlebt und ist gekippt, so dass wir es nur noch an die Ameisen verfüttern konnten. Diese freuten sich aber riesig darüber, vor allem, weil sie unser Zelt eh schon belagert hatten um alles anzunagen, das nicht Luftdicht verpackt war. Man muss eben doch etwas mehr acht auf wilde Tiere geben.

Unser Weg führte uns heute fast ausschließlich bergab in ein kleines Dorf namens Bakovici, wo wir seit langem mal wieder einen Indoor-Schlafplatz bekamen. Es ist eine Art Festsaal mit einer Bühne darin, auf der ein schwerhöriger Mann seine e-Gitarren-Künste probte, als wir ankamen. Er hatte im Bosnienkrieg zu nahe an einer Granatenexplosion gestanden und konnte seither kaum noch etwas hören. Daher liebte er es, die Verstärker des Saales auf volle Lautstärke zu drehen und dann zu proben. Dagegen erblasste sogar noch der Muhizin aus dem Nachbardorf.

Solange der Mann probte bekamen wir von seinem Bruder eine Ortsführung. Ein kleines Stück hinter dem Festsaal befand sich früher einmal eine alte Goldmiene. Bis vor einem Jahr waren die Eingänge noch geöffnet und der Bruder wollte uns eigentlich hineinführen. Doch zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass man die Eingänge nun zugeschüttet hatte. Dennoch konnte man die Spuren der Ausgrabungen noch immer sehen. Der Boden war orange und an mehreren Stellen lagen große Schutthaufen in denen man noch immer Pyrit, also Katzengold finden konnte.

Nach unserer Besichtigung kehrten wir dann wieder in unseren Saal zurück, wo der Gitarrenspieler gerade seine letzten Seiten anstimmte, bevor er zusammenpackte.

 

Spruch des Tages: Am Anfang war das Wort. Dann muss es ihm die Sprache verschlagen haben. (Heinrich Wiesner)

Höhenmeter: 20 m

Tagesetappe: 10 km

Gesamtstrecke: 9987,77 km

Wetter: bewölkt und angenehm kühl

Etappenziel: Festsaal, Bakovici, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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