Tag 565: Ernten, was wir säen

von Heiko Gärtner
25.07.2015 18:22 Uhr

Noch 6 Tage bis zu Tobias’ 2. Weltreisegeburtstag!

Nach der ereignisreichen Nacht folgte ein ereignisreicher Tag. Das meiste davon betrifft jedoch Paulina persönlich, denn es ging dabei vor allem um ihre Entwicklungsschritte. Sie ist noch nicht ganz soweit, aber sie wird euch bald selbst davon berichten.

Rein äußerlich war alles eher entspannt. Wir wurden von unseren Nachbarn zum Frühstück eingeladen und die alte Dame hätte Paulina fast adoptiert, weil sie nach der Nacht so erschöpft und geschafft aussah. Emotional wie körperlich. Dann wanderten wir vier Kilometer mit einer großen Pause in der Mitte, besichtigten ein altes, verlassenes Haus am Wegesrand und bekamen ein kleines Häuschen auf dem Grundstück einer orthodoxen Kirche als Schlafplatz. Anders als in den katholischen Kirchen bekamen wir das Häuschen hier von einer Frau zu Verfügung gestellt, die den Kirchenbesitz verwaltete. Den Pfarrer brauchte man dazu nicht. Das war gut zu wissen und deutlich entspannter, als in den Pfarreien, in denen ohne den Segen des führenden Geistlichen überhaupt nichts ging.

Am Nachmittag fand dann in der Kirche neben uns eine Hochzeit statt. Die Brautgefolgschaft bestand aus ungefähr fünfzig Menschen, von denen sich einer wie ein Nussknacker oder etwas ähnliches verkleidet hatte. Seltsam war, dass die Gemeinde kein einziges Mal die Kirche betrat. Sie standen nur davor, machten Fotos, tranken Alkohol, spielten Musik und feuerten etwas ab, das entweder eine Silvesterrakete oder ein Maschinengewehr war. Eine ganze Weile standen wir am Fenster und schauten der bunten Menschenmasse zu. So oft wie wir hier angestarrt wurden, konnten wir uns sicher auch einmal revanchieren. Dabei fiel uns auf, dass es sich bei einem der Partygäste um den griesgrämigen Bad-Cop von gestern Nacht handelte. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass wir hier hinter der Scheibe stehen?

Wie bereits an den vorherigen Tagen zog Paulina auch heute eine Art Ersatzmama an, die das Gefühl hatte, sich um das arme Wandermädchen kümmern zu müssen. Dieses Mal war es die Dame, die die Kirche verwaltete und die uns am Abend zu einem wahren Festmahl einlud. Anschließend begannen wir damit, einige Routinen wieder oder neu einzuführen. Zu den alten gehörte das Needlen, das wir nun schon seit Monaten nicht mehr gemacht hatten und dieses Mal bekam auch Paulina ihr Fett weg. Zum Glück hatten wir unser eigenes Häuschen so dass uns niemand zusehen und zuhören konnte, denn für einen Außenstehenden musste es sehr komisch aussehen, wie immer einer von uns halbnackt am Boden lag, schrie und jammerte und sich mit angstverzogenem Gesicht vor Schmerzen wand und krümmte, während einer über den Leidenden gebeugt war, ihn festhielt und mit einer Nadelrolle traktierte und der andere amüsiert zuschaute. Aber wie heißt es so schön: Wer schön sein will, muss leiden.

Später spielten wir dann als Ausgleich noch eine Runde Indiaka. Ich weiß nicht, ob ihr das Spiel kennt. Ich habe es früher häufig mit einem Freund und dessen Oma gespielt, die uns dabei jedes Mal platt gemacht hat. Von der Spielart erinnert es ein bisschen an Volleyball, nur dass man dabei mit einem Gegenstand spielt, der einem Federball ähnelt. Es ist eine Art Ledersack mit Federn daran. Zunächst versuchten wir uns in einem Tournier, beschlossen dann aber, dass wir nicht gleich so hoch einsteigen sollten und spielten lieber im Kreis mit der Aufgabe, den Indiaka so lange wie möglich in der Luft zu halten. Es dämmerte bereits und weder Paulina noch ich waren besonders gut darin, im Halbdunkel auf Dinge zu reagieren, die sich schnell durch den Himmel bewegten. Dementsprechend brachen wir keine Rekorde. Dafür aber hatten wir einen Heidenspaß.

Seit Paulina angekommen war, hatte sich einiges in unserem Leben verändert. Auf der einen Seite brachte sie viel Leichtigkeit und Verspieltheit in unsere Gruppe, die es zuvor nicht gegeben hatte. Dazu kamen so sonderbare Dinge wie Reinlichkeit, auf die wir zuvor eigentlich keinen allzu großen Wert gelegt hatten. Klar war es uns immer wichtig gewesen, so gepflegt auszusehen wie es eben möglich war, aber das hatte stets seine Grenzen gehabt. Wenn es keine Dusche gab, dann konnte man sich eben nicht waschen. Außer es gab für sehr lange Zeit keine Dusche. Aber gestern wuschen wir uns einfach so unter einem eiskalten Wasserhahn und das auch noch mitten auf dem Kirchenvorplatz. Am Tag davor badeten wir uns sogar in einem noch kälteren Gebirgsbach, nur um sauber zu werden. Dabei hatte Paulina nicht einmal groß etwas darüber gesagt. Ihre bloße Anwesenheit reichte aus, um uns dazu zu bewegen. Sonderbar was für einen Einfluss Frauen auf einen haben.

Andererseits brachte Sie natürlich auch wieder viele spannende Themen mit, die wir zwar selbst schon auf die eine oder andere Art behandelt hatten, die nun aber noch einmal in einem völlig neuen Licht auftauchten. Vieles davon wird Paulina euch selbst demnächst einmal erzählen, aber einiges kann ich auch schon berichten. Das Lustige dabei ist, dass wir zu vielen Dingen überhaupt nichts sagen müssen, weil immer passende Situationen auftauchen, die Paulina selbst erklären, was gerade los ist.

Eine dieser Situationen ereignete sich am Vormittag. Nach einigen Kilometern machten wir auf einer kleinen Wiese ein kurzes Picknick. Es war eine Privatwiese, die wie fast alle schönen Plätze hier von einem Stacheldrahtzaun umgeben war, doch das Tor war nicht verschlossen und es war der einzige Platz, an dem es Schatten gab. Wir breiteten unsere Sitzmatten und Halstücher aus und machten es uns gemütlich. Etwa fünfzig Meter entfernt stand ein alter Mann, der uns missmutig anschaute und irgendetwas zu uns herüberkeifte. Wir nahmen das als etwas fehlgeleiteten Versuch an, freundlich zu sein und grüßten zurück. Der Mann jedoch war davon gar nicht begeistert und kam langsam auf uns zu gehinkt. Das Laufen viel im sichtlich schwer und es kostete ihn einige Mühe, den Weg zu uns zu überwinden. Dann jedoch baute er sich in voller Größe vor uns auf und begann zu fluchen und zu zetern. Wir verstanden zwar kein Wort, aber es war offensichtlich, dass er uns vertreiben wollte. Freundlich und gleichzeitig mit einigem Trotz erklärten wir ihm, dass wir Wanderer waren und hier nur ein kurzes Picknick machen wollten. Maximal 20 Minuten, dann waren wir verschwunden und würden nie wieder kommen. Doch damit war der Mann nicht einverstanden. „Verschwindet sofort!“ sagte er mit Händen, Füßen, Mimik und Worten. Doch wir wollten nicht. Es konnte doch nicht sein, dass die Menschen hier so unfreundlich waren, dass sie es einem nicht einmal gestatteten, eine kurze Rast auf einer vollkommen ungenutzten Wiese zu machen. Was sollte das denn? Was musste im Leben dieses Mannes schief gelaufen sein, dass er sich und seinen Mitmenschen das Leben so schwer machen musste?

Denn der Mann war ein hervorragendes Beispiel dafür, wie sehr man selbst für sein Leid und seine Freude verantwortlich war. Er hätte ja genauso gut kommen und uns freundlich fragen können, wer wir sind. Klar hätten wir uns auch dann nicht wirklich unterhalten können, aber so wie wir uns in Wut und Trotz verstanden haben, hätten wir und auch in Freundlichkeit verstehen können. Wir hätten ihn wahrscheinlich sogar eingeladen, sich zu uns zu setzen, und ihm mit den wenigen Worten, die wir beherrschten etwas über uns erzählt. Er hätte einen lustigen und ungewöhnlichen Vormittag erleben und seine eigene Wiese zum ersten Mal seit Jahren wirklich nutzen können. Er hätte eine Scheibe Brot bekommen und hätte die nächsten Wochen endlich wieder einmal was zum Erzählen gehabt. So aber versprühte er nichts als Missmut und schlechte Laune, sorgte dafür, dass ihn niemand leiden konnte und fristete einen weiteren trostlosen Tag in seinem freudlosen Leben dahin, in dem er sich wieder mit irgendwelchen Herumtreibern plagen musste, die sein Feld mit Brotkrumen beschmutzten. Das Leben war schon hart!

Als der Mann schließlich kopfschüttelnd und brummelnd wieder ging, empfand Paulina sogar Mitleid mit ihm und hatte das Gefühl ihn irgendwie aus seiner Negativspirale retten zu müssen.

„Das kann er nur selbst tun, Paulina!“ erklärte Heiko, „er hat sich dafür entschieden, die Welt nur als negativ anzusehen und das obwohl er in so einem Paradies lebt. Er säht nur Missmut und Ärger aus und kann deshalb auch nichts anderes ernten. Aber das ist seine Sache, es hilft uns nichts, wenn wir uns davon runterziehen lassen. Das führt nur dazu, dass wir irgendwann genauso werden wie er und das hilft weder ihm noch uns.“

Kaum hatte Heiko das gesagt, hatte der Alte sein Wohnhaus erreicht und schrie dort nach Verstärkung. Ihm alleine war es nicht gelungen uns zu vertreiben, also brauchte er Hilfe. Ein jüngerer Mann kam aus dem Garten und die beiden begannen eine Unterhaltung, bei der der Alte immer wieder zu uns herüber zeigte. Wir konnten natürlich nicht hören, was gesprochen wurde, aber der Inhalt des Gesprächs war trotzdem glasklar.

Der junge Mann schüttelte den Kopf und begann zu lauthals zu argumentieren: „Du verrückter alter Narr, kannst du nicht einmal irgendjemanden in Ruhe lassen? Ja, die sitzen da und machen ein Picknick, na und? Ich werd’ nen Scheißdreck tun und darüber gehen. Es reicht schon dass du uns wegen jedem Mist anmaulst, da werde ich bestimmt nicht noch für dich den Laufburschen spielen!“ Aufgebracht drehte sich der Mann um und ließ den Alten auf der Straße stehen.

Wir mussten lachen.

„Siehst du?“ fragte Heiko, „genau das meine ich! Er verschenkt Meckern und kann deshalb auch nur Meckern zurückbekommen.“

So spannend uns lehrreich die Situation auch war, so spürten wir später doch, dass sie uns nicht gut getan hatte. Sie war natürlich wichtig gewesen, um Paulina das Spiegelgesetz zu erklären, aber wir hatten trotzdem gegen unser Herz gehandelt, als wir dem Mann widersprochen und sitzengeblieben waren. Unsere Motivation hierzubleiben war nicht Selbstschutz gewesen und auch nicht die Absicht etwas lernen zu wollen, es war reiner Trotz gewesen. Wir wollten dem alten Griesgram nicht so einfach das Feld räumen, auch wenn es bedeutete, dass wir damit schlechte Stimmung auf uns zogen. Es war in diesem Moment vielleicht wichtig gewesen, aber gesund war es nicht.

Spruch des Tages: Wir ernten was wir säen.

 

Höhenmeter: 200 m

Tagesetappe: 10 km

Gesamtstrecke: 10.080,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz im Wald, kurz hinter Kadino Selo, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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