Tag 564: Nächtliche Besucher

von Heiko Gärtner
25.07.2015 18:18 Uhr

Noch 7 Tage bis zu Tobias’ 2. Weltreisegeburtstag!

Es begann am Abend, als Paulina und ich gerade mit dem Kochen angefangen hatten. Zuvor haben wir von unserer Nachbarin bereits eine Essenseinladung bekommen, doch diese hatte uns nicht ganz satt gemacht. Paulina und ich waren dann noch einmal in der kleinen Ortschaft herumgelaufen und hatten einiges an Gemüse bekommen. Eine Dame war sehr nett und freundlich gewesen und hatte uns erlaubt, dass wir in ihrem Garten ernten können, was wir wollten. Andere Anwohner waren hingegen etwas sonderbar gestrickt und nicht gerade angenehme Zeitgenossen. Darunter waren auch ein paar Jugendliche, die nervös kicherten anstatt mit uns zu reden. Vom Sofa im Wohnzimmer aus schrie dann der Vater, ohne etwas verstanden zu haben, dass es für uns hier nichts zum Essen gibt. Freudlos aber unsicher kichernd schenkten und die Kinder dann eine einzelne Tomate und schlossen die Tür. Hier wäre bereits der erste Moment gewesen, an dem ich hätte hellhörig werden können. Doch ich war nur froh, den Garten dieser Menschen wieder verlassen zu können und dachte nicht weiter darüber nach.

Als wir dann mit dem Kochen bei unseren Zelten begannen, tauchten einige weitere Jugendliche auf, die sich genauso verhielten. Schüchtern standen sie erst neben unserer Wiese und starrten uns kichernd an. Dann kamen sie näher und lungerten direkt neben uns herum, immer noch ohne mit uns zu sprechen. Auf diese Weise erzeugten sie eine Situation, die sowohl für sie selbst als auch für uns äußerst unangenehm war.

„Wie heißte?“ fragte eines der Mädchen, während der Junge die ganze Zeit nervös mit einem Feuerzeug spielte. Gut, dass er kein Lichtbogen Feuerzeug hatte.

„Paulina!“ antwortete Paulina so freundlich wie sie konnte, obwohl ihr die Begegnung auch nicht angenehm war.

„Sprecht ihr Englisch?“ fragte ich in die Runde, bekam aber nur ein verwirrtes Schulterzucken als Antwort.

Dies wäre der Zeitpunkt gewesen um ein klärendes Machtwort zu sprechen, doch weder Paulina noch ich, wussten in diesem Augenblick, wie das hätte aussehen sollen. Ich schaffte es immerhin dem Jungen zu sagen, dass er mit dem Feuerzeug-Generve aufhören soll, was er dann auch tatsächlich machte. Das Mädchen stellte noch einige weitere sinnfreie Fragen, deren Antwort sie nicht einmal verstehen konnte. Schließlich langweilte sie ihre eigene Anwesenheit selbst und sie verschwanden. Damit war das Thema erledigt. So glaubten wir jedenfalls. Ein Irrtum, wie er größer nicht sein könnte.

Unser Essen wurde gerade mit Einbruch der Dunkelheit fertig und so legten wir uns zu dritt in unser Zelt um uns vor den Mücken zu schützen, die bereits wieder auf dem Vormarsch waren.

Paulina wurde schließlich müde und wollte außerdem noch einige Notizen aufschreiben, weshalb sie sich in ihr eigenes Zelt zurückzog. Heiko und ich ließen den Tag dann noch mit einem Film ausklingen und dachten eigentlich, dass damit die Ruhephase eingeleitet wurde. Dann aber hörten wir ein Rascheln an unserem Zelt, das nicht von uns kam.

„Paulina?“ rief Heiko. Die Stimme, die daraufhin antwortete, kam eindeutig aus der Richtung von ihrem Zelt und nicht von direkt neben uns. Sie war also nicht hier gewesen. Wer war es dann?

Ich schaute nach draußen, konnte aber niemanden mehr erkennen. Vielleicht war es einfach eine Katze, die ein bisschen schnüffeln wollte.

Doch kaum hatten wir unseren Film wieder fortgesetzt, kam der Störenfried zurück. Diesmal hörten wir die Stimmen von vier Mädchen und einem Jungen. Die Mädchen kicherten genauso unsicher und nervös wie zuvor, doch der Junge hatte nun seine Stimme wiedergefunden und meinte, sich vor den Damen aufspielen zu müssen. Er schrie uns Beleidigungen entgegen und machte irgendwelche derben Witze auf unsere Kosten, was die Mädchen sofort mit einem anerkennenden Kichern quittierten.

„Meinst du, wir sollten etwas unternehmen?“ fragte ich an Heiko gewandt.

„Ich schätze schon!“ meinte er und schälte sich aus dem Schlafsack. Er verließ das Zelt und noch ehe er ganz draußen war wichen die Kinder schon zurück.

„Kreuzkruzinein! Jetzt ist hier aber verdammt noch eins Ruhe! Verschwindet ihr Drecksgören sonst komme ich rüber und mach euch Beine, dass euch euer dämliches Kichern für den Rest eures Lebens vergeht!“ schrie er so laut und so grimmig wie er konnte. Es gab keinen Zweifel, daran, dass er es ernst meinte und sogar Paulina zuckte in ihrem Zelt vor schreck zusammen. Um ein Haar wäre sie auch mit davon gelaufen.

Die Halbstarken verstanden die Nachricht ohne, dass sie die Worte übersetzen konnten. Sie nahmen die Beine in die Hand und rannten die Straße hinunter bis zur Hauptstraße. Heiko hingegen kehrte ins Zelt zurück und wir setzten unseren Film fort. „Ich denke, dass müssten sie verstanden haben!“ meinte er, doch auch diese Annahme war leider falsch.

Es dauerte eine knappe Viertelstunde, dann kehrten sie wieder zurück. Diesmal schlichen sie sich jedoch an, sagten kein Wort und fingen an, Steine auf unser Zelt zu werfen. Nun wurde Heiko wirklich sauer.

„Komm mit!“ rief er und stürmte aus dem Zelt. Ich folgte ihm so schnell es ging, konnte aber meinen Schuh nicht finden. Als ich schließlich vor dem Zelt stand, waren sowohl Heiko als auch die Jugendlichen verschwunden.

„Heiko?“ rief ich, bekam aber keine Antwort. Plötzlich hörte ich Schreie aus der Richtung, in der die Hauptstraße lag. So schnell ich konnte rannte ich hinterher, konnte aber niemanden finden. Auch Schreie konnte ich nicht mehr hören. Plötzlich wurde mir bewusst, wie dumm meine Reaktion gewesen war. Was war, wenn ich die Jugendlichen in der Dunkelheit übersehen hatte und sie nun alleine bei unserem Zelt und bei Paulina waren? Was, wenn sie es geschafft hatten, uns wegzulocken und nun wirklich Schaden anrichteten? Auf der anderen Seite stand die Frage, was wohl mit Heiko war. Was war, wenn er Hilfe brauchte? Ich entschied, dass er wahrscheinlich klar kommen würde, und rannte erst einmal zurück zu Paulina und unserem Lager.

„Hast du dein Bärenspray parat?“ fragte ich sie, als ich ankam und mich davon überzeugt hatte, dass hier alles ruhig war.

„Ich kanns grade nicht finden!“ meinte sie und suchte wie wild mit der Taschenlampe in ihrem Zelt herum.

Schade, dachte ich mir, dann muss ich wohl unser eigenes Pfefferspray opfern. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich es mitnehme, für den Fall, dass ich auch eine Form der Verteidigung brauche. Aber so musste ich wohl doch ohne auskommen. Wieder rannte ich die Straße hinunter und konnte im Dunkeln bereits einen Schatten erkennen, der auf mich zu kam.

„Heiko?“ fragte ich in die Dunkelheit.

„Ich denke, jetzt müsste es wirklich verstanden worden sein!“ kommentierte er nur knapp.

Dann erzählte er, was am anderen Ende der Straße passiert war. Beim Verlassen des Zeltes hatte er sich eine der Trinkflaschen als potentielle Waffe gegriffen. Die Steinewerfer waren wieder davongerannt, als sie ihn erblickt hatten. Diesmal aber wollte er sie nicht mit einem Schrecken davonkommen lassen, so dass sie beim nächsten Mal noch dreister wurden. Er war ihnen also gefolgt, bis sie unten auf die Hauptstraße geraten waren. Eines der Mädchen hatte sich dabei sogar recht elegant auf die Schnauze gelegt. Schließlich hatte er sie eingeholt und zur Rede gestellt. Es waren rund 10 Jugendliche, die sich allesamt bis zum Haaransatz hatten volllaufen lassen. Einige von ihnen wollten noch immer Stress aber die meisten hatten so viel Angst, dass sie sich am Liebsten in Luft aufgelöst hätten. Ich weiß nicht genau, was dann passiert ist. Heiko meinte nur: „Leg dich nicht mit einem Wolf an!“ Und ich schätze, genau das war er in diesem Moment. Er musste nicht einmal mehr groß schreien und er musste auch nicht handreiflich werden. Das wilde, zornige Funkeln in seinen Augen, die blutige Entschlossenheit, den Zwergenaufstand ein für alle Mal zu beenden, sowie die Tatsache, dass niemand einschätzen konnte, was sein nächster Schritt sein würde, mussten selbst den mutigsten Störenfried so in Angst versetzt haben, dass sie sich keinen Mucks mehr zu sagen trauten. Die Botschaft, die er übermittelte war mehr oder weniger die folgende: „Ich weiß, ihr seit in der Überzahl und wenn ihr mich angreift, dann werdet ihr vielleicht sogar gewinnen. Aber verlasst euch darauf, dass ich so viele wie möglich mit in den Tod nehmen werde! Und damit meine ich Tod!“

Niemand wusste, ob das ein Blaff war oder nicht, aber niemand hatte Lust es herauszufinden. Also gaben die Kids ruhe und Heiko konnte wieder zurückkehren.

Zum vierten Mal setzten wir unseren Film fort, der zum Glück so langweilig war, dass wir eh nicht recht bei der Sache waren. Kaum hatten wir es uns wieder bequem gemacht, kam auch schon die nächste Unterbrechung. Diesmal war es ein Auto, das neben unserem Zelt hielt und uns mit seinen Scheinwerfern direkt anleuchtete. Ein Mann rief etwas unverständliches zu uns herüber.

Wir zögerten einen Moment, doch es half wohl nichts. Wir mussten wieder einmal vor die Tür.

Der Mann mit den langen Haaren und dem schwarzen Metall-T-Shirt blieb im Auto sitzen und redete durch die offene Fensterscheibe auf uns ein. Dabei verbreitete er eine bemerkenswerte Alkoholfahne. Er sprach weder Deutsch noch Englisch, doch wir verstanden genug um zu verstehen, dass er direkt mit den Jugendlichen zusammen hing. Er war der Vater des Rädelsführers und soweit wir es mitbekamen beschuldigte er uns, dass wir seinem Sohn und dessen Freunden den Abend verdorben hatten. Außerdem befänden wir uns auf einem Privatgrundstück und dürften überhaupt nicht hier sein. So gut es eben ging erklärten wir ihm, dass wir die offizielle Erlaubnis des Eigentümers hatten, auf seiner Wiese zu campieren. Abgesehen davon waren es die Kinder, die uns mit Steinen beworfen hatten und nicht anders herum. Er verstand unsere Worte zum Teil, aber sie stimmten ihn nicht gerade friedlich. Schließlich kam jedoch die Tochter der Frau, die uns zum Abendessen eingeladen hatte. Sie hatte die ganze Nacht lang auf dem Balkon gesessen und alles beobachtet. Auch ihr Englisch war alles andere als fließend, aber sie bemühte sich so gut sie konnte, ein guter Dolmetscher zu sein.

„Es sind doch aber nur verrückte Kinder! Die sind nun Mal so, wie sie sind!“ ließ er uns mitteilen.

„Das ist schon ok,“ meinte Heiko, „aber alles hat seine Grenze. Wenn jemand Steine auf unser Zelt wirft, dann ist das Sachbeschädigung und nicht nur ein dummer Kinderstreich. Das können wir nicht durchgehen lassen. Außerdem haben wir eine Frau dabei und es ist nicht in Ordnung, wenn die Jugendlichen volltrunken zu unseren Zelten kommen und ihr Angst machen.“

Schließlich schien der Mann einzusehen, dass sein Sohn den Sachverhalt wohl etwas fehlerhaft dargelegt hatte. Er machte uns aber klar, dass die Kids die Polizei gerufen hatten und dass wir damit rechnen konnten, noch ein weiteres Mal Besuch zu bekommen.

Dann wünschte er uns eine gute Nacht und verschwand.

Wir unternahmen einen weiteren Versuch, unseren Film weiter zu schauen, wurden aber wie angekündigt bereits knappe 10 Minuten später ein weiteres Mal gestört. Wieder stand der Mann vor unserer Tür und dieses Mal waren auch zwei Polizisten dabei. Auch Paulina kam nun aus ihrem Zelt um der Großversammlung beizuwohnen, ebenso wie die Nachbarin und ihre Tochter.

Die Polizisten hatten sich in zwei unterschiedliche Lager aufgeteilt, wie man das aus dem Fernsehen kennt. Es gab den freundlichen, zahnlosen Good-Cop und den arroganten, miesepeterischen und gereizten Bad-Cop. Letzterer maulte uns gleich einmal an und ich muss zugeben, dass es mir einige Mühe kostete, ruhig zu bleiben. Englisch oder Deutsch sprach natürlich wieder einmal keiner von ihnen und langsam kam uns der Verdacht, dass man in diesem Land überhaupt nicht Polizist werden durfte, wenn man eine Fremdsprache beherrschte.

Die Tatsache, dass wir Ausländer waren kostete uns bereits sämtliche Sympathiepunkte, die wir vielleicht auf der Skala des Griesgrambullen einmal gehabt hatten. Also konzentrierten wir uns auf seinen zahnlosen Kollegen. Soweit wir es verstanden, hatten die Kinder uns bei der Polizei angeschwärzt und zwar dahingehend, dass sie sich selbst als unschuldige Opferlämmer dargestellt hatten, die von den verrückten Fremden geschlagen und mit Steinen beworfen wurden. Die beiden Nachbarsfrauen stellten diesen Tatbestand erst einmal richtig und da die Englischkenntnisse nun nicht mehr ausreichten, beschrieben wir die Geschehnisse auch noch einmal mit unserem Handy-Übersetzer.

Da das geklärt war, kam sofort der Vorwurf wieder auf, dass wir uns illegal auf diesem Grundstück aufhielten. Immerhin hatten sich die Polizisten die Mühe gemacht, hier raus zu fahren, also mussten sie ja auch irgendetwas finden, für das sich die Fahrt lohnte. Und wenn es nur der Triumph war, drei Wanderer von ihrem Schlafplatz zu vertreiben. Doch auch der war ihnen nicht vergönnt. So gut es ging erklärten wir, dass uns der Besitzer der Wiese eingeladen hatte und die Nachbarinnen bestätigten, dass sie das Gespräch mit angehört hatten. Damit war dann wohl alles geklärt und die Beamten verabschiedeten sich. Auch der Vater reichte uns die Hand und fuhr davon. Dann bedankten wir uns bei den beiden Frauen und wünschten ihnen eine gute Nacht.

Theoretisch hätten wir unseren Film nun zu Ende schauen können, doch im Vergleich zur Wirklichkeit stank er so sehr vor Langerweile, dass uns nun endgültig die Lust daran vergangen war. Stattdessen reflektierten wir das Geschehene noch einmal und fragten uns, was eigentlich genau passiert war.

Zunächst einmal stellten wir überrascht fest, dass die Beamten überhaupt keinen Ausweis von uns sehen wollten. Das war die absolute Premiere in diesem Land. Gleichzeitig waren wir aber auch irritiert darüber, dass der Rocker-Vater komplett besoffen gefahren war, nachdem er sich mit den Polizisten unterhalten hatte. Alkohol am Steuer war hier also offensichtlich ebenso wenig strafbar, wie das Fahren ohne Kennzeichen oder ohne Ladungssicherung. Nur Wildcampen wurde geahndet...

Dann gingen wir ein bisschen mehr in die Tiefe. Warum war es genau heute zu diesem Ereignis gekommen? Was haben wir anders gemacht als an den 653 Tagen zuvor?

Zunächst einmal mussten wir feststellen, dass wir aufgrund der Neuerungen in der Herdenstruktur viele unserer alten Routinen und Richtlinien verloren hatten. Eineinhalb Jahre lang hatten wir strikt darauf geachtet, niemals in der Nähe eines Dorfes oder einer Stadt zu Zelten, wenn Wochenende war. Es war ja logisch, dass sich die Menschen betranken, wenn sie am nächsten Tag nicht zur Arbeit mussten und es war ebenso logisch, dass sie in ihrer Langenweile auf dumme Ideen kamen, wenn sie ihr Hirn mit dem Alkohol ausgeschaltet hatten. Nichts war gefährlicher als ein frustrierter, gelangweilter und betrunkener Mensch. Das ist die erste Regel eines jeden, der im Freien oder auf der Straße schläft. Heute aber war Freitag und wir hatten es nicht einmal gemerkt. Wir waren einfach froh gewesen, hier anzukommen und dann auch noch den Bauern zu treffen, der uns die Wiese zur Verfügung gestellt hatte. Sämtliche Hinweise, dass der Platz vielleicht doch nicht ideal war, hatten wir ignoriert. Das hatte bereits mit dem Nachbarn angefangen, der unsere Anwesenheit zum Anlass nahm, den kompletten Berghang mit einem lauten Doppelmessermähwerk zu traktieren. Und es war weiter gegangen, bis zu den Jugendlichen, die uns am Abend beim Kochen belästigt hatten. Hierin jedoch hatte die eigentliche Ursache für das nächtliche Chaos gelegen.

Paulina hatte, da sie es nicht gewöhnt war, Angst davor, alleine im Zelt zu schlafen. Da sie ähnlich wie ich auch, die Opferhaltung immer als eine ihrer Lieblingsstrategien ausgewählt hatte, um mit Menschen umzugehen, musste sie mit dieser Angst eine Situation anziehen, die ihre Negativgedanken bestätigte. Kurz gesagt: Je mehr Sorgen ich mir wegen einer Sache mache, desto mehr erhöhe ich die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch eintritt. Und wenn ich dann noch die Ausstrahlung eines wehrlosen Opfers habe, dann muss ich damit einen Menschen anziehen, der passend dazu eine Täterrolle einnimmt. In diesem Fall waren es die übermütigen, betrunkenen Jugendlichen, die unbedingt jemanden belästigen und etwas zerstören mussten, um sich selbst besser zu fühlen. Sie haben durch ihre Einstellung auch uns angezogen, da sie zum einen etwas brauchten um ihren Frust abzubauen und zum anderen jemanden, der sie einmal wirklich in die Schranken weist. Da kam dann Heiko ins Spiel, der anders als Paulina und ich nicht das geringste Problem damit hat, eine klare Grenze zu setzen. Denn wie sich ja später zeigte, hatten auch die Kinder die Opferhaltung in sich und zogen damit zwangsläufig einen Menschen an, gegen den sie wieder klein wirkten. Sie fühlten sich sogar so klein, dass sie die Dreistigkeit entwickelten, sich selbst gegenüber ihren Eltern als Opfer darzustellen und die Polizei zu rufen. So verkorkst die Jugend in Deutschland auch sein mag, das wäre hier sicher nicht passiert. Zumindest habe ich das Vorurteil gegenüber unseren Jugendlichen, dass sie so viel Anstand besitzen, nicht die Polizei auf jemanden zu hetzen, obwohl sie genau wissen, dass sie selbst scheiße gebaut haben. Heiko und ich waren uns außerdem einige, dass unsere Väter unseren Scheiß nicht gegenüber der Polizei oder einem Fremden in Schutz genommen hätten. Wir hätten das Donnerwetter zuhause bekommen, dass sich diese Kids von Heiko hatten abholen müssen. Und das wäre auch richtig gewesen. Handeln hat Konsequenzen, das ist ein uraltes Naturgesetz. Wenn diese Konsequenzen aus irgendeinem Grund nicht eintreten, dann suchen wir danach, so lange bis wir sie finden. Auch wenn dafür erst ein Wanderer aus Deutschland 10.000km bis in unser verstecktes Heimatdorf kommen muss.

Das Problem mit den Spiegelgesetzen ist dabei nur, dass die Grenze immer härter und klarer werden muss, je länger man sie hinauszögert.

Die Eltern der Kinder hatten an dieser Stelle bereits so lange gezögert, dass die Kids nicht mehr wussten, wie man freundlich auf einen Fremden zugeht. Sie hatten keine Ahnung, wie man die Privatsphäre von jemandem wahrte und sich trotzdem nähern konnte, um zu erfahren, wer oder was er war. Sie wussten nicht, wie man sich Aufmerksamkeit auf eine positive Art und weise verschafft und mussten deshalb über die Grenzen der anderen treten um herauszufinden, ob dadurch eine Reaktion zu Stande kam.

Hätten Paulina und ich den Jugendlichen beim Kochen bereits klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass sie hier zwar als Besucher, nicht aber als Störenfriede willkommen waren, dann wäre die ganze Situation niemals entstanden. Es wäre unsere Lernchance gewesen, unser Territorium und unser Wohlbefinden zu verteidigen. In der Situation war mir das auch bewusst, ich hatte nur keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte. Da es Paulina genauso ging, wählten wir die Strategie, die wir bereits als Kinder beigebracht bekommen hatten, und die wir in solchen Situationen immer gerne wählten: „Lass dich nicht ärgern und ignorier die anderen einfach, denn dann wird es ihnen langweilig uns sie gehen von alleine.“ Diesen Satz hat wohl jeder als Kind einmal gehört und jeder wird bereits im Kindergarten festgestellt haben, dass er nicht funktioniert. Trotzdem versuchen wir es immer wieder gerne, weil es ja sein kann, dass er doch eines Tages fruchtet. Und zunächst hatte es dieses Mal ja auch so ausgesehen, als hätte es gefruchtet. Nur kam die Quittung dann eben eine ganze Weile später.

Handeln hat Konsequenzen!

Das gilt nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für uns. Und es gilt auch dann, wenn die Handlung aus einer Nichthandlung besteht.

Abends im Bett fiel mir dann ein, wie ich mit der Situation hätte umgehen können. Hinterher ist man eben immer schlauer, aber dafür sind solche Situationen ja schließlich da.

Mir war klar gewesen, dass die Jugendlichen keine Ahnung hatten, wie sie mit uns umgehen sollten und mir war auch bewusst gewesen, dass mich ihre Anwesenheit, so wie sie gerade war, störte. Genau dieses hätte ich ihnen sagen können: „Jungs, bzw. Mädels, ich weiß, dass ihr keine Ahnung habt, wie man ein freundliches Gespräch mit einem Fremden beginnt, aber so wie ihr es gerade versucht geht es nicht. Es gibt also zwei Möglichkeiten. Entweder ihr fangt noch einmal von vorne an, stellt euch vor, fragt ob ihr euch setzen könnt und wir beginnen ein richtiges Gespräch, oder aber ihr verschwindet und lasst uns in Ruhe. So ist die Situation weder für euch noch für uns angenehm und ich habe keine Lust, mir von euch die Stimmung verderben zu lassen. Wenn ihr euch nett mit uns unterhalten wollt, dann haben wir nichts dagegen. Aber rumlungern, angaffen und zusammenhangslose Verhörfragen in den Raum werfen gibt es hier nicht.“

Und da meine Präsenz wahrscheinlich noch nicht so überzeugend gewesen wäre, wie die von Heiko, hätte ja auch nichts dagegen gesprochen, mir etwas Unterstützung zu holen, bzw. die Unterstützung zumindest schon einmal anzukündigen: „Wenn ihr das nicht akzeptieren könnt, dann fürchte ich, werdet ihr nicht nur mich wütend machen, sondern auch Heiko. Und glaubt mir, wenn er wütend wird, dann ist das kein Zuckerschlecken für euch.“

Klar wäre das vielleicht nicht perfekt gewesen und ich habe keine Ahnung, wie die Jugendlichen darauf reagiert hätten. Aber es wäre überhaupt eine Reaktion gewesen und sie hätte sicher einiges verändert. Sicher wird früher oder später noch einmal eine Situation kommen, in der ich das ausprobieren kann, wenngleich wir in Zukunft darauf achten werden, dass unsere Zeltplätze außerhalb der Reichweite von Betrunkenen liegen, die uns nachts überraschen können.

Spruch des Tages: Kann man hier nicht einmal in Ruhe wildcampen?

 

Höhenmeter: 50 m

Tagesetappe: 4 km

Gesamtstrecke: 10.080,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: kleines Gemeindehaus neben der Kirche, Pustopolje, Bosnien und Herzegowina
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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