Tag 649: Grenzerfahrungen – Teil 1

von Heiko Gärtner
11.10.2015 00:37 Uhr

 Der verschwindend kleine Ort Jabuka, der auf Deutsch übersetzt Apfel heißt, ist der letzte Ort vor der Grenze. Von unserem Hotel aus wanderten wir noch gut 6km, bis wir Serbien verließen. Dann wanderten wir gut einen weiteren Kilometer, bis wir Montenegro erreichten. Alles dazwischen ist offiziell Niemandsland und das obwohl sogar ein kleines Dorf darin liegt.

Die Einreise nach Montenegro war wenig spektakulär und verlief absolut reibungslos und ohne nennenswerte Zwischenfälle. Die vielen LKWs, die von Montenegro nach Serbien fahren wollten, hatten da hingegen weniger Glück. Für sie wurde die Grenzkontrollabfertigung zur Tortur, denn sie mussten teilweise Stundenlang warten, bis sie passieren durften. Mehrere Kilometer wanderten wir daher an einer langen LKW-Schlange vorbei, in der fast alle Fahrzeuge Holz geladen hatten. Den meisten LKW-Fahrern war verständlicherweise todlangweilig und so starrten sie entweder aus ihren Fenstern oder hatten ihren Truck verlassen um mit anderen Fahrern ein Kaffee-Kränzchen abzuhalten. In beiden Fällen waren wir als Wanderclan eine willkommene Abwechslung und so gab es eigentlich niemanden, der uns nicht irgendetwas hinterher rief. Die meisten Fahrer bezogen sich dabei auf Paulina, was ebenfalls nachvollziehbar war, die Situation für sie aber nicht gerade angenehm machte. Vor allem nach den Ereignissen der letzten Nacht hatte sie daher ein ungutes Gefühl bei der Sache. Zum ersten Mal wurde ihr so richtig bewusst, dass sie hier nicht alleine unterwegs sein konnte. Nicht so.

Wenige Kilometer weiter kamen wir an ein kleines Restaurant. Es wurde von einer alten, grimmigen Frau geleitet und von ihrer Tochter oder Schwiegertochter geführt. Beide saßen an einem Tisch als ich hereinkam und beide konnten mich so gut wie gar nicht verstehen. Schließlich kam eine dritte Frau hinzu. Sie war ungefähr in meinem Alter, war attraktiv, sprach fließend Englisch und machte sich sich zur Aufgabe, die persönliche Fremdenführerin für mich zu spielen. Sie überredete nicht nur die Restaurantbesitzerin dazu, uns ein Mittagessen auszugeben, sondern wollte sich auch noch einmal mit uns treffen, um uns die Stadt zeigen zu können. Ob es dabei wirklich nur um die Stadt ging? Oder sollte es so eine Art Date werden. Sie schien mich jedenfalls zu mögen und das offensichtlich genug, das Heiko und Paulina es mitbekamen und mich das ganze Essen über damit neckten. Vielleicht nahm der Tag ja wirklich noch eine unerwartete Wendung.

Als wir jedoch später an das Ortseingangsschild kamen, an dem sie auf uns warten wollte, konnten wir sie nirgendwo entdecken. Eine Verabredung mit „Wir treffen uns in ungefähr ein bis zwei Stunden am Ortsschild bevor es in die Stadt geht“ war vielleicht doch ein wenig ungenau. Irgendwie schade, denn sie schien wirklich nett zu sein, trotz ihrer für mich schwer nachvollziehbaren Vorliebe für Großstädte. Auch ihre Heimatstadt selbst erwies sich als unangenehme, laute und verschmutzte Industriestadt, in der wir es keine zwei Minuten aushielten. Die Sache mit dem Date wäre also ohnehin schwierig geworden.

Auf dem Weg in die Stadt kamen wir zunächst an einem riesigen Kiesberg vorbei, von dem wir dachten, dass es sich um ein Kiesabbaugebiet handelte. Einige Kilometer weiter entdeckten wir jedoch, dass wir uns gewaltig geirrt hatten, was die Verwendung der vielen kleinen Steine anbelangte. Sie waren kein Abbauprodukt, sondern vielmehr ein Abfallprodukt. Der eigentliche Rohstoff, der hier gewonnen wurde war Braunkohle. Plötzlich tat sich vor uns ein riesiges Loch auf in dem Bergbaumaschinen von so ungeheurer Größe standen, dass LKWs dagegen aussahen wie Spielzeugautos. Ein Förderband mit einer Länge von mehreren Kilometern transportierte das Gestein, das die Kohle verdeckt hatte, zu den großen Kiesbergen und sorgte dafür, dass die Kohle zur Weiterverarbeitung kam. Hinter diesem Übertagebau der wie eine klaffende Wunde in die Oberfläche der Erde gerissen worden war, stieg eine dicke Rauchwolke in den Himmel auf. Hier befand sich das Kohlekraftwerk, in dem der frischgewonnene Rohstoff gleich wieder verbrannt wurde, um die Stadt sowie den Tagebau mit ausreichend Strom zu versorgen. Der große Kreislauf der Energie, der nicht ganz spurlos an der Stadt vorüber zog. Später erfuhren wir von einem Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes, dass Pljevlja die am stärksten verschmutzte Stadt Montenegros ist. So schlecht wie hier, ist die Luft nirgendwo sonst im ganzen Land und das, obwohl die Stadt bedeutend kleiner ist als Nikšic und Podgorica.

Da unsere Erfahrungen mit Hotels in letzter Zeit nicht allzu gut verlaufen sind und wir keine Lust hatten, mehr Zeit als Nötig in diesem Smogparadies zu verbringen, bogen wir gleich an der Pforte der Stadt wieder ab und folgten der Umgehungsstraße, um unser Glück irgendwo im Innland zu suchen. Doch zunächst machten wir noch zwei kleine Zwischenstopps, bei einer Tankstelle und bei einem Supermarkt. In der Tankstelle fragte ich, ob wir unser serbisches Geld in Euro wechseln könnten, denn obwohl Montenegro nicht zur EU gehört, wird hier mit Euro gezahlt. Hauptsächlich deshalb, weil sich nach seiner Unabhängigkeitserklärung niemand die Mühe gemacht hat, eine eigene Währung zu erfinden.

Der Tankwart teilte mir zunächst mit, dass sie leider keine serbischen Dinara annehmen könnten, überlegte es sich dann aber noch einmal anders und sprach mit seinem Boss. Dieser witterte ein kleines Nebengeschäft mit einem guten Wechselkurs und ersparte mir damit den Weg zur Bank, für den ich wirklich mitten in die Stadt hineingemusst hätte. Um mich nicht völlig übers Ohr hauen zu lassen, rechnete ich unser serbisches Geld im Kopf zusammen und überschlug grob den ungefähren Wechselkurs. Der Boss der Tankstelle tat dann in etwa das gleiche, nur andersherum. Er glaubte mir den Wert, den ich ihm sagte ohne ihn zu überprüfen, rundete ihn noch ein bisschen auf um ihn leichter rechnen zu können und tippte dann einen Wechselkurs in seinen Taschenrechner. Anschließend wies er seine Mitarbeiterin an, mit den entsprechenden Betrag in Euro auszuhändigen und ließ sich von mir die Dinara geben. Erst später wurde mir klar, dass er mit einem völlig falschen Kurz gerechnet hatte, den er dann noch einmal aufrundete. Auf diese Weise schenkte er uns am Ende fast 13€. Ich fühlte mich fast ein bisschen wie bei Monopoly nach dem Ziehen der berühmten Ereigniskarte „Bankirrtum zu Ihren Gunsten!“. Nur dass das Geld dieses Mal echt war.

Mit den frisch gewonnenen Moneten stolzierten wir in den nahegelegenen Supermarkt und hauten sie erst einmal ordentlich auf den Putz. Wir kauften Reis, Chips, Saft und seit langer Zeit mal wieder ein paar Erdnüsse, von denen wir schon ganz vergessen hatten, wie sie überhaupt schmeckten. Außerdem wollten wir Paulina, die draußen auf unsere Sachen aufpasste, eine kleine Überraschung mitbringen. Irgendetwas blödsinniges, mit dem man sie ein wenig aufmuntern konnte. So etwas wie der falsche Schnauzbart, den sie mir vor einem Jahr mitgebracht hatte. Die Spielzeugabteilung war leider deprimierend klein und so entschieden wir uns am Ende für eine grüne Spielzeugpistole, damit sie sich in Zukunft gegen düstere Gestalten verteidigen konnte. Zumindest eignete sie sich als Schlagwaffe, denn schießen konnte sie leider nicht. Aber vielleicht merkte das ja keiner.

Bevor wir den Laden verließen kamen wir noch an der Wursttheke vorbei, was unter anderen Umständen sicher kein nennenswertes Ereignis gewesen wäre. Hier aber haute es uns fast aus den Socken. Normalerweise, das heißt in allen Ländern, die wir bisher bereist haben, gibt es in großen Supermärkten immer zwei Arten von Wursttheken. Auf der einen Seite gibt es die Kühlregale, in denen die Massenware praktisch verpackt in buntes, giftiges Plastik für jedermann griffbereit herumliegt. Zum anderen gibt es dann die Frischetheke, an der man sich nicht selbst bedienen darf. Hier bekommt man die teureren Produkte, die noch nicht eingeschweißt sind in genau der Menge vom Schlachter in die Hand gedrückt, die man bestellt. Erst dann kommen sie in genauso giftiges, meist aber weniger buntes Plastik.

Die gleiche Aufteilung gab es auch in diesem Laden. Doch anstelle von frischen Fleisch und Wurstprodukten lagen in der Frischetheke genau die gleichen bunt eingeschweißten Plastik-Presswürste, wie auch im anderen Regal. Nur größer und mit noch mehr Farben auf der Hülle. Der Inhalt war aber immer der gleiche. Es war eine gummiartige, rosafarbene Masse, die zu gut zwei Dritteln aus Zusatzstoffen und Geschmacksverstärkern bestand. Der Rest war eine Mischung aus Fett, Knorpelmasse und Sehnen, die so fein zermahlen waren, dass man nicht mehr erkennen konnte, um was es sich dabei eigentlich handelte. Möglicherweise mag in der einen oder anderen Wurst auch ein bisschen Fleisch enthalten sein, aber das würde ich nicht beschwören wollen. Der Fleischereifachverkäufer der hinter dem Tresen stand, war dafür zuständig, den Kunden ihre Wurstimitate so zu geben, wie sie waren, oder sie auf Wunsch einmal in der Mitte durchzuschneiden. Wir trauerten ernsthaft um die armen Tiere, die ein Leben in Leid und Qualen hatten führen und loslassen müssen, um dann so herzlos verunstaltet zu werden. Hatten die Menschen den gar keinen Anstand? Obwohl, wie sicher waren wir uns eigentlich, dass überhaupt ein Tier für diese Wurst gestorben war? Vielleicht kam sie ja auch ganz ohne organisches Material aus und bestand nur aus Chemie. Ein Gedanke, der auf eine seltsame Weise gleichzeitig irgendwie erleichternd und äußerst beunruhigend wirkte.

Als wir Paulina mit ihrer neuen Selbstverteidigungswaffe überraschten, freute sie sich seltsamerweise gar nicht so sehr, wie wir es gehofft hatten. Mehr als ein fades Lächeln konnte sie sich nicht abgewinnen. Irgendwie schien sie die ganze Sache nicht besonders gut mit Humor nehmen zu können. Auf der einen Seite war das verständlich, auf der anderen Seite machte es ihr die Situation natürlich noch bedeutend schwerer. Es ist eine Angewohnheit von uns Menschen, dass wir immer glauben, irgendetwas erreichen oder erschaffen zu müssen, um glücklich, fröhlich, zufrieden und humorvoll sein zu können. Doch das ist ein Irrtum. Es gibt nicht den kleinsten Beweis dafür, dass wir glücklicher, fröhlicher, zufriedener oder humorvoller wären, wenn wir mehr Geld, mehr Erfolg im Job, eine bessere Beziehung, mehr Talente, ein größeres Auto oder sonst irgendetwas im Leben mehr, besser oder anders hätten, als wir es jetzt haben. Im Gegenteil. Wir kennen alle genügend Situationen, in denen es uns deutlich besser ging als jetzt, in denen wir mehr konnten, mehr wussten, mehr besaßen oder mehr Erfolg hatten, ohne dass wir uns deswegen aber auch besser fühlten. Gleichzeitig kennen wir mindestens ebenso viele Situationen, in denen wir glücklich und fröhlich waren, ohne dass unser Leben objektiv betrachtet in diesem Moment „besser“ war. Natürlich ist es eine höhere Kunst, mit sich selbst und der Situation zufrieden zu sein, wenn man gerade bis zum Hals in der Scheiße steckt, als wenn man in der Karibik am Strand liegt und sich die Schultern massieren lässt. Aber es ist bedeutend leichter, aus dem stinkenden Haufen zu entkommen, wenn man seine Situation mit Humor nehmen kann, anstatt auch noch den Kopf hängen zu lassen. Und wenn man es schafft, in einer solchen Situation mit sich zufrieden zu sein, dann schafft man es immer. Schafft man es nicht, wird man sich wahrscheinlich auch noch auf der Sonnenliege in der Karibik den Kopf darüber zerbrechen, was mit einem selbst alles nicht stimmt.

Paulinas nüchterne Reaktion auf unsere kleine, ironische Aufmunterung machte uns aber auch noch einmal bewusst, wie lange es gedauert hatte, bis wir nach unserem Aufbruch selbst unseren Humor wiederentdeckt hatten. Es gab Zeiten, in denen wir selbst auch über so gut wie gar nichts lachen konnten. Es hatte lange gedauert, bis sich das wieder änderte und auch jetzt ist es definitiv noch ausbaufähig.

Kurz vor dem Ausgang der Stadt kamen wir dann gleich noch an einem anderen Großindustriezweig vorbei. Diesmal war es eine Holzfabrik, ein gigantisches, vollautomatisiertes Sägewerk, das auf dem neusten Stand der Technik zu sein schien. Die Stämme wurden von den LKWs in ein Laufbandsystem gekippt und gelangten dann automatisch von einer Station in die nächste. Zunächst wurden sie grob entrindet, dann weitertransportiert und anschließend wurde ihnen in einem ähnlichen Monster noch einmal die restliche Rinde entfernt. Dann gelangten sie in eine Sortiermaschine, wo sie nach verwertbarer Länge und nach Dicke in unterschiedliche Bereiche verteilt wurden. Am Ende kamen sie dann entweder als ganze Stämme in ein Lager oder wurden zuvor noch von überdimensionierten Sägen in Bretter gesägt. Das erklärte nun auch die lange LKW-Schlange, die uns an der Grenze entgegen gekommen war.

 

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Willkommen in Montenegro

Höhenmeter: 110 m

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 11.561,27 km

Wetter: bewölkt, immer wieder starke Regenschauer

Etappenziel: ZISSIS Hotel, 44004 Aristi, Griechenland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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