Tag 666: Der Abschied

von Heiko Gärtner
31.10.2015 19:24 Uhr

Die sengende Sonne trieb uns bereits in aller Herrgottsfrühe aus dem Zelt. Wir packten zusammen und machten und auf den Weg, denn wir hatten ja einiges vor uns. Unsere Füße standen am Fuße eines Berges, der sich mehr als 1000m in die Höhe streckte und wenn wir in den Kosovo wollten, dann mussten wir ihn überwinden. Am besten, bevor die Sonne ihre ganze Kraft erlangt hatte.

Vielleicht lag es an meiner Unsensibilität, vielleicht auch an Paulinas Geschick, so zu tun als wäre alles in Ordnung, aber bis wir starteten, hatte ich nicht das Gefühl das irgendetwas nicht stimmte. Dann erst merkte ich, wie sehr es in der jungen Frau brodelte. Auf dem Weg, der uns von unserem Zeltplatz wieder zurück auf die Straße führte, begann sie zu erzählen. Sie hatte die ganze Nacht wachgelegen und kein Auge zugetan, weil sie mit der Situation, so wie sie war einfach nicht zurecht kam. Sie wollte nicht mehr ständig streiten, hatte jedoch auch nicht vor, die Schritte zu gehen, die zu einer Harmonisierung in der Gruppe geführt hätten. Langsam wurde klar, dass die Nachricht über den Geldbetrug nicht das einzige gewesen war, was sie am Vortag beunruhigt hatte. Seit langem hatte sie in dem Hostel wieder einmal Kontakt nach Hause gehabt und hatte dabei unterschiedliche Kommentare gelesen, in denen sie Bewertungen, Beurteilungen und Ratschläge bekommen hatte. Wieder war die Unsicherheit in ihr geweckt worden, die ihr Seelenfeuer schon so oft gelöscht hatte. Und wieder war es ihr Wunsch, sich vor der Welt zu verstecken. Doch wie sollte das möglich sein, wenn wir täglich über das Leben auf unserer Reise berichtete? Plötzlich war sie nicht mehr damit einverstanden, dass wir nicht nur über uns, sondern auch über sie und damit auch über ihre Gefühle, ihre Schwächen, Wünsche und Träume und über die Probleme in unserer Gemeinschaft berichteten. All dies waren Dinge, die von anderen bewertet und verurteilt werden konnte. Wer ehrlich zeigt, wer er ist, der macht sich damit auch angreifbar. Doch sie wollte nicht angreifbar sein. Sie wollte wieder zurück hinter die schützende Maske der Unehrlichkeit um weiter eine Schauspielerin sein zu können. Dies wiederum konnte nicht funktionieren, wenn wir vor hatten, weiterhin eine Heilungsreise zu machen. Und das hatten wir vor.

Was also waren die Möglichkeiten? Sollten wir Paulina ganz aus den Berichten herauslassen und so tun, als gäbe es sie gar nicht? Dies würde aber bedeuten, dass wir auch über uns selbst von nun an permanent lügen müssten, denn die Themen die im Raum standen, standen nun einmal im Raum und sie waren mit uns allen dreien fest verstrickt solange wir eine Herde waren. Wirklich gut fühlte sich das nicht an. Nicht für mich, nicht für Heiko und auch Paulina war mit der Idee nicht einverstanden. Sie wollte im Blog vorkommen, nur wollte sie dort auf eine Art und Weise erwähnt werden, die sie selbst als positiv empfand.

Ehe wir uns versahen, waren wir wieder bei unserem zentralen Lieblingsthema: „Ich kann nicht zu mir stehen!“

Der Blog war auch hierbei nur wieder ein Austragungsort für eine Frage, die viel tiefer ging. Sie konnte es nicht haben, dass etwas über sie berichtet wurde, weil sie sich für sich selbst schämte. Noch immer hatte sie die Entscheidung, mit allen Konsequenzen zu sich zu stehen und ganz sie selbst zu sein, nicht getroffen. Sie hatte sie lediglich wieder verdrängt. Solange sie keinen Kontakt nach außen hatte, war das nicht weiter aufgefallen, vor allem, weil es in letzter Zeit relativ ruhig geworden war, was unangenehme Spiegelpartner anbelangte. Doch die Nachrichten von zuhause hatten ihr gezeigt, dass sie noch immer keinen Schritt weiter war und auch nicht wirklich vorhatte, einen Schritt weiter zu gehen.

„Paulina!“ sagte Heiko ernst, „das kann so nicht funktionieren. Wir drehen uns immer wieder im selben Kreis! Irgendwann musst du einmal eine Entscheidung treffen!“

Als sie dies hörte, verzerrte sich Paulinas Gesicht zu der grimmigen, trotzigen und hasserfüllten Fratze, die sie immer zeigte, wenn sie mit einer Situation nicht einverstanden war und sie deshalb abblocken wollte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen ging sie davon. Nein. Sie rannte. Sie rannte die Straße hinunter ins Tal, in die Richtung, aus der wir am Vortag gekommen waren. Vollkommen perplex über diese unerwartete Flucht schnallte Heiko seinen Wagen ab und rannte ihr hinterher.

„Warte!“ rief er, „jetzt mach doch keinen Unsinn und lass uns in Ruhe reden!“

Doch Paulina rannte weiter, als hoffte sie, uns abschütteln zu können, wie zwei lästige Fliegen. Erst als Heiko sie überholt hatte und vor ihr stehen blieb, hielt auch sie an. Eine Weile blieb ich stehen und beobachtete die beiden von weitem. Hatte es wirklich zweck, noch hinzugehen und zu versuchen, eine Einigung zu erwirken? Ich spürte, dass ich innerlich bereits resigniert hatte. Mir wurde klar, dass ich mich längst mit dem Gedanken angefreundet hatte, das Paulina gehen würde. Wenn ich ganz ehrlich war, dann war sie für mich seit der Aktion vor Nikšic schon nicht mehr wirklich mit dabei. Sie war noch hier, aber es war nicht mehr das selbe gewesen, auch wenn ich das Gefühl der Distanziertheit bislang gut verdrängt hatte. Doch nun löste der Gedanke an eine weitere Diskussion über die alten Themen nur noch ein Gefühl der Lustlosigkeit und der Erschöpfung in mir aus. Es kostete Kraft um mich zu zwingen, die Situation noch einmal wertneutral zu sehen. Paulina handelte ja nicht aus böser Absicht. Sie wollte uns nicht nerven, stressen oder in Gefahr bringen. Sie handelte einfach aus Angst. Und diese Ängste, die sie in sich trug waren allesamt Ängste, die ich auch nur allzu gut kannte. War es also fair, sie für etwas zu verurteilen, das ich unter etwas anderen Umständen möglicherweise ganz genauso gemacht hätte? Nein! Das war es nicht. Sie war eine Freundin und ein liebenswerter Mensch, der in einer tiefen Krise steckte. Sie verdiente es, dass wir versuchten, ihr da herauszuhelfen.

Heiko hatte in der Zwischenzeit bereits alles Mögliche versucht, um zu ihr durchzudringen. Was war los, dass sie nun so entschlossen war, wirklich zu gehen, obwohl es in den letzten Tagen doch eigentlich gut gelaufen war? Wie kam sie auf die Idee, nun nach Podgorica zu gehen, also in die einzige Stadt in Montenegro, die noch größer war als Nikšic? Vor allem, nachdem sie gerade erst gesehen hatte, wie grausam Nikšic gewesen war.

Doch Heikos Worte verhallten im Leeren. Paulina war wild entschlossen zu gehen und nichts konnte sie mehr aufhalten.

„Ich halte das nicht mehr aus! Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr streiten!“ rief sie verzweifelt und wütend. Alles, was in den vergangenen Wochen passiert ist, empfand sie nun als negativ. Es gab keine freudige Minute, nichts wofür sie dankbar war, nichts, das ihr Spaß gemacht oder durch das sie etwas gelernt hätte. Als wir sie fragten, ob sie nun zurück nach hause wolle, verneinte sie vehement. Das kam für sie nicht in Frage, doch ebenso wenig war es eine Option, bei uns zu bleiben. Sie wollte ihren Weg alleine finden. Das Potential, das sie in uns als Herde einst gesehen hat, konnte sie nun nicht mehr erkennen. Das gemeinsame Zusammenleben bedeutete in ihren Augen ewiger Krieg und den wollte sie nicht mehr. Frieden hingegen glaubte sie nur finden zu können, wenn sie floh. Sie wollte alles hinter sich lassen, das sie an den Unfrieden in sich selbst erinnerte. Am liebsten wollte sie vor sich selbst davonlaufen, doch wenn das nicht funktionierte, dann konnte sie immerhin ihren Spiegel zerbrechen und vor uns davon laufen.

„Bist du sicher, dass du mit reinem Herzen gehen kannst?“ fragte Heiko traurig. „Fühlt es sich wirklich frei an, so als wärest du mit uns im Reinen? So als gäbe es hier nichts mehr zu erledigen oder zu lernen? Wenn das so ist, dann ist es die richtige Entscheidung, zu gehen. Wenn nicht, dann ist es einfach eine Flucht vor deinem eigenen Leben und die wirst du früher oder später bereuen! Da bin ich mir sicher!“

„Ja verdamm! Ich weiß dass es eine Flucht ist!“ schrie sie. „Aber ich will jetzt fliehen! Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben! Lasst mich in Ruhe!“

„Ok“, sagte Heiko, „aber dann ist es eine endgültige Entscheidung, die du hier triffst. Noch einmal halte ich so ein Hin und Her nicht aus. Wenn du jetzt gehst, dann geh, aber dann komm auch nicht wieder. Nicht solange du dich nicht wirklich aus ganzem und tiefstem Herzen dafür entscheidest und dann wirklich in jeder Konsequenz. Ein ‚Ich hab’s mir anders überlegt und bleibe lieber doch noch ein bisschen‘ gibt es nicht mehr!“

Paulina schaute uns nur böse an. Dann ging sie weiter den Berg hinab. Es war kein schöner Abschied, aber wir wussten beide, dass er so sein musste. Wir hatten alles versucht um gemeinsam als Herde mit Paulina leben, forschen, arbeiten, lernen und reisen zu können. Vielleicht sogar schon zu viel. Die Idee einer Herde hatte sich so tief in unsere Herzen gesetzt und wir hatten sie in allen Farben und Formen ausgemalt, dass wir nicht akzeptieren konnten, dass wir hier einem Phantom nachjagten. Wir wollten so sehr, dass es klappt, dass wir jedes Zeichen, das dagegen gesprochen hatte, bewusst ignoriert hatten. Es gab keinen Weg mehr, denn solange die Option „Flucht“ in ihrem Geist als erstrebenswerte Möglichkeit an oberster Stelle stand, würde es ihr unmöglich sein, sich auf das Herdenleben wirklich einzulassen. Sie musste es ausprobieren, um für sich selbst herauszufinden, ob es funktionierte oder nicht. Was immer wir ihr auch sagten, wir konnten ihr nicht weiterhelfen. Auch wir hatten viele Versuche gebraucht, bis wir endlich wirklich hatten ausbrechen können. Zuvor hatten auch wir immer wieder versucht, vor uns selbst zu fliehen, nur um dann zu erkennen, dass es keinen Zweck hatte. Doch trotz all dieser Erfahrungen hatten wir geglaubt, dass Paulina, es gleich auf anhieb verstehen würde. Wir hatten gehofft, dass sie jemand war, der sie noch gar nicht hatte sein können. Sie war noch nicht so weit. Sie war einfach noch nicht bereit, für einen Ausbruch.   Das mussten wir akzeptieren. Und wenn wir ehrlich waren, dann wäre es schon viel früher Zeit gewesen, es zu akzeptieren und sie loszulassen.

Kaum hatten wir 50m zurückgelegt, da hielt bereits der erste Truck neben Paulina an. Ein schmieriger Mann beugte sich aus dem Fenster und lud sie ein, mit ihm mitzufahren.

Richtig! Dies war der Grund, weshalb es uns so schwer gefallen war, sie gehen zu lassen. Wie sollte es gut gehen? Wie sollte sie alleine in der großen Stadt zurechtkommen?

Wieder ertappten wir uns dabei, dass wir uns selbst in Rollen steckten, die uns nichts angingen. Wir waren nicht ihre Eltern. Sie war kein kleines Kind. Sie war eine dreißigjährige Frau, die ihre eigene Entscheidung getroffen hatte. Eine Entscheidung, die sie uns sogar schriftlich gegeben hatte. Es war ihr Leben und es war auch ihre Sache, was sie damit machte.

„Jeder Mensch hat das Recht auf seinen eigenen Tod!“ das sagte seinerzeit Pestalozzi, einer der größten Pädagogen, die es je gegeben hatte. Auf ihn gehen mehr oder weniger die Kindergärten zurück und er erkannte bereits vor über hundert Jahren, dass sich ein Mensch nicht entwickeln kann, wenn man ihn in Watte packt. Jedes Kind hat das Recht, zu spielen und sich dabei zu verletzen. Auch dann, wenn die Verletzung möglicherweise tödlich ist. Es steht uns nicht zu, einen anderen Menschen in dieser Freiheit einzuschränken. Wir selbst wollten das auch nie. Nicht von unseren Eltern, nicht von unseren Partnern und auch von sonst niemandem. Folglich hatten auch wir dieses Recht nicht Paulina oder irgend jemand anderem gegenüber.

Alles, was jemals geschieht, geschieht aus einem bestimmten Grund. Es gibt einen Sinn hinter allem auch wenn wir ihn nicht sehen können. Es ist auch nicht unsereAufgabe, ihn immer sofort zu erkennen und es ist schon gar nicht unsere Aufgabe, darin herumzupfuschen. Es lag nicht in unserer Verantwortung, was mit Paulina geschehen würde, sondern in ihrer eigenen und in der der Schöpfung. Das Leben wird alles regeln, dafür braucht es weder uns noch sonst jemanden. Was immer also in dieser Stadt passieren würde, es würde das richtige sein, damit Paulina auf ihrem Weg weiterkommen konnte. Vielleicht würde etwas passieren, das sich im ersten Moment schrecklich und schmerzhaft anfühlte, doch wenn das so war, dann war genau das wichtig, damit Paulina aufwachen konnte. Wenn es nicht passierte, dann hatte auch dies seinen Sinn. Es lag nicht in unserer Hand und wenn wir uns nun Sorgen machten, dann machten wir damit nichts besser. Wir sandten nur zusätzliche Angst ins Universum und von Angst gab es bereits bei weitem genug. Unsere Aufgabe war es nun nicht mehr, uns um Paulina zu kümmern. Genau genommen war sie das nie, auch wenn wir es trotzdem immer wieder gemacht hatten. Unsere Aufgabe war es nun loszulassen und die Dinge so zu akzeptieren, anzunehmen und wertzuschätzen, wie sie nun einmal waren. Das Leben ist ein stetiger Fluss. Alles kommt und geht. Alles ist in einem permanenten Wandel. Gerade wir sollten das wissen, verbringen wir doch keine zwei Nächte am gleichen Ort. Wir können den Lauf der Dinge nicht aufhalten, auch wenn wir es nur allzu gern versuchen. Wir sind wie Fische, die sich mit ihren Mäulern am Ufer des Flusses festhalten und versuchen, das Wasser dadurch zum Stehen zu bringen. Natürlich steht es uns frei, diesen Versuch zu starten, aber aufhalten werden wir das Wasser damit nicht. Das einzige, was wir damit erreichen ist, dass wir uns selbst Schmerzen zufügen. Sie Strömung reißt und zerrt an uns und irgendwann bekommen wir einen Krampf im Kiefer. Hinzu kommen die vorbei treibenden Äste, die uns immer wieder gegen den Kopf schwimmen und uns Beulen und Wunden zufügen. Unser Leben wird ein einziger Kampf, weil wir Angst vor dem haben, was es uns bringt. Dabei wäre es so leicht, zu erkennen, dass wir als Fische schwimmen können und dass uns die Strömung leicht und fließend weiterträgt, an allen Hindernissen vorbei.

Es war nun bereits 11:00 Uhr und die Sonne brannte nur so vom Himmel. Sie stand fast senkrecht über unseren Köpfen und verursachte Temperaturen von weit über 40°C im Schatten. Nur dass es leider nirgendwo Schatten gab. Die Straße führte steil bergauf und wenn ich schreibe ‚bergauf’ dann meine ich damit, dass sie auf der gesamten Strecke von 22km kein einziges Mal bergab oder auch nur waagerecht verlief. Der Lebensfluss spülte uns wirklich weiter, aber mit Leichtigkeit hatte das zunächst noch nichts zu tun.

Denn so einfach war das Loslassen für uns noch nicht. In mir grummelte und rumorte es. Mein Magen spielte verrückt und ich hatte immer wieder das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Es fühlte sich an, als würde ein Monster in mir sitzen, das mit seinen Klauen meine Eingeweide durchwühlte. Ständig musste ich aufstoßen und rülpsen, so als wäre mein Magen ein Hexenkessel mit einem giftigen Zaubertrank, der permanent überkocht.

Was war nur los mit mir?

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Da waren’s nur noch zwei.

Höhenmeter: 20 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 11.892,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Veranstaltungsraum der Kirche, 73045 Leverano, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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