Tag 728: Sonnenbaden verboten

von Heiko Gärtner
29.12.2015 21:23 Uhr

Bevor wir mit dem aktuellen Tagesbericht loslegen möchten wir euch erst einmal unser neustes Video vorstellen:

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Die italienische Küste, an der wir nun nach Süden wanderten, hatte gewisse Eigenarten. Direkt am Meer gab es keine Städte mehr, sondern nur noch Felder und Hauptstraßen. Auch die kleinen Nebenstraßen und Feldwege waren verschwunden. Wenn man also nicht 40km pro Tag an einer vielbefahrenen Autobahn entlangwandern wollte, dann musste man sich ein wenig ins Hinterland zurückziehen. Hier wurde es etwas bergiger und die Städte waren grundsätzlich auf den Gipfeln erbaut, so dass man immer auf eine Höhe von etwa 200 Metern aufsteigen musste. An und für sich war das Hinterland hier noch kein Gebirge, sondern eher eine Hochebene, die beinahe stetig auf nahezu ein und der selben Höhe blieb, wenn man sie erst einmal erreicht hatte. Beinahe, denn es gab einen kleinen Haken, der einem das Wandern dann doch wieder reichlich erschwerte. In Regelmäßigen Abständen zogen sich tiefe Schluchten durch das Land, die die Hochebene in kleine Stückchen zerteilten. Es waren gigantische Wasserabläufe, in denen das Regenwasser aus dem Gebirge im Inland ins  Meer floss. Wenn man nun von einer Stadt in die nächste wollte, dann musste man dafür zunächst einmal wieder ganz nach unten hinabsteigen, das Tal durchwandern und dann auf der anderen Seite wieder hinauf klettern. Es waren jedes Mal nur etwa zweihundert Höhenmeter, aber mit der Zeit kam dann doch einiges zusammen. Anstrengend wurde es vor allem auch deshalb, weil die Italiener offensichtlich eine Abneigung gegen Serpentinen hatten. Wenn es nicht unbedingt nötig war, legte man die Straßen hier nicht schlängelig den Berg hinauf, sondern einfach gerade nach oben. Dadurch entstanden dann teilweise Steigungen von 12-16%. Ich weiß nicht ob ihr mit diesen Zahlen etwas anfangen könnt, aber eine normale Steigung, die man als machbar empfindet liegt meist so bei fünf bis sechs Prozent. Sieben bis acht Prozent bringen einen schon ordentlich zum keuchen und sorgen dafür, dass Autos mit schwächeren Motoren schon ins Straucheln kommen. 16% hört sich nicht nach besonders viel an, aber es fühlt sich bereits an wie freier Fall. Vor allem, wenn man einen Wagen hinter sich herzieht. Heute wurden die Talschluchten zudem noch von allerlei Autobahnen, Zuglinien und Schnellstraßen durchzogen, so dass wir immer wieder über sie hinweg oder unter ihnen hindurch mussten. Schließlich kamen wir dann an eine Abzweigung, die uns auf eine Nebenstraße umlenken sollte. „Stopp! Was wollt ihr hier?“ rief eine Stimme hinter uns. Als wir uns umdrehten kam ein Mann auf uns zu, der wild mit den Armen wedelte.

[AFG_gallery id='243'] „Dies ist ein Privatweg, ihr könnt hier nicht durch!“ schnauzte er uns an. Wir erklärten ihm, dass wir nur ein kurzes Stück auf diesem Weg bleiben wollten, damit wir auf die Nebenstraße kamen. Wir würden sicher nichts kaputt machen und wenn er wollte, konnte er uns auch gerne begleiten. Doch das wollte er nicht. Er wollte stänkern und anderen Menschen das Leben schwer machen. „Tut mir Leid“, sagte er obwohl es ihm kein bisschen Leid tat, „Ihr müsst außenherum gehen. Aber die Straße, auf die Ihr wollt könnt ihr dann vergessen. Denn hinter diesem Grundstück führt sie über eine Brücke und die ist bereits vor Jahren eingestürzt. Ihr müsst also zurück und über die Hauptstraße gehen!“ Ich versuchte ihn noch einen Moment lang zu überreden, doch inzwischen war ich so sauer, dass ich die Sache damit nur noch schlimmer machte. Es war hoffnungslos. Doch die Hauptstraße kam auch nicht in Frage, denn zum einen war es, wie er bereits selbst richtig gesagt hatte, eine Hauptstraße und zum anderen wäre es ein Umweg von gut zehn Kilometern geworden. Also kehrten wir um und suchten uns dann einen Schleichweg über die Olivenhaine, auf dem wir dann wieder auf den Privatweg stießen. Dieses Mal befanden wir uns dabei jedoch außerhalb der Sichtweite des Wegelagerers, so dass wir ohne Probleme passieren konnten. Kurz bevor wir wieder auf die öffentliche Straße stießen, wurde Heiko auf zwei kleine Echsen aufmerksam, die sich seltsam ineinander verkeilt hatten. Eine von ihnen lag auf dem Rücken und streckte den Bauch nach oben. Die andere lag auf ihr und hatte sich in ihrem Hals festgebissen. Uns fielen dafür zwei mögliche Erklärungen ein. Entweder, die eine Eidechse wollte die andere töten oder aber die beiden hatten wilden Sex in der Missionarsstellung. Beides war für Eidechsen eher untypisch. Als Heiko versuchte ein Foto zu machen, lief die obere davon, hielt die untere dabei aber noch immer mit dem Maul am Hals fest, so dass sie hinter ihr  her schleifte. Dann verschwanden beide in einem Loch in der Mauer. In der Stadt bekamen wir auf Anhieb einen Raum unter der Kirche, der normalerweise für den Kommunionsunterricht genutzt wurde. Es war ein dunkles Gewölbe, fast wie ein Kerker. Um vier Uhr kamen dann die kleinen Kerkergeister in Form der Kommunionskinder, die ihr Unwesen in den Verliesen trieben. Wir zogen uns derweil zurück und machten einen kleinen Rundgang in der Stadt. Dabei kamen wir unter anderem auch an den Rand des Canyons, an dem die Stadt erbaut worden war. Zweihundert Meter fielen hier die steilen Felsklippen nach unten ab. Es war ein beeindruckender Anblick. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte man Wohnblocks errichtet, die nicht einmal Fenster in Richtung Canyon hatten. Wie wenig Wertschätzung konnte man solch einem Naturwunder entgegenbringen? Bei unserem Weg aus der Stadt am nächsten Morgen kamen wir noch einmal in der Nähe des Canyons vorbei. Dieses Mal ging es jedoch in die andere Richtung nach unten in ein weites Tal, das mit mehreren Zuglinien durchzogen war. Eine der Linie war komplett stillgelegt. Andernorts hatte man solche ehemaligen Linien häufig zu Wander- und Fahrradwegen umgebaut, was immer sehr angenehm gewesen war, weil sie sehr seicht durchs Land führten. Hier war man leider noch nicht auf diese Idee gekommen, weshalb wir ganz nach unten und dann wieder ganz nach oben wandern mussten. Die Hügel im Hinterland waren nun immer häufiger mit Windrädern übersäht, von denen sich einige drehten wie der Teufel während andere vollkommen still standen. So wirklich verstehen konnte man diese Technik einfach nicht. Sonntage waren eigentlich zu unseren Lieblingstagen mutiert, da man an ihnen mit großer Gewissheit einen Pfarrer antreffen konnte, wenn man es schaffte gegen Mittag an irgendeiner Kirche im Ort zu sein. Leider brauchten wir heute für die Strecke ein bisschen zu lange und kamen deshalb eine knappe halbe Stunde zu spät. Die Kirchengemeinde löste sich bereits wieder auf, die Kirchtore waren verschlossen und der Pfarrer war über alle Berge. Wir mussten uns also doch wieder selbst auf die Suche machen und wanderten dadurch kreuz und Quer durch die ganze Stadt. Erst schickte man uns zu einer Kirche, dann zur nächsten und schließlich zu einer Art Pilgerherberge. Auf dem Weg dorthin wurde ich von einer jungen Frau begleitet, die ich eigentlich nur nach dem Weg fragen wollte. Sie sprach Englisch und half mir dabei, mein Anliegen vorzubringen. Leider war die Pilgerherberge schon seit Jahren geschlossen und in ein Mehrzweckzentrum umgebaut worden. Laut Aussage der Frau, die wir dort antrafen, fanden heute verschiedene Festlichkeiten in dem Gebäude statt, weswegen sie uns dort nicht mehr unterbringen konnte. Dafür telefonierte sie dann aber so ziemlich jeden an, den sie in dieser Stadt kannte, um uns eine Alternative zu organisieren. Die junge Frau, die mich begleitet hatte, unternahm das selbe und wählte sich ebenfalls die Finger wund. Etwa eine halbe Stunde standen wir vor der Tür des Gebäudes, telefonierten, warteten auf Rückrufe und überlegten uns weitere Strategien. Dabei blieben wir natürlich nicht unbemerkt und nach und nach wurden immer mehr Nachbarn auf uns aufmerksam. Auf dem Balkon gegenüber stand eine Frau, die gerade ihre Wäsche von der Leine nahm. Sie sprach ein bisschen Deutsch und nachdem sie verstanden hatte, worum es ging, fielen ihr auch noch ein Paar Nummern ein, die sie anrufen konnte. Am Ende war es dann aber doch die Leiterin der ehemaligen Herberge, die einen Platz auftreiben konnte. Sie begleitete uns ans andere Ende der Stadt, wo wir uns mit einem Mann und dessen Familie trafen. Wir bekamen einen Saal und die passenden Schlüssel dazu. Anschließend wurden wir sogar noch auf ein Mittagessen eingeladen, das wir uns in einem Restaurant aussuchen durften. Es gab eine Art Spezzle mit Steinpilzen und Schinken als Vorspeise und Rindersteaks mit Pommes als Hauptgericht. Vorsichtig lugte ich auf die Rechnung, die unsere Gastgeber übernahmen. Es war ein Mittagessen im Wert von dreißig Euro.

[AFG_gallery id='244'] Um acht Uhr in der Früh wurden wir am kommenden Morgen von einem lauten Klopfen geweckt. „Tobia! Tobia!“ rief eine Stimme. Das war nicht ungewöhnlich, denn aus irgendeinem Grund ließ man in Italien fast immer den letzten Buchstaben meines Namens weg. Damit ging es mir übrigens noch weit besser als Heiko, denn seinen Namen konnte eigentlich niemand mehr aussprechen. Meistens kam ein hab verschlucktes Ey-ko E-ko dabei heraus, doch die meisten gingen nach ein oder zwei Versuchen zu der eher allgemein gehaltenen Bezeichnung Du-Da oder Der-Da über. Doch zurück zur Geschichte. Nachdem ich es geschafft hatte mich aus meinem Schlafsack zu rollen und die Tür zu öffnen, stand wieder unser Gastgeber vor mir. Er hielt zwei Becher mit heißem Cappuccino und einige Kekse in der Hand. „Hier“, sagte er, „die sind für euch, damit ihr auch gut in den Tag kommt.“ Dann verschwand er wieder und fuhr zurück nach hause. Er war also extra gekommen, um uns ein Frühstück vorbeizubringen. Wir packten alles zusammen, genehmigten uns unser Frühstück und gingen schon einmal nach draußen. Der Mann wollte gegen neun Uhr zurückkommen, damit wir ihm den Schlüssel übergeben konnten. Bis es soweit war, nutzten wir die Zeit um auf dem Sportplatz hinter der Kirche unsere neue Frisbee auszuprobieren. Es war Jahre her, seit wir das letzte Mal gespielt hatten, aber dafür klappte es noch recht gut. Ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß mir das machte! So schön wie der Morgen begonnen hatte, ging er auch weiter. Wir kamen durch ein idyllisches Hügelland und die Sonne strahlte uns nur so entgegen. Man konnte sie nur selten so sehr genießen wie zu dieser Jahreszeit. Im Sommer brannte sie so heiß, dass man sich vor ihr verstecken musste, aber jetzt freute man sich über jeden Strahl, den man von ihr abbekam. Kurz bevor wir die Stadt erreichten endete unsere Straße. Sie endete nicht, weil sie in eine andere überging oder weil es sich um eine Sackgasse handelte. Sie endete, weil sie einfach mitsamt des Berges abgebrochen war und nun etwa fünfzig Meter weiter unten in der Schlucht lag. Um weiter zukommen konnte man sich als Fußgänger zwischen einer Absperrung und einem Gartenzaun hindurchquetschen, doch für unsere Wagen war dieser improvisierte Pfad zu schmal. Wir mussten daher über die Felder und dann über das Grundstück eines verlassenen und verfallenen Hauses kraxeln. Von dort aus kamen wir dann wieder auf eine andere Straße, die uns steil nach oben in den Ort führte. Auch vor dieser Stadt gab es wieder riesige Steinbrüche, die man hier in den Fels geschlagen hatte. Dieses Mal befanden sich sogar Höhlen darin. Wenn sie nicht so weit weg gewesen wären, hätten wir sie uns gerne einmal genauer angeschaut.

[AFG_gallery id='245'] In der Mitte der Stadt gab es ein altes Amphitheater aus Beton. Hier richteten wir unseren Stützpunkt ein, denn die Stadt war wieder einmal eher vertikal als horizontal gebaut. Jede Straße führte entweder nach unten oder nach oben, so dass man sich mit den Wagen nur schwer fortbewegen konnte. Während ich also nach dem Pfarrer suchte, legte sich Heiko auf einen Rang des Theaters und ließ sich von der Herbstsonne brutzeln. Durch die Windstille bekam die Sonne so viel Kraft, dass sich Heiko sogar mit freiem Oberkörper hinlegte. Er machte die Augen zu und döste ein wenig vor sich hin. „Hey! Sie da! Was machen Sie da!“ riss ihn eine laute Männerstimme unsanft aus seinen Träumen. Sie gehörte einem Polizisten, der gemeinsam mit seiner Kollegin unten im Theater geparkt hatte und nun zu ihm heraufgestiegen war. In dem darauf folgenden Gespräch erfuhr Heiko, dass sich an diesem ehemaligen Theater vor allem die Obdachlosen trafen, weshalb die Polizei einen besonderen Blick darauf hatte. Außerdem erklärte ihm der Polizist, dass es in Italien grundsätzlich verboten war, sich außerhalb des Strände oder speziell ausgewiesener Badezonen mit nacktem Oberkörper in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das galt besonders für Frauen aber eben auch für Männer. Ohne es zu wissen hatte Heiko also mit seinem Sonnenbad eine Straftat begannen. Die Polizistin war eher zurückhalten doch ihr Kollege hatte sich vorgenommen einiges an Stress aufzubauen. Wahrscheinlich war er bereits in der Früh mit dem falschen Fuß aufgestanden, hatte sich dann den Kaffee auf die Hose gekippt und war als erste Amtshandlung im Büro von seinem Chef zusammengestaucht worden. Auf jeden Fall war er auf Krawall gebürstet und versuchte seinen Ärger an Heiko auszulassen. Je mehr Heiko jedoch über sich und unsere Reise erzählte, desto mehr verflog die Aggressivität des Polizisten und auch wenn er es nicht wollte, bekam er immer mehr Respekt vor dem seltsamen Fremden. Als er dann auch noch erfuhr, dass wir beim Pfarrer übernachten würden, war ihm sein ganzer Auftritt plötzlich furchtbar peinlich. Er hatte den Gast seines Pfarrers angemault! Hoffentlich kam er dafür nicht in die Hölle! Schnell entschuldigte er sich mehrfach für die Störung, eilte die Stufen zu seinem Auto hinunter und fuhr dann mit so einem Affenzahn davon, dass er mehrere Bierflaschen zermalmte, deren Splitter bis hinauf ins Amphitheater flogen.

[AFG_gallery id='246'] Natürlich wusste Heiko in diesem Moment noch nicht, ob wir wirklich beim Pfarrer übernachten konnten, doch er hatte tatsächlich nicht gelogen. Denn wahrscheinlich genau in dem Moment, in dem er seine Behauptung dem Polizisten gegenüber aufgestellt hatte, sagte mir der Pfarrer zu. Wir bekamen eine kleine Wohnung mit einem Bett und dazu den absoluten Jackpot in Sachen Nahrungsversorgung. In einem kleinen Minimarkt gegenüber der Kirche durften wir selbst einkaufen gehen, was immer wir zum Essen brauchten. Das wurde ein Fest!

Spruch des Tages: Oben ohne ist hier verboten! Höhenmeter: 190 m Tagesetappe: 14 km Gesamtstrecke: 13.015,27 km Wetter: sonnig Etappenziel: Sakristei, 89851 San Costantino Calabro, Italien
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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